Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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musste: Als er zum werweißwievielten Mal seiner Großmutter das Kopfkissen und die Bettdecke umgedreht hatte – es war heiß an diesem Tag – hatte sie „Durst“, gesagt und war sich mit der Zunge über die trockenen Lippen gefahren. Sie sagte: „Bier ..., a Flaschla Bier!“

      Daraufhin sagte er: „Mach’s gut. Ich komme gleich wieder.“ Und schrittweise bewegte er sich mit dem Rücken zur Tür. Seine Großmutter winkte, und er winkte zurück. Dann ließ sich Meta Larsen auf das hochgebettete Kopfkissen fallen, und Wolfgang hielt es nicht mehr aus. Er stürmte aus dem Zimmer und an den offenen Türen vorbei. Er hörte seine Großmutter: „A Flaschla Bier, a Flaschla Bier bring‘ mir noch.“ Aber er war unfähig, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, und er ließ sie warten bis an ihr Ende.

      Dabei war sie es gewesen, die ihn getröstet hatte, als seine über alles geliebte Katze spurlos verschwand und er sich aufs Sofa warf und furchtbar heulte. Da setzte sich seine Großmutter zu ihm und strich ihm tröstend über seinen Kopf. „Man darf sich nicht unterkriegen lassen“, hörte er seine Großmutter sagen.

      Langsam und vorsichtig wurde der Sarg seiner Großmutter an zwei Seilen in die Erde gelassen. Die Trauergemeinde, die sich ums Grab scharte, war klein, und Heidi stand neben Wolfgang. Sie sang mit ihrer hellen, klaren Stimme „Jesu geh‘ voran.“ Und Wolfgang merkte zum ersten Mal, dass Heidi christlich erzogen war und die gängigsten Kirchenlieder kannte, die zu Traueranlässen gesungen wurden.

      Aufgefordert, ans Grab zu treten, warf er eine Rose und ein Schäufelchen Erde auf den braunen Sarg. Dann trat er zurück in den Kreis der Schwarzgekleideten.

Dritter Teil (1969 bis 1971)

       15. Kapitel

      Nach dem Begräbnis von Meta Larsen hatten es Wolfgang und Heidi unheimlich eilig, mit der Straßenbahn vom Erfurter Hauptfriedhof auf den Busbahnhof zu kommen. Am frühen Nachmittag nämlich waren sie mit dem Direktor der Schule, an der sie ab September unterrichten würden, verabredet, und der Mittagsbus war die einzige Möglichkeit, um diese Zeit nach Oberneusitz zu kommen. Denn nur morgens, mittags und abends war dieses weltabgeschiedene Nest in Erfurt-Land mit dem Bus zu erreichen.

      Es war schweineheiß, als sie an einer kaum befahrenen, staubigen Kreuzung, die einen Kilometer von Oberneusitz entfernt war, den stickigen Überlandbus verließen und das erste Mal auf das Dorf zuliefen. Sie gingen auf einer langen, schmalen Chaussee auf Oberneusitz zu: ihren künftigen Einsatzort.

      Heidi hatte einen schwarzen Kostümrock und eine weiße Rüschenbluse an, und Wolfgang trug seinen schwarzen Hochzeitsanzug und hatte ein weißes Dederonhemd an und einen schwarzen Binder um.

      Rechts und links der Straße: Pflaumenbäume und freies Feld, und über den ersten Häusern des Dorfes, die man in der Ferne sehen konnte, eine wolkenlose Bläue.

      Die Hitze war mörderisch, und der aufgeweichte Asphalt roch stark nach Teer, und wenn die Schatten der Chausseebäume nicht gewesen wären, wäre der Weg nach Oberneusitz zu einer noch größeren Tortur geworden. Das Dorf, das sie anvisierten, war für Wolfgang und Heidi eine unbekannte Größe, und die Menschen, die in diesem 210-Seelen-Dorf wohnten, waren ihnen allesamt unbekannt. Aber lange würde es nicht dauern, und sie stünden vor den Klassen, die sie heute noch nicht kannten, und es hieß, auf die Fragen der Schüler die richtigen Antworten zu geben.

      Wolfgang und Heidi schraken ein wenig zusammen, als plötzlich ein Pferdefuhrwerk rasant vom Feld auf die Straße bog. Auf dem Kutschbock saß ein glatzköpfiger alter Mann, einen Stumpen im Mund, und auf der Ladefläche hockten die LPG-Frauen, die vom Rübenhacken kamen. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die Pferde galoppierten, und die Frauen auf der Ladefläche lachten, winkten und kreischten.

      „Die sind schneller da als wir“, sagte Wolfgang. „Ich beneide sie nicht“, sagte Heidi, die ans Rübenhacken in dieser Gluthitze dachte.

      Nach einer Weile erreichten Wolfgang und Heidi endlich das gelbe, rostig lädierte Ortsschild „Oberneusitz“.

