Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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wurde Louis Stillmark nicht. Er war 83 Jahre alt, als er nach einem Treppensturz starb.

      Obwohl Louis Stillmark so schlecht sah, dass er sich die Zeitung vorlesen lassen musste und die Leute nur schemenhaft erkannte, konnte er genau sagen, wer auf welchem Bild zu sehen war.

      Als Wolfgang auf einem Schulbild, auf dem 71 Schüler mit ihrem Lehrer zu sehen waren, Heidis Großvater nicht finden konnte, sagte Louis Stillmark von seinem Sessel aus: „Ich bin der Dritte von links in der oberen Reihe.“

      Wolfgang ging die obere Reihe der Schulanfänger durch und stieß auf einen bleichgesichtigen, blonden Jungen mit auffallend hellen Augen. „Als Junge war ich immer etwas schwächlich“, hörte er Louis Stillmark vom Fenster her zigarrepaffend sagen: „Zum Ringschmied war ich nicht geeignet, und so wurde ich Packer. Denn ich hatte eine schöne geschwungene Schrift.“

      Und weil er eine so schöne Handschrift hatte, wurde er später im Turnverein Schriftführer, und seine Protokolle sahen wie gemalt aus. Jahrzehntelang sei er Protokollführer vom „Turnverein 1877“ gewesen, erzählte Louis Stillmark voller Stolz. Und wenn er an den Gewinn der „Deutschen Meisterschaft im Schlagball“ zurückdachte, wurden seine Augen feucht. Denn Louis Stillmark hatte nahe ans Wasser gebaut.

      Gleich neben dem Schulbild war an zentraler Stelle hinterm Glas des großen dunkelbraunen Bilderrahmens Louis Stillmark als Soldat zu sehen. Wie einen Großwildjäger in der Savanne hatte man ihn aufgenommen. In der Ausgehuniform eines Kanoniers, mit schmucker Mütze und einem Wollmäntelchen, stand er auf einem Feld im flachen Flandern, die linke Hand in die Hüfte gestützt, den Feldstecher umgehangen und den Blick gen Westen gerichtet. So posierte er vor der Kamera.

      Auf das ovale Bild angesprochen, sagte Louis Stillmark: „Das ist im Herbst 1915 gemacht worden, als ich die Grundausbildung an Karabiner und Kanone hinter mir hatte und zum Landsturm kam. Da war ich 28 Jahre alt.“

      Seit einer Mittelohrvereiterung, die er im August 1918 nach einem Rückzugsgefecht in Französisch-Flandern bekommen hatte, hörte Louis Stillmark auf dem linken Ohr sehr schlecht. Die kurze Zeit im Feldlazarett habe nicht ausgereicht, um die Sache auszukurieren, erklärte Louis Stillmark, und so sei es zu diesem bleibenden Hörschaden gekommen.

      Da Louis Stillmark aber kein Wort verpassen wollte, wenn sich unterhalten wurde, vergrößerte er seine Ohrmuschel mit der linken, hohlen Hand, um besser hören zu können. Denn er war ungemein neugierig auf das, was gesagt wurde. Und wenn er am Sonntagabend für zwei Stunden zum Bier in den „Stern“ ging, wollte er mitreden können, wenn sich über dies und das unterhalten wurde.

      Von daher war es unerlässlich, dass er genau wusste, was in der Zeitung stand. Da er aber schon lange nicht mehr die kleinen Buchstaben lesen konnte, musste ihm aus der Zeitung vorgelesen werden.

      Sein Augenlicht tue es nicht mehr her, sagte Louis Stillmark.

      Da Wolfgang gern bei Louis Stillmark in der kleinen, überheizten Küche saß, wenn er mit seiner Arbeit nicht so recht vorankam, übernahm er gern das Vorlesen.

      Louis Stillmark, der jahrzehntelang als Packer in der Birkenhaller Bohrerfabrik gearbeitet hatte und erst mit 75 Jahren in Rente gegangen war, interessierte sich noch immer für die Werkzeugindustrie in Birkenhall.

      Und Wolfgang las ihm vor, was unter der Überschrift „Gemeinsam werden wir die Zukunft meistern“ geschrieben stand: „Ende des vorigen Jahres beschloss der Ministerrat der DDR, dass in den Zentren des Maschinenbaus, in Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Birkenhall, Kombinate zu bilden seien. Schnell wurde dieser Beschluss in Birkenhall umgesetzt.

