Inselgötter. Reinhard Pelte

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Название Inselgötter
Автор произведения Reinhard Pelte
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839249369



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      »Es dauert ihm zu lange. Er hat keinen blassen Schimmer, wie immer.«

      »Das erwähnten Sie bereits. Nur hätte ich gerne gewusst, wovon er keinen Schimmer hat.«

      »Die Fälle scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, aber im Detail gibt es doch merkwürdige Auffälligkeiten«, ließ Kopper sich herab, seine Frage zu beantworten.

      »Im Detail? Wie darf ich das verstehen, Herr Kollege?«

      »Uns liegen Vermisstenanzeigen mehrerer Personen vor. Aus den letzten Wochen. Bis heute ist keiner von ihnen wieder aufgetaucht. Weder tot noch lebendig. Zwischen ihnen besteht keine Verbindung, außer dass sie allesamt zum letzten Mal vom Bahnhof Niebüll ein Lebenszeichen von sich gegeben haben. Um ganz genau zu sein: Sie haben telefoniert. Das war’s denn auch schon. Schluss, aus, vorbei.«

      »Mit wem haben sie telefoniert?«

      »Mit Angehörigen.«

      »Und auf Sylt sind sie nicht angekommen. Oder besser gesagt, keiner hat sie danach mehr gesehen oder gehört. Richtig?«

      »Richtig. Wir haben natürlich nach Augenzeugen gesucht.« Kopper lachte höhnisch.

      »Deren Aussagen widersprachen sich. Nichts Verlässliches. Mit anderen Worten, wertloser Schrott«, sagte Jung.

      »Genau. Sie haben es erfasst, Herr Kollege. Ich wusste gar nicht, wie messerscharf Sie kombinieren können.«

      »Haben die vermissten Personen auf Sylt gearbeitet?«, ignorierte Jung Koppers überflüssige Bemerkung. »Waren sie Touristen, Urlauber, Ferienhausbesitzer oder sonst was?«

      »Von allem etwas. Es gibt keine spezifischen Gemeinsamkeiten, weder was den sozialen noch was den berufsmäßigen Status anbelangt.«

      »Und den geschlechtsmäßigen?«, fragte Jung harmlos.

      »Völlig unspezifisch. Mann, Frau, drei Ältere, ein Junger. Vielleicht waren sie ja verkappte Homosexuelle, Lesben, Transsexuelle, Asexuelle, Intersexuelle, Pädophile. Details dieser Art sind wir noch nicht auf den Grund gegangen. Könnte sein, dass …«

      »Also quer durch die Bevölkerung«, kürzte Jung Kopper-Carlsons Aufzählung ab.

      »Genau.«

      »Was habt ihr noch herausgefunden?«

      »Nichts.«

      »Nichts? Das ist wenig. Da könnte man durchaus auf die Idee kommen …«

      »Hören Sie, Jung«, schnitt Kopper-Carlson ihm das Wort ab, »Sie sind offensichtlich ein ganz genialer Knabe mit außerirdischen Fähigkeiten, aber als normaler Kriminalbeamter …«

      »Lassen wir das, Kopper. Ich will die Akten. Sofort. Mein Genie braucht Futter.«

      »Ungern. Ich bin gerade dabei …«

      »Ich hetze Ihnen den Chef auf den Hals«, unterbrach ihn Jung brutal. »Sie wissen doch, ich bin sein Spezi. Wenn Sie also …«

      »Okay, okay. Werden Sie doch nicht gleich komisch. Sie kriegen ja, was Sie wollen. Morgen. Heute geht nichts mehr.«

      »Ich warte, bis Sie hier fertig sind. Und dann …« Jung machte eine unmissverständliche Handbewegung und lächelte sein Gegenüber honigsüß an.

      Kopper-Carlson erstarrte in empörtem Schweigen. Schließlich erhob er sich und marschierte wortlos zum Ausgang. Jung folgte ihm und grinste still vor sich hin.

      *

      Den Rest des Vormittags verbrachte Jung mit dem Studium der Akten. Insgesamt waren es vier Ordner. Die Tatsache, dass Niebüll der Ort ihres letzten Lebenszeichens vor der Weiterreise nach Sylt war, sprang ins Auge. Insofern war nachvollziehbar, dass Kopper-Carlson genau an dieser Stelle angesetzt hatte. Seine Bemühungen, Augenzeugen aufzutreiben, waren umfassend gewesen. Das musste Jung anerkennend einräumen. Alles in allem waren die Ergebnisse jedoch enttäuschend. Allein ein einziges Detail schien bedeutsam. In allen Fällen war das Zugpersonal dasselbe gewesen. Kopper-Carlson hatte die Zugbegleiter ordentlich in die Mangel genommen und ihr Leben akribisch durchleuchtet. Aber er konnte ihnen keine Verbindung zu den Vermissten nachweisen. Sie konnten sich an die Vermissten nicht einmal erinnern. Nach Aktenlage waren sie ihnen also absolut fremd. Das Ganze war ein einziges großes Rätsel.