      Aus dem Schweinestall rechts neben der Straße war das tausendstimmige Quieken und Schreien der Schweine zu hören und die Entlüftungsventilatoren der Schweinemastanlage surrten auffallend laut. Die Stallfrauen in ihren blauen Kitteln hatten roterhitzte Gesichter und karrten Mist.

      Links drüben, nicht unberührt vom Gestank der Schweinemastanlage und dem lauten Quieken der Schweine, lag der kleine Dorffriedhof im Schatten großer Bäume. Über den Wipfeln schwirrten die Schwalben. Wie Pfeile durchschossen sie die Luft, die das Land heiß umschloss.

      Wie in einer Dunstglocke kamen sich Wolfgang und Heidi vor, in der es schwerfiel zu atmen, und vor Wolfgangs Augen verschwamm für Augenblicke der Dorffriedhof mit seinen riesigen Bäumen und den funkelnden Grabsteinen dazwischen. „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe“, hörte er seine Großmutter sagen.

      „Meine Großmutter war eine tapfere Frau. Ich habe sie geliebt“, sagte Wolfgang. „Davon hat man aber wenig gemerkt“, sagte Heidi. Die Leute seien über sein Verhalten am Grab verwundert gewesen. Sie habe gehört, wie jemand gesagt habe: „Ihr Leben lang hat sie sich um ihn gesorgt, und jetzt hat er nicht mal Tränen für sie.“

      „Ich hab‘ mich doch nur an das Versprechen gehalten, dass ich ihr gegeben habe“, sagte Wolfgang, und er hörte die Bitte seiner Großmutter: „Nicht weinen, nicht weinen, wenn ich sterbe.“ Sollte Wolfgang dadurch härter und männlicher werden, weil seine Großmutter glaubte, er sei zu weich für die Welt?

      Zwischen dem Friedhof unweit der Straße und den ersten Häusern des Dorfes war eine Pferdekoppel, in der zwei Fohlen ungezügelt ungelenke Luftsprünge machten.

      In der Mitte des Dorfes, das still und staubig in der Mittagshitze döste, standen auf dem Dorfplatz, genau gegenüber der Kneipe, zwei große Mähdrescher. Die Traktoristen ließen sich ihre Bockwurst-Brause-Mahlzeit schmecken, und ein Schäfer band seine Hunde an den Holzlatten eines Vorgartenzauns fest. Bevor er die Straße überquerte, blieb er einen Moment stehen und sah Wolfgang und Heidi erstaunt und misstrauisch an. Dann verschwand er in der Kneipentür und die beiden Hunde am Zaun bellten.

      Daraufhin traten die zwei Traktoristen ins gleißende Mittagslicht, dessen Helle kaum zu ertragen war, und bestiegen die höllisch heiße Kanzel ihrer Mähdrescher. Höllenlärm verursachend, stürzten sie sich fluchend in die Ernteschlacht. Hupend und grinsend fuhren sie an Heidi und Wolfgang vorbei, die gerade die Schule am Ende des Dorfes erreicht hatten.

      Die Schule war ein barackenähnlicher Flachbau. Der Direktor stand auf den Stufen vor der Eingangstür. Er hieß Sandruschek und erwartete sie zum ersten Gespräch.

      „Ist etwas passiert?“, fragte er verwundert und etwas unbeholfen, als er Wolfgang und Heidi in ihren schwarzen Trauerklamotten sah. „Meine Großmutter ist gestorben“, sagte Wolfgang. „Heute Vormittag war das Begräbnis.“

      „Das tut mir leid“, sagte der Direktor. „Es hat sich ja hoffentlich an ihrem Einsatz nichts geändert“, fügte er etwas verunsichert hinzu.

      „Nein“, sagte Wolfgang. „Alles bleibt wie abgesprochen.“

      „Dann ist es ja gut“, der Direktor zeigte ihnen die Schule. Er führte sie ins Lehrerzimmer, ins Sprachkabinett, auf das er mächtig stolz war, und in den Biologie-Raum.

      Auf dem Lehrertisch lag ein heller Sommerhut, und ein alter Mann etikettierte gerade eine Reihe von Spiritus-Gläsern, in denen Embryos in den verschiedensten Entwicklungsstadien zu sehen waren.

      „So sieht menschliches Leben aus“, sagte er schmunzelnd und sah Heidi an, als wolle er feststellen, ob sie schon schwanger sei.

      Der Direktor sagte: „Herr Rechn, mein Stellvertreter, 63 Jahre alt, der keine Ferien kennt.“

      Der alte Rechn gab Wolfgang und Heidi, vor der er sich sogar etwas verbeugte, die Hand und Sandruschek sagte: „Bruckners. Die neuen Absolventen.“

      „Wir sind Nachbarn“, sagte der alte Rechn. „Ich wohne mit meiner