Leben ohne Maske. Knut Wagner

Читать онлайн.
Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



Скачать книгу

sie einen kurzen Blick ins Geschichtskabinett. „Ihr Heiligtum“, sagte Sandruschek zu Wolfgang, in dem er anscheinend mehr den Geschichts- als den Deutschlehrer sah.

      Das Direktorenzimmer, in das er Wolfgang und Heidi bat, war pomphaft eingerichtet: dicke Teppiche, protzige Besuchersessel, ein großer Repräsentativ-Schreibtisch und eine Zweit-Stundentafel, ein Veranstaltungs- und Organisationsplan, der stabsfeldmäßig durchgestellt war. Der Direktor steckte Fähnchen und hängte verschiedenfarbige Metallplättchen an eine große Tafel. Er kam sich wohl wie ein großer Feldherr vor. „Die roten bekommen Sie“, sagte er zu Heidi. „Und Sie kriegen die blauen“, zu Wolfgang. Er redete von unterrichtsarmen Tagen und vom Hort und AG-Stunden und von einem Stundenpolster, das für einen variablen Einsatz sehr wichtig sei.

      Sandruschek machte auf Wolfgang einen autoritären Eindruck, und er dachte an seinen Vater, nach dessen Willen alles immer gehen musste. Auch Sandruschek hatte seine festen Vorstellungen vom Leben auf dem Dorfe und vom Unterrichten an einer Landschule, und mit Wolfgang und Heidi glaubte er, seine Pläne an der Schule und im Dorf durchbringen zu können.

      Nachdem der Direktor ihnen gesagt hatte, in welchen Klassen sie unterrichten würden, meinte er am Schluss des Gesprächs: „Auch mit Ihrer Wohnung geht alles klar.“

      Wenig später trafen sie sich mit dem Bürgermeister, einem großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit klobigen Händen. Er stand vor einem Haus, das schräg gegenüber von der Kirche und der alten Schule lag. Äußerst schroff begrüßte er den Direktor. Aber wesentlich freundlicher verhielt er sich Heidi und Wolfgang gegenüber.

      Der Bürgermeister schloss die Haustür auf und der Blick fiel in einen dunklen Flur, der gelb ausgefliest war, und auf eine enge, steile Holztreppe, die nach oben führte.

      Oben angekommen, es gab nur ein Stockwerk in diesem Haus, machte der Bürgermeister die Türen zur Toilette, zum Wohnzimmer, zur Schlafstube und der Küche auf. „Das ist die Wohnung“, sagte er. „Einen Dachboden gibt es nicht, und der ehemalige Giftraum unten kann als Abstellraum für die Aschekübel genutzt werden.“

      Wolfgang und Heidi besahen sich die Räume genau, die ihr künftiges Zuhause sein sollten. Die Küche war unheimlich lang. Sie wirkte wie ein schmaler Tanzsaal, und Sandruschek sagte zu Heidi, wie er die Küche einrichten würde.

      Wolfgang stand am Küchenfenster, und sein Blick glitt über den Garten der Nachbarin bis zur Mühlenrampe und zu Rosas Kneipe. Der Direktor machte Heidi noch immer Vorschläge, wie die Küche am besten abzuteilen wäre. „Durch ein geschicktes Abtrennen könnte hier ein Kinderzimmer gewonnen werden“, er schritt ein Drittel der Küche ab.

      Alle Zimmer, außer der Toilette, hatten eine schräge Wand, und die meisten Fenster zeigten zur Dorfstraße. Wolfgang fand, dass das Wohnzimmer wenig einladend aussah: In der leeren Ofenecke lag ein Stück Blech, und wo das Ofenrohr in den Schornstein gegangen war, war die Tapete voller Ruß.

      „Für einen neuen Ofen sorgen wir“, sagte der Bürgermeister. „Bei den dünnen Wänden kann es auch mal ganz schön kalt werden.“

      „Früher war das Standesamt hier drin“, sagte der Direktor. Und mit Blick auf die geölten, schwarzen Dielen meinte Sandruschek: „Darauf würde ich Linoleum oder Auslegeware legen.“

      Die weitere Diskussion über Bodenbelag und Ofengröße überließ Heidi den Männern. Sie stand am Fenster, sah auf die klein gepflasterte Dorfstraße hinunter und auf das Haus gegenüber mit dem violetten Putzanstrich.

      Ein Traktor mit einem schweren Anhänger voll Getreide fuhr hupend am Haus vorbei. Das Hupen galt der Nachbarin aus dem Haus von gegenüber. Trotz der Hitze trug sie Gummistiefel, als sie aus dem Hoftor trat und die Dorfstraße hoch bis zum Wiegehäuschen ging, und Heidi musste darüber ein wenig lächeln. Aber ein trauriges Bild gab die Telefonzelle ab, die sich gleich neben dem Wiegehäuschen befand. Die Tür stand offen, die Scheiben waren demoliert, und der Hörer war abgerissen. Die Verbindung zur Welt war gekappt.

