Die Kunst ist das Einzige, was bleibt. Sinda Dimroth

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Название Die Kunst ist das Einzige, was bleibt
Автор произведения Sinda Dimroth
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783957801944



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      Als Demonstration gegen die rein verstandesmäßige Haltung der Aufklärung, entfesselte die Literatur von Sturm und Drang einen Gefühlsüberschwang, der sich eine innige, umfassende und einfühlende Nähe zur Natur ersehnte. Der Stimme seines Herzens folgend suchte und fand Bode ein Grundstück am Steinhuder Meer, das er 1911 kaufte. Der naturbelassene Flecken Erde hatte einen schwankenden Untergrund und war mit Schilf zugewachsen. Viele Ladungen Kies, Erde und Sand wurden mit Pferdefuhrwerken angekarrt und in den Sumpf geschüttet, bis man ein Holzhaus auf Pfählen errichten konnte. Das Häuschen hatte eine große überdachte Veranda mit Sitzplatz und ein Wohnzimmer mit Blick aufs Wasser. Es gab eine Küche und zwei Schlafzimmer. Das Trinkwasser wurde vor der Küchentüre mit einer Pumpe aus dem Boden gesaugt. Wenn die Bodes im Frühjahr das erste Mal in ihr Feriendomizil kamen, holten sie die Matratzen auf einem Bollerwagen aus dem Dorf. Über den Winter kamen die Bettsachen zum Bauern, um nicht feucht oder von Mäusen zerfressen zu werden. Die Wände waren himmelblau getäfelt und unter der Decke schwebte eine ausgestopfte graue Möwe mit harten Kulleraugen und weitgespannten Flügeln. Das Licht kam von einer Petroleumlampe. In den Zimmern roch es immer ein wenig moderig, deshalb standen die Fenster und Türen meistens offen und Julia hatte große Angst davor, dass eines ihrer Kinder ins Wasser fallen und ertrinken könnte.

      In Steinhude war alles auf den Wassersport eingestellt. Auf dem Dachboden hingen die Segel an Flaschenzügen und das Segelzubehör befand sich in einer blauen Holzkiste. Ein kleines Ruderboot lag umgedreht am Ufer, mit diesem stakte der Vater zu seinem Segelschiff, welches außerhalb des Schilfgürtels an einer Boje vertäut war. Im Boot stehend, mähte er jedes Wochenende eine Schneise bis ins tiefe Wasser, dabei stöberte er Enten, Taucher und Vögel auf, die vor dem Eindringling auf der Flucht waren. Die Mädchen liefen barfuß, sie hatten weiße Kleider an und ihre langen Haare waren jeweils mit einer farbigen Schleife zusammengebunden. Die drei wurden in eine strenge Zucht genommen, im täglichen Wechsel hatten sie Bootsdienst, Gartendienst oder Küchendienst, den sie am wenigsten mochten. In den Herbstferien spielten die zahlreichen Kinder der Strandhausreihe Verstecken mit Anschlag, dabei fiel regelmäßig einer von ihnen ins Wasser.

      Die Fischer standen in ihren schwarzen Torfkähnen, die sie mit langen Stangen oder mit einem rechteckigen Segel vorwärts bewegten.

      An einem sonnigen Herbsttag entdeckte Julia das Fischerboot in der Ferne und signalisierte der Besatzung mit beiden Armen zuwinkend, dass sie an Land kommen sollten. Als das Schiff näher kam, sah man, dass die Männer lange geschwungene Meerschaumpfeifen im Mund hatten, aus denen es ordentlich qualmte. Sie stakten an den Steg und brachten einen Eimer mit Aalen an Land. Die Kinder schauten sich das Gewimmel der schlangenartigen Körper an, dabei stieß Maria den Eimer um. Die ganze Brut verkroch sich eilig unter dem Haus, welches auf Pfählen stand. Bode legte sich auf den Bauch und griff nach dem glitschigen Gewürm, während die Mädchen schreiend vor Aufregung um ihn herum hüpften. Er erwischte zwei lange Aale und stand auf, um sie zurück in den Eimer zu geben, dabei meinte er lachend: »Ich fühle mich wie Laokoon, der mit den Schlangen kämpft.«

      Julia kaufte zwei Aale, daraufhin bestiegen die Männer ihren Kahn und segelten, eine nach Tabak duftende Rauchwolke hinter sich herziehend, davon. Hermann formte mit Zeigefingern und Daumen ein Rechteck und sagte: »Das gäbe ein wundervolles Bild, Elsa, hol schnell den Fotoapparat.« Er arrangierte Julia und die drei Mädchen auf dem umgedrehten Ruderboot, der Wind zerzauste ihr Haar, während im Hintergrund die untergehende Sonne den silbrigen See in ein rötliches Licht tauchte. Die bildliche Wiedergabe von Sommer, Sonne, Kindheit und See wurde zur Allegorie für die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Der Vater ließ das Bild vergrößern und hängte es in seiner Praxis auf.

