Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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Frank und Helga könnten erhalten bleiben. Das bisherige Figurenensemble müsste nur durch eine originelle Brigade personell erweitert werden.

      „Ich hatte zwar nicht vor, eines der üblichen Brigadestücke zu schreiben“, sagte Wolfgang. „Aber denkbar wäre es schon, eine Brigade auf die Bühne zu bringen, die Andrés Entwicklung entscheidend beeinflusst.“

      Landowskys Rat befolgend, arbeitete Wolfgang das Stück vom Herbst bis in den Winter hinein grundlegend um. Er erfand eine Brigade, die aus originellen Typen bestand, wie er meinte: Da war der kinderlose Brigadier Massig, der sich rührend um Achim, einen Waisen kümmerte. Da war der kauzige Steinesammler Simmel, der sich der neuen Technik verweigerte, und da war Böhlke, der Frauenheld, der seiner Unterhaltspflicht nicht nachkam und deshalb für gehörig Streit in der Brigade sorgte.

      Aus André, dem Außenseiter, versuchte Wolfgang einen Mitgestalter der Gesellschaft zu machen, der durch das Abenteuer Schwedt und die Begegnung mit der Brigade zur Einsicht kommt, dass er ein Maschinenbau-Studium aufnehmen muss, damit er später als Bauleiter den Einsatz der modernen Technik bestens beherrscht.

      Wolfgang glaubte, alles berücksichtigt zu haben, wozu Landowsky geraten hatte, und als er zwischen den Weihnachtsfeiertagen die neu geschriebenen Szenen durchkorrigierte, hatte er ein gutes Gefühl. Die Auseinandersetzung Andrés mit Frank, der ein übler Karrierist war, hielt Wolfgang dramatisch für gelungen, weil in dieser Szene mit der Scheinmoral in der Gesellschaft hart ins Gericht gegangen wurde.

      Am Silvestertag verschnürte Wolfgang das Manuskript wie ein Heiligtum und schickte es als verspätetes Weihnachtsgeschenk an Landowsky.

      Anfang Januar brachen für Wolfgang und Heidi eisige Zeiten an. Draußen war es klirrend kalt, und ihre Wohnung war nur sommertauglich. Wolfgang stand drei Mal in der Nacht auf und warf ein paar Kohlen in den kleinen Ofen, damit es am Morgen einigermaßen erträglich war. Aber trotz des dreimaligen Nachlegens waren die Fensterscheiben am nächsten Morgen bis obenhin zugefroren, und ein Sichtloch musste gekratzt werden, wollte man sehen, was draußen los war.

      So war es kein Wunder, dass nach einem viertägigen Kälteeinbruch die Wasserleitung in der Küche eingefroren war und der alte Kaiser, der Mann für alle Fälle, geholt werden musste.

      „Kein Problem“, sagte er, zog an seiner Stummelpfeife und machte sich daran, die Wasserleitung aufzutauen.

      Im Feuerwehrraum, der direkt unter der schmalen, langen Küche war, nahm er einen kleinen Kanister und goss Benzin über ein Bündel Rohrleitungen, die sich in einem Zementviereck befanden, das in die Erde eingelassen war.

      Das Verteilerstück aus Plaste begann zu schmoren. Als durch die Küchendielen der erste Qualm kam, rannte Wolfgang hinunter in den Feuerwehrraum. Er riss den Feuerlöscher von der Wand und half dem alten Kaiser beim Löschen.

      „Das Wasser läuft wieder“, schrie Heidi vom Küchenfenster aus dem alten Kaiser zu.

      „Ist ja gut, wenn’s wieder läuft“, sagte der Alte und ging seiner Wege.

      Kaum war der alte Kaiser abgezogen, rief die Briefträgerin aus dem dunklen, winterkalten Hausflur: „Post!“ Wolfgang sprang wie angestochen die schmale, hohe Treppe hinunter. „Vom Theater in Erfurt“, sagte die Postfrau. „Darauf habe ich schon lange gewartet“, hoch erfreut riss Wolfgang ihr den Brief aus der Hand.