      Jung dachte darüber nach, wo sie suchen mussten, um einen neuen Ansatzpunkt zu finden. Irgendwo musste er sein. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er stellte sein Grübeln nach kurzer Zeit ein. Holtgreve hatte ein Interesse gezeigt, das er sonst nicht an den Tag zu legen pflegte. Er musste Gründe dafür haben. Sicherlich war es klüger, das Gespräch beim Mittagessen abzuwarten. Holtgreve würde sich erklären. Jung war sich darin ziemlich sicher, obwohl ihr Vertrauensverhältnis noch nicht so lange währte, als dass er sich blind auf seinen Chef verlassen hätte. Vielleicht hatte er nach ihrer Unterredung Informationen, die ihm halfen, in die richtige Richtung zu denken.

      Mittagessen

      Jung sah auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mittag. Tiny müsste schon längst gelandet und auf dem Weg an die Algarve sein. Hoffentlich hielt er sich an die Absprache und machte keinen Blödsinn. Ihm war alles zuzutrauen. Manchmal sogar verblüffend Schlaues. Aber bitte nicht jetzt, seufzte Jung. Berechenbarkeit war ihm lieber. Der Kerl ging ihm auf den Geist. Er passte ihm absolut nicht in den Kram. Was mach ich mit ihm, wenn er hier antanzt?, fragte er sich.

      Jung nahm seine alte Lederjacke vom Haken und stieg das Treppenhaus hoch in den obersten Stock. Die Tür zu Holtgreves Bürosuite stand wie immer offen. Als er Jung auf dem Flur hörte, rief er ihn zu sich herein. Jung hatte stets das Gefühl, als hocke sein Chef den ganzen Tag mit gespitzten Ohren hinter seinem Schreibtisch, um auch ja nichts zu verpassen, nicht einmal das flüchtige Rascheln einer imaginären Maus in den Wänden des alten Gemäuers. Früher hatte ihn das gestört, jetzt nicht mehr. Holtgreve las in einem Papier, das er, die Ellenbogen auf die Schreibunterlage gestützt, vor sich in den Händen hielt.

      »Ich bin gleich so weit. Sekunde«, murmelte er, ohne aufzusehen.

      Das Büro war etwas größer als die Büroräume auf den unteren Fluren. Das Mobiliar unterschied sich nicht von dem der anderen. Etwas neuer vielleicht, nicht so abgenutzt wie beim Volk unter ihm. Holtgreve umgab sich nicht mit Protz und Prunk. Jung hatte das auch früher schon registriert, aber nie bewertet. Heute buchte er die ausgestellte Bescheidenheit auf das Pluskonto des Leitenden.

      »Okay. Ich bin so weit. Gehen wir«, meldete sich Holtgreve, erhob sich und griff seinen Mantel von der Garderobe. Er hatte es eilig. Jung folgte ihm wortlos.

      Die Walzenmühle lag in Flensburgs Neustadt. Der Stadtteil begann am Nordertor, dem historischen Wahrzeichen Flensburgs. Nordwärts, rechts und links der Apenrader Straße, erstreckten sich ein paar Straßenzüge mit Mietskasernen aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts. Das Gewerbegebiet entlang der Förde gehörte ebenfalls zur Neustadt. Früher gab es dort einen großen Schlachthof mit Restaurant. Heute lagen noch die Werft der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft und die Stadtwerke auf dem Areal. Die Neustadt galt lange als der Hinterhof der Stadt, in dem sich Türken angesiedelt und ihre Basare und Teestuben aufgemacht hatten. Seit geraumer Zeit entwickelte sich das Viertel zu einer lebendigen Multi-Kulti-Gemeinde, die bereits die Große Straße südlich des Nordertors erfasst hatte. Die Walzenmühle war vor einigen Jahren entkernt und in ein Dienstleistungszentrum umgewandelt worden. Im Erdgeschoss hatte das Weinkontor Roberto Gavin Platz gefunden. Ein Bistro wurde dem Kontor angegliedert.

      Sie hatten es nicht weit. Holtgreve war gut zu Fuß und Jung hatte Mühe, ihm zu folgen. Er war kurz davor, ihn zu bitten, etwas langsamer zu gehen. An eine Unterhaltung war nicht zu denken. Nach einer knappen Viertelstunde saßen sie an ihrem Tisch und studierten