      Im Hochsommer verbrachte die Familie so manche Nacht mit der Beobachtung des Sternenhimmels, der sich tiefblau bis zum Horizont über den See wölbte. Eingewickelt in ihre Kamelhaardecken, lag sie in Liegestühlen und blickte bei völliger Dunkelheit in Richtung Nord-Osten. Dem ausgestreckten Zeigefinger des Vaters folgend, suchten die Mädchen neben der Kassiopeia das Sternbild des Perseus und hörten ihn sagen: »In der ersten Augusthälfte kann man viele Meteoriten, die sogenannten Perseiden, beobachten. Die Erde kreuzt zu dieser Zeit die Bahn eines Kometen der Staub und Sand verliert, wenn er der Sonne nahekommt. Diese Teilchen bringen die Luftmoleküle zum Leuchten und verglühen in der Erdatmosphäre, deshalb sieht man einen Funken, den man Sternschnuppe nennt. Von alters her kann man sich bei jeder Sternschnuppe etwas wünschen.« Bode legte eine große Sternenkarte in die Wiese und leuchtete mit der Taschenlampe auf einzelne Sternbilder, die seine Töchter am Himmel suchen sollten. Er schickte ihre Gedanken auf eine lange Reise hinaus ins All: »Die Milchstraße ist die Galaxie, in der sich unser Sonnensystem mit der Erde befindet. Der Blick in den gestirnten Himmel ist immer ein Blick zurück in die Vergangenheit. Das Licht der allernächsten Sterne braucht Lichtjahre, bis es bei uns ankommt, und einige sind längst erloschen, wenn wir sie sehen.« Es wurde geflüstert, so beeindruckend war der unendliche Raum, in dem sich die Erde mit ihren Bewohnern um die Sonne drehte. Der Vater raunte: »Wenn in der Zukunft euer Gemüt von Kummer und Sorgen getrübt wird, dann sollt ihr am nächtlichen Himmel acht Sterne suchen, beim achten könnt ihr dem Weltraum den Auftrag erteilen, euer Problem zu übernehmen.«

      Manchmal schlief Elsa in Julias Armen ein, dann nahm der Vater die Schlafende vorsichtig auf und brachte sie ins Haus. Nachdem auch die beiden größeren in ihren Kojen lagen, sagte Maria: »Der Weltraum ist mir unheimlich, ich stelle mir vor, wie die Erdkugel mit all den Menschen durch den luftleeren Raum rast, bis sie eines Tages mit einem Meteoriten zusammenstößt und wie ein Luftballon zerplatzt.« Bode setzte sich auf einen Hocker, um seine Tochter mit der langen Geschichte der Astronomie zu beruhigen: »Seit Jahrtausenden blicken die Menschen in den Himmel, in dem sie ihre Götter vermuten. Schon in Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, kannte man die Einteilung des Himmels in Tierkreiszeichen. Die Namen der Menschen sind verklungen, die Städte zu Staub zerfallen und da wo einst Felder und Gärten erblühten, ziehen heute Nomaden mit ihren Tieren durch die Wüste. Die Ägypter und später die Griechen gaben den Sternen Namen und dachten sich anhand der Mondphasen und des Sonnenjahres den Kalender aus. Wir sind nur ein Sandkorn im großen Getriebe des Weltalls, das sich ohne unser Zutun stetig weiter bewegt, du kannst getrost deine Augen schließen.«

      Als die Sommerferien vorbei waren, kam Mary zu Besuch und die ganze Familie versammelte sich an dem alten Eichentisch, um zu hören, was die Tänzerin zu berichten hatte. Julia machte mit Hackfleisch gefüllte Pfannkuchenröllchen, dazu servierte sie einen Rapunzelsalat, während Hermann zur Feier des Tages eine Flasche »Moseltröpfchen« aus dem Keller holte. Mary warf ihre schwarzen Haare zurück und erzählte: »Wie ihr wisst, besuche ich die Tanzschule von Rudolf Laban. Wir wohnen in kleinen Hütten auf dem Monte Verita, einem verwilderten Grundstück über dem Lago Maggiore. Da hat sich eine Künstlerkolonie zusammengefunden, die im Garten Gemüse anbaut und sich vegetarisch ernährt. Bei Hitze tragen wir keine Kleider und tanzen in der Natur, mit dem Sonnenuntergang als Hintergrund. Laban ist ein außergewöhnlicher Lehrer. Er veranstaltet Vorführabende für Freunde, habt ihr keine Lust eure Sommerferien im Tessin zu verbringen?«

      Bode meinte: »Das ist mit den Kindern nicht zu machen, vielleicht komme ich alleine nach Askona.«

      Julia nickte und Mary fuhr fort: »Aus Zürich kommen Künstler zu Besuch, die sich Dadaisten nennen. Ich habe Tristan Tzara und Hugo Ball kennengelernt, die haben Lautgedichte vorgetragen, und mit Sophie Taeuber und Hans Arp habe ich mich angefreundet. Die Dadaisten wollen rücksichtslos Unbekanntes erproben, die Zerstörung des Sinnzusammenhangs im Kunstwerk entspricht jedoch nicht meiner Vorstellung von Kunst.«

      Mary holte eine Zeitung aus ihrem Mantel. »Der Künstler Marinetti hat ein futuristisches Manifest veröffentlicht, das uns sehr beschäftigt. Die Übersetzung lese ich euch vor:

       »Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese Hygiene der Welt, die schönen Ideen für die man stirbt und die Verachtung des Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und jegliche Akademien zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und die Feigheit kämpfen, welche auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruhen. Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen das Land von den unzähligen Museen befreien, die es wie Friedhöfe über und über bedecken. Museen sind öffentliche Schlafsäle,