      „Mehr haben wir nicht zu bieten“, sagte der Bürgermeister und drückte Wolfgang die Wohnungsschlüssel in die Hand.

       16. Kapitel

      Am nächsten Tag stiegen Wolfgang und Heidi wieder auf der kaum befahrenen, staubigen Kreuzung aus dem Überlandbus und liefen in der Mittagshitze auf der langen, asphaltierten Chaussee auf Oberneusitz zu.

      Dieses Mal hatten sie luftige Sommerklamotten an und jeder von ihnen trug einen großen Rucksack, auf den eine zusammengerollte Luftmatratze geschnallt war. Abwechselnd zogen sie einen hellbraunen Lederkoffer hinter sich her, der auf Rollen lief.

      Nachdem sie die Rucksäcke und den Koffer in der langen Küche abgestellt hatten, in der außer einem Küchenherd, einem Schuhregal und einer runden Metallgarderobe nichts stand, machten sie sich an die Arbeit.

      In der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft BHG kauften sie sich drei unterschiedliche Besen, eine Kehrschaufel, Reinigungsmittel, zwei Plasteeimer und ein Bündel Scheuerlappen.

      Zwei Tage lang schrubbten und wischten sie gründlich die Zimmer und den Korridor. Danach begannen sie mit dem Renovieren der Räume. Zuerst kamen die Toilette, die Schlafstube und die Wohnstube dran, und zum Schluss nahmen sie sich die Küche vor.

      Bis sie jedoch mit dem Tapezieren der Wohn- und Schlafstube fertig waren, kampierten sie eine Woche lang auf ihren Luftmatratzen, die sie in der langen, schmalen Küche ausgelegt hatten. Eine Woche später kam ein großer Laster, der die Möbel aus Heidis Mädchenzimmer brachte, und wieder eine Woche später begann die Vorbereitungswoche, in der Wolfgang und Heidi ihre Kollegen kennenlernten und erfuhren, in welchen Klassen sie unterrichten würden. Zu diesem Zeitpunkt sahen Wolfgang und Heidi keine Schwierigkeiten, die das Leben in Oberneusitz und das Unterrichten an einer kleinen Landschule mit sich bringen könnte.

      Heidi glaubte, dass sie sich ohne Probleme auf einem Dorf wie Oberneusitz einleben könnte, und Wolfgang war überzeugt, dass er in Oberneusitz trotz des Unterrichts und der üblichen außerunterrichtlichen Verpflichtungen genügend Ruhe finden würde, um schreiben zu können. Das flache Land, das er liebte, würde ihn ganz sicher zu einer Fülle von Landschaftsgedichten inspirieren.

      Zum Eröffnungsappell auf dem Schotterhof hinter der Schule waren alle Lehrer und Schüler angetreten, und Sandruschek stellte dem versammelten Rund Heidi und Wolfgang vor. Beide waren Klassenlehrer: Wolfgang in der sechsten, Heidi in der achten Klasse.

      In den ersten Wochen war der Focus ganz auf die gemeinsame Arbeit in der Schule gerichtet.

      Abend für Abend saßen Wolfgang und Heidi sich am Wohnzimmertisch unter der Schräge gegenüber. Sie schrieben an ihren Klassenleiter- und Stoffverteilungsplänen und machten ihre Stundenvorbereitungen. Die Abende waren mit Schul- und Streitgesprächen angefüllt, und sie genossen die ungestörte Zweisamkeit, das „Inselleben zu zweit“.

      Als Ende September ein Brief vom Zentralrat der FDJ ins Haus schneite, schien Wolfgangs Glück perfekt zu sein: Zum Glück in der Liebe, dem erfolgreichen Start ins Lehrersein kam nun die erneute Hoffnung, doch noch ein erfolgreicher Theaterdichter zu werden, und es schien für Wolfgang keine Rolle zu spielen, dass der Zentralrat der FDJ, von dem der Brief kam, die Kaderschmiede für das ZK der SED war.

      Er erfuhr, dass er zu den Preisträgern des Wettbewerbs „Junge Dramatiker gesucht“ gehöre. Das Stück „Der Gast oder Der Versuch zu leben“, das er im zweiten Studienjahr geschrieben hatte, war zwar nicht aufgeführt worden, aber es hatte ihm das Tor zum „Arbeitskreis Dramatik“ geöffnet. Der Leiter war Claus Hammel, über dessen Stück „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ Wolfgang seine Staatsexamensarbeit geschrieben hatte.

      Zufälle gibt es, dachte Wolfgang und war auf die Auszeichnungsveranstaltung am Ende der Herbstferien gespannt.

      Bis dahin ging ihm die Arbeit in der Schule spielend von der Hand, und er fand nachmittags sogar Muße, über das flache Land zu gehen, das sich bis Erfurt erstreckte.

      In kürzester Zeit hatten sich Wolfgang und Heidi bei den Leuten im Dorf Sympathien erworben, und in der Euphorie des