Inselgötter. Reinhard Pelte

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Название Inselgötter
Автор произведения Reinhard Pelte
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839249369



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dass Charlotte großes Interesse an dem Schiff hegte. Nostalgisch angehauchte Schwärmerei hatte er noch nie an ihr festgestellt. Dazu war sie nicht der Typ. Ihre Stärken lagen woanders. Sie lebte im Jetzt, hatte einen pragmatischen Verstand und ein breitgestreutes Wissen über alles, was den Alltag der Menschen bestimmte: Gesundheit und Krankheit, Fitness und Ernährung, Computer und das Leben im Internet. Er hatte ihre Fähigkeiten schätzen gelernt, gelegentlich sogar bewundert.

      Sie war nicht zu übersehen. Er hätte darauf gewettet, sie in jeder erdenklichen Verkleidung auf der Stelle wiederzuerkennen: groß, um die 1,80, sportliche, makellose Figur, kurzer, kunstloser Haarschnitt, bis auf den dezenten Lippenstift ungeschminkt. Das letzte Mal war sie in gelbem Ölzeug bei strömendem Regen gekommen. Heute war sie gekleidet wie bei ihrem ersten Zusammentreffen: helles Sweatshirt, kurze, braune Lederjacke, Kaki-Jeans und flache Leinenschnürschuhe. Ein Rock, ein Kleid oder ein Hosenanzug wären eine Sensation gewesen. Sie sah ungeheuer gesund aus. Tomas Jung empfand so etwas Ähnliches wie Freude.

      *

      Sie wandte sich ab und blickte in Jungs Richtung. Sie hatte ihn genauso schnell entdeckt wie er sie. Beide setzten sich in Bewegung, als triebe sie etwas Unsichtbares an.

      »Der Boss hat mir gesagt, wo ich Sie treffe«, sagte Charlotte Bakkens, als sie Tomas Jung zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte.

      »Moin, Charlotte.« Lächelnd nahm er ihre Hand. »Warum lässt du dich nicht endlich versetzen? Du hast hier öfter zu tun als in Kiel.«

      »Moin, Chef. Ich denk mal drüber nach.« Sie lachten und ließen voneinander ab.

      »Ihre Frau hat angerufen. Das soll ich Ihnen vom Boss ausrichten«, sagte sie bedeutungsvoll.

      »Okay. Bist du schon in den neuen Fall eingeweiht?«, überging er ihre Bemerkung.

      »Der Anruf schien wichtig. Sonst hätte er mir nicht aufgetragen, Sie zu informieren«, blieb Charlotte hartnäckig.

      »Ich kümmere mich darum. Später.«

      Charlotte fixierte ihn aufmerksam. Jung registrierte ihren skeptischen Blick.

      »Weißt du, um was es in unserem neuen Fall geht?«, fragte er noch einmal.

      »Im Großen und Ganzen, ja«, erwiderte sie unbeteiligt.

      »Das Große und Ganze. Was ist das?«, hakte Jung nach und setzte sich langsam in Richtung Polizeiinspektion in Bewegung.

      »Der Polizeipräsident wollte mich sehen. Das ist ganz was Neues. Ich war so was von nervös, Chef«, erklärte Charlotte mit gespieltem Entsetzen. Jung lachte.

      »Es geht um ein paar vermisste Personen auf Sylt«, fuhr sie fort. »Wir sollen sie finden. Schnell. Das schien ihm wichtig zu sein. Was soll das? Schnell soll es doch immer gehen, oder?«

      »Ansonsten nichts?«

      »Er schien ein gesteigertes Interesse zu haben. Warum, weiß ich nicht.«

      »Typisch«, lachte Jung.

      »Wissen Sie mehr, Chef?«, fragte Charlotte unsicher.

      »Nicht wirklich. Holtgreve hat einige wenige Andeutungen gemacht. Mehr nicht.«

      »Andeutungen. Was für Andeutungen?«

      »Wir sind oben aufgefallen, Charlotte«, lachte Jung spitzbübisch.

      »Oben? Sie meinen, beim Präsidenten?«

      »Bei dem Minister, dem Generalstaatsanwalt, dem Präsidenten. Ja, die da oben. Sie lieben uns, seit wir den Mordfall auf Sylt so schnell und geräuschlos begraben haben.«

      »Lieben? Das kann nicht wahr sein«, amüsierte sich Charlotte.

      »Der Präsident hat deinen Fernsehauftritt in den höchsten Tönen gelobt, Charlotte. Holtgreve übrigens auch.«

      »Hört sich gut an. Und was weiter?«

      »Sie wollen uns weiter lieben können. Das heißt, wir sollen ihnen aus der Patsche helfen.« Jung grinste in sich hinein.

