Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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die er seinem Mentor Ende März zuschickte.

      Postwendend kam Landowskys Antwort. „Jetzt sind Sie auf dem richtigen Weg“, schrieb er. „Ja, das werden Menschen. Ich bin glücklich, dass Sie jetzt noch einmal von vorn angefangen haben.“

      Es gab wenig, was Landowsky zu monieren hatte. In manchen Szenen gebe es noch Längen und Wiederholungen, merkte er an. Aber das sei kein Problem. Das könne man schnell in Ordnung bringen.

      „Der Grundeinfall, den alten Linke bei einem Fußbad über das Leben und Andrés Abenteuerlust philosophieren zu lassen, ist eine Wucht“, fand Landowsky, und er riet Wolfgang dazu, diese gelungene Szene noch auszubauen.

      Überhaupt war Landowsky des Lobes voll über die neugeschriebenen Szenen. „Jetzt stimmt die Exposition, und Andrés Entwicklung, die sich durch die Auseinandersetzung mit der Brigade ergibt, ist Szene für Szene ablesbar“, schrieb er. Er sei schon auf den Schluss gespannt, schrieb er, und machte Wolfgang Mut, die Neufassung des Stücks erfolgreich zu Ende zu bringen.

      Selbst zu Ostern saß Wolfgang am Schreibtisch vorm Fenster, das zum Lindenplatz zeigte, und schrieb an seinem Stück, von dem er glaubte, dass es bald aufgeführt werde. Heidi hingegen hatte es sich auf der Doppelbettcouch unter der Schräge bequem gemacht und las – möhrenschnurpsend – in der Broschüre „Schmerzlos gebären“.

      Als sie auffallend laut in einen Apfel biss und eine Decke auf dem Fußboden ausbreitete, um gymnastische Übungen für Schwangere zu machen, unterbrach Wolfgang das Hämmern auf seine Schreibmaschine.

      „Das Beste wird sein, wir machen einen kleinen Osterspaziergang“, sagte er, und so gingen Heidi und Wolfgang am Ostersonntag durch die Felder hinterm Dorf. Heidi war hochschwanger. Als sie am Vordersee vorbeikamen, der voller Jungenten war, blieb Heidi stehen. Dickbäuchig und etwas kurzatmig machte sie am Zaun zur Entenfarm halt. Ein Hühnerhund zog an einer langen Kette und bellte die beiden Spaziergänger an. Aus dem Meer gelbflaumiger Jungenten, die sich zu Hunderten auf der großen Wiese vorm Vordersee tummelten, fischte ein Mann die Kümmerlinge heraus und warf sie gegen die Holzwand der Entenfarm.

      Wolfgang hielt Heidi die Augen zu: Sie sollte sich keinen Schock holen. Und das Kind in ihrem Leib sollte kein Rohling werden.

      Sie kehrten der Entenfarm den Rücken und gingen auf einem schmalen Sandweg talwärts. Kühe mit prallen Eutern, belästigt von Fliegen und Bremsen, drängten sich bedrohlich an den dünnen Elektrozaun, der Heidi und Wolfgang von der angsteinflößenden Herde trennte.

      Nach der Koppel mit den brüllenden Kühen folgte ein Rapsfeld, das zu blühen begann, und Heidi sagte: „Henry soll er heißen, wenn es ein Junge wird.“

      „Henry soll er heißen“, wiederholte Wolfgang. Er riet zur Umkehr. Denn es war unheimlich heiß an diesem Sonntagnachmittag, und er hatte Angst, Heidi könnte Probleme kriegen, kurzatmig und füllig, wie sie war.

      Als Heidi vier Wochen später ihren Schwangerschaftsurlaub antrat, verließ sie Oberneusitz und kehrte bis zur Geburt ihres Kindes ins Stillmarksche Haus nach Arnsbach zurück. Die Gründe lagen auf der Hand: In Arnsbach gab es eine Hebamme, in Oberneusitz nicht, und innerhalb von fünf Minuten konnte Heidi im Krankenhaus in Birkenhall sein, wenn es die Situation erforderte.

      Sie fühle sich in Arnsbach einfach sicherer als hier, sagte Heidi. „Und zur Not kann mir meine Mutter beistehen.“

      Wolfgang hatte Verständnis für Heidis Lage und akzeptierte schweren Herzens, dass er bis Ende Juni ein Strohwitwer-Dasein führen musste. Einen Vorteil jedoch hatten die endlos langen Abende, die er jetzt in Oberneusitz verbringen musste: Er hatte viel Zeit zum Korrigieren der Arbeiten, die bis zum Schuljahresende noch durchzusehen waren, und mit dem Umschreiben des Stücks wurde er eher fertig als gedacht.

      Landowsky jedoch war vor Spielzeitende als Oberspielleiter von Erfurt nach Cottbus gewechselt. Auf Grund der räumlichen Entfernung sei eine weitere Mentorenschaft nicht mehr möglich, teilte er Wolfgang Mitte Juni mit. Er sei aber überzeugt, dass Wolfgangs Stück in Bälde zur Bühnenreife geführt werden könne. Als Maßstab fürs Schreiben, fügte Landowsky hinzu, könne Wolfgang das Stück „Der Betrug“ dienen, das gegenwärtig noch am Erfurter Schauspielhaus gespielt werde und das er sich unbedingt ansehen müsse.