      Genosse Kehr, der Direktor des neu gebildeten Werkzeugkombinats, stellte sich mit einigen Mitarbeitern auf einer Belegschaftsversammlung des Stammbetriebes vor. Die sozialistische Industrialisierung müsse in Zukunft auch im Raum Birkenhall vorangetrieben und das Klein-Klein der Werkzeugproduktion schrittweise beseitigt werden, erklärte der Kombinatsdirektor. So sei der Neubau von zwei großen Produktionshallen geplant. ‚Die meisten Grundstücke, die wir für den Neubau brauchen, haben wir bereits erworben‘, meinte er auf Anfrage. Über mögliche Restflächen, die noch benötigt würden, werde bis Juni entschieden. ‚In fünf Jahren werden in den Hallen I und II 4.000 Menschen arbeiten, die mit modernster Technik Ringschlüssel, Mähklingen, Bohrwerkzeuge und Sägen herstellen‘, führte Genosse Kehr weiter aus und schloss seine zukunftsweisende Rede mit den Worten: ‚Ich bin gewiss, dass uns das unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse gelingen wird.‘“

      Als Louis Stillmark am Abend erzählte, was übers Kombinat in der Zeitung gestanden habe, rastete August Stillmark völlig aus. „Unser Acker und unsere Wiese werden diesem Neubau zum Opfer fallen. Auf unserem Grund und Boden werden sie das Kombinat errichten“, schrie er. „Zuerst nimmt man uns das Land, dann verleibt man sich die Produktionsgenossenschaften ein, und wir verlieren unsere Freiheit.“

      „Ganz so schlimm wird es schon nicht werden“, sagte Lisbeth Stillmark. Aber es gelang ihr nicht, ihren Mann zu beruhigen, und Wolfgang, der Zeuge von August Stillmarks cholerischem Anfall war, verstand die Reaktion seines zukünftigen Schwiegervaters nicht. Er verstand nicht, wie man sich so gegen den Fortschritt stellen konnte.

      Bis auf den cholerischen Anfall August Stillmarks war während der vier Wochen, die Wolfgang in Arnsbach verbracht hatte, nichts geschehen, was sich grundlegend von seinem ersten Besuch in Arnsbach unterschieden hätte.

      Die Gepflogenheiten im Stillmarkschen Haus waren immer dieselben. Der Alltag verlief in festen Bahnen, und die Rollenverteilung war streng geregelt.

      August Stillmark lebte seine Hobbys aus. Er war Hundezüchter, Zuchtrichter, Konzert- und Kirmestrompeter. Und er war der Herr im Haus.

      Lisbeth Stillmark hatte zu gehorchen. Sie hatte für sein leibliches Wohl zu sorgen und jeden Tag ein frisch zubereitetes Essen auf den Tisch zu bringen. Die Speisen, die sie kochte, mussten August Stillmark bekommen und magenverträglich sein.

      So konnte Lisbeth Stillmark, die sich um den Haushalt, die Hunde und die Hühner zu kümmern hatte, nur halbe Tage in der Buchhaltung eines kleinen Holzbetriebs arbeiten.

      Meistens kam sie halb zwölf nach Hause und kochte das Essen für ihren Mann und ihren Schwiegervater, und halb zwei, wenn sie mit dem Abwasch fertig war, ging sie wieder an die Arbeit, damit sie wenigstens auf sechs Stunden am Tag kam. Es waren widrige Umstände, in die sich Lisbeth Stillmark im Laufe ihrer Ehe gefügt hatte.

      Am letzten Freitag im Februar ließ Wolfgang seine Examensarbeit grau einbinden und lud Heidi anschließend zum Kaffeetrinken in den „Hessischen Hof“ ein. Als sie sich zur Feier des Tages am hellen Nachmittag mit Rotwein zuprosteten, sagte Heidi: „Ich freue mich schon auf die Zeit, wenn wir zusammen arbeiten und zu Hause alles ausdiskutieren können.“ Ihr fehle jetzt nämlich immer jemand, mit dem sie sich unterhalten könne, gestand Heidi.

      „Du glaubst gar nicht, wie mir die Lehr- und Lernmaschinen, die ich täglich um mich habe, zum Hals heraus hängen“, sagte sie. „Du musst mir unbedingt dabei helfen, damit ich mich nicht zu einem hinterwäldlerischen Dorftrampel entwickle.“

      „Ich werde mir Mühe geben“, sagte Wolfgang. Seine Staatsexamensarbeit über Claus Hammels „Morgen kommt der Schornsteinfeger“ hatte er am 1. März 1969 im Germanistischen Institut Jena fristgemäß abgegeben.

      Vier Wochen später wurde Wolfgang ins Prorektorat bestellt. Der Prorektor fragte Wolfgang, ob er sich schon Gedanken über seinen zukünftigen Einsatzort gemacht habe.

      Wolfgang sagte, dass er an eine Landschule gedacht habe. Dabei sei es ihm egal, ob das oben in Mecklenburg oder hier in der Nähe sei. Hauptsache Dorf. Dafür hätten sich Heidi und er entschieden, erzählte Wolfgang.

      Aber nur im Rahmen der Familienzusammenführung hätten Heidi und Wolfgang die Chance, eine Wohnung auf dem Lande zu kriegen und gemeinsam an einer Schule unterrichten zu können, erklärte der Prorektor. Aber das setze voraus, dass Heidi und Wolfgang verheiratet seien.

      „Unsere Hochzeit ist am Samstag vor Ostern“, sagte Wolfgang. Bei seinem nächsten Gespräch mit dem Prorektor bekam er den Einweisungsschein für Erfurt-Land ausgehändigt.