      »Welche Patsche? Reden Sie doch nicht so drum herum. Ich komme mir schon ganz blöd vor.«

      »Lies die Akten. Dann weißt du mehr. Vielleicht kommt dir die eine oder andere Idee. Wir unterhalten uns anschließend.«

      Sie waren angekommen. Die Polizeiinspektion lag schräg gegenüber. Der neben dem Eingang angeschraubte Wegweiser zu den verschiedenen Dienststellen war nach der Neuordnung der Inspektion entfernt worden. Nur der blaue Leuchtkasten war übrig geblieben. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte man in dem Gebäude eher ein kleines, feines und teures Hotel alter Pracht vermuten können. In Paris oder anderen französischen Städten fand man sie noch, ausgestattet mit edlen Stilmöbeln und schweren Teppichen. Aber zu Flensburg hätte das nicht gepasst. So stellte sich die Frage, wozu das Gebäude früher gedient haben mochte. Es musste aus der Gründerzeit stammen, die Stilrichtung war nicht eindeutig zuzuordnen. Die Fassade war reich ornamentiert. Simse, Steinmetzarbeiten und schmiedeeiserne Geländer vor Balkonen und Austritten zierten die Vorderfront. Vor einiger Zeit hatte es einen strahlend weißen Außenanstrich erhalten. Es hob sich auch deswegen vorteilhaft von der ebenfalls dekorativen Nachbarschaft ab.

      »Moin, Herr Oberrat«, begrüßte sie der wachhabende Beamte am Eingang.

      »Moin, Petersen. Das ist Charlotte Bakkens, Kriminalkommissarin aus Kiel. Sie wird die nächste Zeit bei uns sein«, stellte Jung seine Begleiterin vor.

      »Schön. Wenn Sie etwas brauchen sollten, Frau Kommissarin, ich bin immer für Sie da«, sagte Petersen und lächelte charmant.

      »Ich werde Sie bei passender Gelegenheit daran erinnern, Hauptwachtmeister«, lächelte Charlotte zurück.

      Jung setzte sich in Bewegung und Charlotte folgte ihm auf dem Fuß.

      »Das Gesülze hat er sonst nicht drauf«, flüsterte Jung ihr ins Ohr.

      »Bei Ihnen wäre das auch völlig unangebracht, Chef«, flüsterte sie zurück und lachte.

      Jung streifte sie mit einem irritierten Blick und strebte dem Treppenhaus zu.

      »Die Akten sind bei mir«, wandte er sich an sie, als sie das Stockwerk erreicht hatten, auf dem sein Büro lag. »Hast du schon einen Schreibtisch und einen PC?«

      »Ja. Der Boss hat das bereits geregelt. Ich sitze unten, gleich neben Petersen. Meinen Laptop habe ich auch mitgebracht.«

      »Gut. Dann komm mit.«

      In seinem Zimmer händigte Jung ihr die Akten aus.

      »Ich warte auf deine Ideen, Charlotte«, sagte er schmunzelnd.

      »Und Sie denken an den Anruf, Chef?«, entgegnete Charlotte, während sie die Tür hinter sich schloss. Jung ließ sich seufzend in seinen Bürostuhl fallen.

      *

      Sie warf die Akten auf den Tisch und stellte ihre Segeltuchtasche daneben. In letzter Zeit waren ein paar findige Newcomer in der Modeszene auf die Idee gekommen, aus dem Leder alter Turngeräte, ausrangierten Armeezelten und ausgemusterten Segeln Taschen zu fertigen. Die Materialien hatten alle Strapazen der Vergangenheit überstanden. Sie waren einfach unverwüstlich. Deswegen hatte sich Charlotte für sie entschieden. Aber nicht allein deswegen. Die Taschen waren sorgfältig verarbeitet. Auf handwerkliche Qualität legte sie Wert. Nicht zuletzt schätzte sie den sportlichen Chic. Die schwarze Fünf auf der Vorderseite erinnerte sie an das Alter, in dem sie sich unwiderruflich entschieden hatte, Polizistin zu werden. Für sie war die Fünf eine geheime Botschaft, die ihr ungeahnte Kräfte verlieh. Bis zu diesem Augenblick waren sie noch nie versiegt.

      Sie packte ihren Laptop aus. Smartphone und Portemonnaie ließ sie in der Tasche. Den Rest hatte sie im Auto. Für ein paar Tage außer Haus benötigte sie nicht viel. Eine kleine Reisetasche, ebenfalls aus weißem Segeltuch, genügte ihr. Den meisten Platz nahm ihre Joggingausrüstung in Anspruch. Ohne Joggen würde ihr etwas fehlen. Es gehörte zu ihrem Leben wie Essen und Trinken. Vorhin hatte sie schon eine attraktive Laufstrecke