      Er stürmte ins Wohnzimmer, ließ sich auf einen der Drehsessel fallen und begann Landowskys Brief zu lesen, der mehr und mehr einem Verriss gleichkam: „Der Streit zwischen André und der Brigade über Kultur ist gut geschrieben, aber ist er auch kulturpolitisch wichtig? Wollen Arbeiter wirklich nur Sonntagsfahrten und eine Leinwand mit viel Fleisch?“, schrieb Landowsky. „Natürlich gibt es solche Bauarbeiter – aber welche sind für unsere Zeit und unseren Weg typisch? Stinkt die Moral der Arbeiter wirklich so?“ Wolfgang las immer hastiger: „So geht meiner Meinung nach die große Anklage des André nicht. André klagt nicht nur die Arbeiter an, sondern es scheint, Sie – der Autor – klagen die Arbeiterklasse in der DDR überhaupt an. Auch schmeckt mir die ganze Brigade nicht: von fünf Personen sind bei Ihnen drei ausgemachte Schweinehunde. Die Brigade ist nicht typisch für unser Leben. Statt Menschen aus Fleisch und Blut versuchen Sie, ein Lebensprinzip zu beschreiben, und ich habe Sie im Verdacht, dass Sie das Prinzip der ewigen Veränderung, der Unruhe, der Auflösung des Bestehenden beschreiben wollen.“ Wolfgang blätterte atemlos um und las weiter. „Gravierende Fehler machen Sie auch beim Figurenaufbau: André ändert sich, während der Karrierist Frank, Andrés Gegenspieler, immer ekelhafter wird. Frank ist ein Brunnenvergifter, aber keine lebendige Theaterfigur. An welcher Universität hat der eigentlich studiert, fragt man sich. Und was ist das für ein sozialistisches Land, wo Studenten zu solchen Schweinen erzogen werden? Da stimmt es eben in Ihrer Dramaturgie noch nicht.“ Im letzten Satz schrieb Landowsky: „Schreiben Sie doch über Menschen aus Ihrem Leben, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Und denken Sie dabei an die dialektischen Grundregeln ...“

      Enttäuscht legte Wolfgang das vernichtende Urteil Landowskys aus der Hand. Nie mehr würde er das Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ in die Hand nehmen, nahm er sich vor.

       17. Kapitel

      Nach den eisigen Zeiten, die Wolfgang und Heidi während des Kälteeinbruchs Anfang des Jahres miterlebt hatten, konnten sie dem schneereichen Winter Ende Januar sogar etwas an Reiz abgewinnen.

      Schnee trieb am Fenster vorbei, und der Schneepflug und ein Streufahrzeug waren seit den Nachtstunden im Einsatz, ohne die Situation in den Griff zu bekommen.

      Im Radio redete man von Ortschaften, die von der Außenwelt abgeschlossen waren und mit Armeehubschraubern versorgt werden mussten. Ganz so schlimm war es in Oberneusitz noch nicht, obwohl der Bürgermeister im Dorffunk den Katastrophenalarm ausrief und die Menschen informierte, dass ein Kettenfahrzeug der LPG die Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten würde.

      Vor den Haustüren türmte sich der Schnee, und die Leute versuchten, sich freizuschaufeln. Es gab nur einen schmalen Weg zum Bürgermeisteramt und zur Kneipe. Drei Tage lang fiel der Bus aus, der die Leute aus dem Dorf morgens zu ihrer Arbeit nach Erfurt brachte, und drei Tage lang brauchten Heidi und Wolfgang nicht zu unterrichten, weil der Schulbus nicht durch die Schneemassen kam.

      Heidi stand am Wohnzimmerfenster. Aus dem Radio hinter ihr kamen Katastrophen-Meldungen und auf der Straße unten liefen Kinder Ski oder zogen einen Schlitten hinter sich her. Wie auf alten Gemälden, dachte Heidi.

      Dann hörte sie, dass sich im Lautsprecher des Ortsfunks gleich neben dem Fenster etwas tat. Nach einer verzerrten Musik und einem lauten Knacken und Poltern ertönte die Stimme von Zimmermann, dem Bürgermeister. Er sagte mehrmals hintereinander durch, dass die LPG die Brotversorgung übernommen habe und der Jeep bald im Unterdorf eintreffen müsse. Jede Durchsage des Bürgermeisters, selbst wenn er sie wiederholte, hörte sich anders an, weil Zimmermann erst während des Sprechens anfing zu denken. Erst dann fiel ihm ein, was er den Leuten eigentlich sagen wollte, und so geriet fast jede seiner Ansagen zur Farce. Als der Jeep wenig später auf dem tiefverschneiten, kümmerlich geräumten Lindenplatz hielt, stellte sich Wolfgang zu den Frauen und Kindern, die bei Schnee und Kälte auf Brot und Brötchen warteten.

      Wenig später saßen sie gemütlich am Wohnzimmertisch, und Heidi säbelte mit einem großen Messer dicke Scheiben vom frischen Brot ab. Wolfgang, der im Sessel ihr gegenüber saß, schnitt sich von der hartgefrorenen Butter, die zu lange in der winterkalten Küche gelegen hatte, ebenfalls dicke Scheiben ab und legte sie auf das frische, warme Brot.

      Heidi saß auf der Couch, im Rücken die zusammengerollten Federbetten. Und als sie nach der Brotzeit am späten Mittag die Betten wegräumen wollte, fragte Wolfgang: „Wozu?“ Er stand auf, machte das Radio aus, das in der Schrankwand vor sich hin dudelte, und drückte Heidi auf die ungemachten Betten.

      Es war heller Nachmittag, als sie ihr Liebesspiel beendeten, und von der Straße her kam das Geräusch lärmender Kinder, die sich mit Schneebällen bewarfen.

      In diesen Tagen der Abgeschiedenheit bekam Wolfgang wieder Lust, an seinem Stück weiterzuarbeiten. „Bevor