Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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Donnerstag gab es frisches Brot. Dann standen Frauen und Kinder mit Körbchen, Taschen und Netzen auf der unbelebten Dorfstraße und registrierten aufmerksam jedes Autogeräusch, das sich vom Dorfeingang her dem Schulplatz mit der großen, alten Linde näherte. Alle warteten an diesen Nachmittagen auf den blauen Skoda des Bäckers, der aus Vieselbach, einem sechs Kilometer entfernten Nachbardorf, kam. Um die Wartezeit bis zum Brötchen- oder Brotkauf zu verkürzen, spielten die Kinder Haschen oder Verstecken, und die Frauen unterhielten sich so lange, bis der Skoda des Bäckers auf dem Schulplatz hielt. Dann schlossen die Frauen und Kinder das parkende Auto kreisförmig ein, und der Bäcker, der die schubsende Menge überragte, brachte seine Brote und Brötchen an die Leute.

      Dass Oberneusitz weitab vom Schuss war, fiel Wolfgang eigentlich erst auf, als die Auszeichnungsveranstaltung Ende Oktober in Berlin anstand. Sage und schreibe zwei Tage brauchte er, um nach Berlin zu kommen: Mit dem Arbeiterbus, der gegen 18 Uhr vor der Dorfkneipe in Oberneusitz hielt, fuhr er am Donnerstagabend nach Erfurt. Er übernachtete bei seinen Eltern, damit er am Freitagmorgen mit der sogenannten Bonzenschleuder um 4.45 Uhr nach Berlin fahren konnte und pünktlich um zehn Uhr im Zentralrat der FDJ war.

      Der Zentralrat der FDJ residierte in einem alten Prunkbau „Unter den Linden“, und alle, die in diesem Haus angestellt waren, hatten Blauhemden an, egal, wie alt sie waren. Das jedenfalls war der erste Eindruck, den Wolfgang gewann, als er dem Pförtner in der gläsernen Eingangsloge seine Einladung zeigte.

      Der Pförtner, der im Alter von Wolfgangs Vater war, verwies ihn in eine Art Warteraum, in dem sich die Jungdramatiker einfanden, die zur Auszeichnungsveranstaltung nach Berlin geladen waren.

      Für die aus allen Teilen der Republik angereisten, hoffnungsvollen Theaterautoren war ein fülliger FDJ-Funktionär verantwortlich, dem das Blauhemd mächtig über seinem Bierbauch spannte. Wie sich später herausstellen sollte, war Born ein gemütlicher und trinkfester Kerl.

      Sobald alle Autoren da wären, ginge es in den Spreewald nach Prieros, in ein Schulungsheim der FDJ, sagte Born. Da hätte man drei Tage lang Zeit, sich zu beschnuppern und die Mentoren näher kennenzulernen.

      Von Zeit zu Zeit betrat er den Warteraum, sah in die Runde und prüfte, ob noch jemand dazugekommen sei, und nachdem er das letzte Häkchen hinter den letzten Ankömmling auf seiner Namensliste gemacht hatte, sagte er: „Auf geht’s. Draußen steht der Bus, der uns nach Prieros bringt.“ Das Schulungsheim war früher der Sommersitz von Wilhelm Pieck gewesen, und das gepflegte Grundstück mit den drei Flachbauten, die u-förmig angeordnet waren, lag inmitten einer Kiefernlandschaft. Es gab sogar einen Swimmingpool.

      Nachdem man die Zimmer bezogen und sich etwas frisch gemacht hatte, traf man sich in einem hellen, geräumigen Speiseraum zu einem kleinen Empfang.

      Als Leiter der Jury beglückwünschte Claus Hammel alle eingeladenen Autoren. Von der Vergabe von Preisen und einer Rangfolge der eingereichten Arbeiten habe man abgesehen, sagte Hammel, was bei Wolfgang und den anderen Autoren auf Verwunderung stieß. Denn hatte nicht jeder darauf gehofft, den Wettbewerb für sich entschieden zu haben?

      Alle Arbeiten seien vielversprechende dramatische Entwürfe, die innerhalb der nächsten Zeit zu aufführungsreifen Theaterstücken entwickelt werden sollten, erklärte Hammel. Statt eines Preises, mit dem ein Autor, der fürs Theater schreiben wolle, nichts anfangen könne, bekomme jeder der Anwesenden einen Mentor, der ihm helfen werde, das eingereichte Stück zur Bühnenreife zu bringen.

      An dieser Stelle seiner Rede stellte Claus Hammel seine fünf Mitstreiter vor, alles erfahrene Theaterleute, die in Rostock, Berlin, Schwerin, Magdeburg und Erfurt als Regisseure arbeiteten.

      Jeweils ein Mentor betreue drei Autoren, sagte Hammel, der mit Blick auf die gängige Theaterpraxis ungewöhnlich scharf formulierte: „Wir lassen nicht zu, dass talentierte Autoren, die fürs Theater schreiben wollen, von den kleinen Scheißern am Theater, den Dramaturgen, kaputt gemacht werden.“

      Schon von daher sei der „Arbeitskreis Dramatik“, dessen Mitbegründer und Leiter er sei, dringend notwendig, meinte Hammel. Dieses Bündnis von erfahrenen Theaterleuten und talentierten Autoren, das es in dieser Form bisher nicht gegeben habe, stelle ein erfolgversprechendes Modell dar.