      „Da ich ja nun nicht mehr direkt mit Ihnen zusammenarbeiten kann, habe ich den Chefdramaturgen gebeten, dass sich das Theater und besonders er sich direkt um Sie kümmert. Als Ihr zukünftiger Betreuer wird er ganz sicher in den ‚Arbeitskreis Dramatik‘ kooptiert. Ich bin gespannt, was Sie über das Stück ‚Der Betrug‘ denken. Das Stück wurde von mir mit entwickelt und war wohl mit ein Grund, weshalb ich als Oberspielleiter nach Cottbus berufen wurde.“

      Wolfgang staunte nicht schlecht, als er sich das Stück ansah. Schon nach den ersten Szenen merkte er, dass er einem windigen Theatermann auf den Leim gegangen war, dessen Ratschläge er genau befolgt hatte.

      Obwohl es in dem Stück „Der Betrug“ um Normenschaukelei und um eine ungerechte Prämienvergabe ging, bestand die Brigade, die Wolfgang auf der Bühne sah, aus Typen wie Massig, Böhlke und Simmel, und es gab auch einen alten Mann, der viel Verständnis für den ungestümen, jungen Helden aufbrachte und ihm während eines ausgiebigen Fußbads, das er nahm, die Welt und das Leben erklärte. Dass dieser alte Mann Böstel und nicht Linke hieß, war nur ein schwacher Trost für Wolfgang.

      Und als die Brigade den jugendlichen Empörer, der lautstark für die Durchsetzung der sozialistischen Arbeitsmoral eingetreten war, zum Studium delegierte, trennte er sich von seiner Freundin, einer Kellnerin. Die Ähnlichkeiten zwischen André und Irene in Wolfgangs Stück und dem Bernd und der Helga in „Der Betrug“ waren unverkennbar. Wolfgangs Stück gab es schon, und Landowsky, von dem Wolfgang tief enttäuscht war, hatte ihn als Ideengeber benutzt.

      Als die Taxe auf der nächtlichen Chaussee auf Oberneusitz zufuhr, dachte Wolfgang: Vielleicht ist es besser, dass ich Lehrer bin.

      Zu Hause angekommen, warf er sich auf die Doppelbett-Couch und weinte und er war froh, dass er alleine war und Heidi nicht mit ansehen musste, was für eine Heulsuse er war.

      Dennoch schwor er sich in jener Nacht, seine Theatererfahrungen, die er zum Stückeschreiben brauchte, auf eigene Faust zu sammeln, und insgeheim beschloss er, Dramaturg zu werden.

       18. Kapitel

      Nach der Geburt ihres Sohnes, der mit vierzehntätiger Verspätung Mitte Juli in Birkenhall zur Welt gekommen war, hatte sich die Lebenssituation für Wolfgang und Heidi grundlegend verändert.

      Heidi war zu Hause, wusch Windeln und bügelte Baby-Sachen. Nur durch das Radio, das Musik und Nachrichten brachte, war sie mit der Welt verbunden. Aber wenn Reklame-Sprüche West („Was eine ideale Hausfrau unbedingt braucht“) oder Kommentare Ost über „Die Frau im Sozialismus“ kamen, machte sie sofort das Radio aus. Idiotische Werbung und plumpe Agitation ertrug sie nicht.

      Henry, der, im Stubenwagen sitzend, auf einer Gummipuppe kaute, sah ihr zu, wie sie mit dem Staubsauger über die Auslegeware fuhr, und beim Entstauben der Bücher im Gelben Salon stieß Heidi auf alte Hefter aus ihrer Studienzeit und Brechts „Lied von der Kapitulation“. Es war bitter, aber sie musste lachen, wenn sie daran dachte, dass sie ihre Staatsexamensarbeit über das Weltbild Hölderlins und die tatenarmen, gedankenschweren Deutschen geschrieben hatte.

      Warum habe ich eigentlich studiert, fragte sie sich, wenn ich in diesem Dorf rumhänge und nur sechs Stunden Englisch in der Woche geben kann? Wehmütig griff sie nach den Briefen mit den gutgemeinten Ratschlägen, die ihre Mutter ihr gab. Sie probierte die vorgeschlagenen Kochrezepte aus und achtete peinlichst genau darauf, dass das Mittagessen pünktlich auf dem Tisch stand, wenn Wolfgang aus der Schule kam.

      Wenn Henry schrie, sah sie besorgt nach ihm. Sie griff nach den Windeln und weichte sie im Windeltopf ein. Nachdem sie Henry frisch gewickelt hatte, gab sie ihm die Flasche.

      Als die ersten Herbststürme kamen, Regen gegen die Scheiben klatschte, wurde Heidi von einem gewaltigen Stimmungstief heimgesucht. Ihr missfiel alles, und Wolfgang gelang es nicht, sie zu trösten.