      Nachdem er die Aufgaben des „Arbeitskreises Dramatik“ kurz umrissen hatte, griffen alle nach den Sektgläsern, die auf der weiß eingedeckten, langen Tafel vor sich hin perlten, und stießen auf gutes Gelingen an.

      Es war ein schönes Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, die man zu Theaterdichtern (sprich: Stückeschreibern) machen wollte, dachte Wolfgang, der dem prickelnden Sekt, in dem sich das Nachmittagslicht brach, kräftig zusprach. Auch hatte er den Eindruck, dass er mit Landowsky, der ihm als Mentor zugeteilt worden war, ein gutes Los gezogen hatte.

      Landowsky war Oberspielleiter in Erfurt und hatte mit einer Reihe von Shakespeare-Inszenierungen für republikweites Aufsehen gesorgt. Dass Wolfgang an solch einen erfolgreichen Regisseur gekommen war, der sich zudem noch gut mit Hammel verstand, freute ihn. Von daher, glaubte Wolfgang, habe er gute Karten, dass aus seinem dramatischen Versuch bald ein bühnenreifes Stück werde. Dass Landowsky im Umgang mit Gegenwartsautoren seine Erfahrungen hatte und taktisch ungemein klug bei seiner Stückkritik vorging, zeigte sich schon im ersten Gespräch, das Wolfgang mit ihm hatte.

      „Ihre rhythmische Begabung ist groß“, sagte Landowsky. „Viele Sätze scheinen in einem Versmaß geschrieben zu sein. Behalten Sie das auf jeden Fall bei“, und dass er Wolfgang in diesem Zusammenhang mit Volker Braun und Heiner Müller verglich, erfüllte diesen mit Stolz. „Der Rhythmus und Gestus Ihrer Sprache gefällt mir an Ihrem Stück am besten“, sagte Landowsky und kam von der Form auf den Inhalt zu sprechen.

      „Der Ausgangspunkt Ihres Stücks jedoch ist gewagt“, meinte er. „André lehnt den Weg ab, den in unserer Republik Zehntausende junger Menschen gehen. Der Autor, also Sie, erklären sich eindeutig solidarisch mit dem Helden. Von daher gibt es eine Reihe von Fragen: Lehnen Sie den normalen Weg über Lehre oder Oberschule ab? Halten Sie den Weg für falsch? Oder beschreiben Sie in Ihrem Stück die Entwicklung eines Außenseiters in unserer sozialistischen Gesellschaft?“

      „Für mich ist André kein Außenseiter. Er ist vielmehr ein junger Mensch, der das Abenteuer sucht und erst durch harte Erfahrungen seinen Weg in der Gesellschaft findet.“

      „Dann müssen Sie das auch zeigen“, sagte Landowsky. Der Hauptmangel des Stücks bestehe darin, dass der Zuschauer zu wenig gezeigt bekomme, durch welche Auseinandersetzungen oder Ereignisse André beeinflusst werde.

      „Ich bekomme immer nur das Resultat der Veränderung mitgeteilt, aber nicht den Prozess“, kritisierte er. „Ihr Stück ist eigentlich eine gute Vorarbeit für einen Roman. Ich meine Ihre Fähigkeit, Vorgänge episch zu fassen. Sie malen die Stationen der Handlung sehr plastisch aus, aber Sie zeigen nicht die Momente der Auseinandersetzung.“ Alles sei ausgezeichnet geschrieben, aber ohne dramatische Höhepunkte, so Landowsky am Ende des ersten Gesprächs. „Natürlich lässt sich der Stoff dramatisch behandeln. Aber ich wollte Sie auf die Schwächen und Stärken des Stoffes und der Behandlung durch Ihre Führung aufmerksam machen“, fügte er hinzu und schloss die Kladde mit dem Manuskript, die während des Gesprächs offen auf dem Tisch gelegen hatte. „Wir sollten auf jeden Fall überlegen, wie aus diesem Stückentwurf ein echtes Drama werden könnte.“

      Als sie sich am nächsten Abend auf den großen, weichen Ledersesseln im Kaminzimmer gegenüber saßen und tüchtig dem Braunen zusprachen, Schnaps der Marke „Goldkrone“, den Hammel ausgegeben hatte, erzählte Wolfgang, wie er nach Schwedt gekommen war und dass sein Stück autobiografische Wurzeln habe. Er berichtete vom Ohrenabschneiden im Suff und beschrieb eine der Mutproben, die einem jungen Kerl den Kopf gekostet hatte. Zu nächtlicher Stunde habe ein Kranfahrer versucht, einem Bauarbeiter mit der Schaufel des Baggers den Helm vom Kopf zu nehmen. Er war aber zu tief gekommen und hatte dem Bauarbeiter den Kopf abgeschert.

      Solche Dinge seien hochdramatisch und müssten unbedingt in das Stück eingebaut werden, Landowsky kam ins Fabulieren: „Statt der Befindlichkeiten eines Abiturienten könnten die Schwierigkeiten beim Verändern der Welt und das große Abenteuer auf einer sozialistischen Großbaustelle hautnah und exemplarisch