Der Frühlingsschläfer. Friederike Gahm

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Название Der Frühlingsschläfer
Автор произведения Friederike Gahm
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347079724



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ausschließlich nach dem Geschmack richten, ohne zu einem bezahlbaren Kompromiss gezwungen zu werden, man konnte solchen Freiraum bewusst und mit Verstand genießen, ohne zum gelangweilten Nimmersatt zu werden. Es kam nur auf die Intelligenz an. Maßhalten ist immer nur eine Frage der Intelligenz.

      Norbert erschien mir plötzlich nicht mehr so indiskutabel wie zu Anfang. Der Ring an seinem Finger war schließlich nicht festgewachsen, und ordentliche Anzüge gab es in jedem Herrengeschäft zu kaufen. Bei Lichte besehen hatte er sogar einen entscheidenden Vorteil: Ich würde mit Sicherheit keine Gefahr laufen, mich in ihn zu verlieben. Ich setzte ein Lächeln auf, das das altmodische Adjektiv liebreizend erfüllen sollte, und machte Samtaugen. Nach Norberts Miene zu urteilen, gelang mir beides. Er tat mir fast ein bisschen Leid. Jetzt hätte ich gern etwas mehr von der Mosel gehört und sogar von ihm, aber leider kam Klaus in diesem Moment zurück und ließ sich zufrieden in einen Sessel fallen. Na, Norbert, meinte er, die Damenwelt hängt offensichtlich an deinen Lippen. Als Alleinunterhalter hast du jetzt bestimmt Hunger. Keine Sorge, das Essen steht fertig im Ofen. Gisela brachte eine Flasche Wein und bestand darauf, dass wir alle miteinander anstoßen sollten. Wir ließen die Gläser klingen. Sie schien mir inzwischen freundlicher gesonnen, jedenfalls hatte sie ihren Musterungsprozess abgeschlossen und fragte, wie ich Mainz fände. Ich hatte von der Stadt noch so gut wie nichts gesehen, nur als Begrüßung das angestrahlte Kurfürstenschloss von der Rheinbrücke aus. Durch die Beleuchtung schien die Silhouette aus purem Gold zu sein - ein wahrer Bilderbuchanblick, den ich mit gutem Gewissen würdigen konnte, ohne nur höflich zu sein. Wir unterhielten uns über dies und das, wurden alle langsam etwas vertrauter miteinander. Klaus klopfte an sein Glas. Meine Damen und Herren, der Abend ist offiziell eröffnet, verkündete er mit der hochoffiziellen Miene eines Zeremonienmeisters. Darf ich die verehrten Herrschaften zu Tisch bitten? Damit zog er einen Vorhang auf, der bisher die Essecke vom Wohnzimmer abgeteilt hatte.

      Als wir mit dem Essen anfingen, war es schon kurz vor neun. Wir hatten alle Hunger. Zuerst kam eine selbstgemachte Zwiebelsuppe auf den Tisch, mustergültig überbacken, dann gab es Filetgulasch in exotischer Soße mit Reis, dazu mehrere Salate. Zum Schluss brachte Klaus ein riesiges Käsebrett und entkorkte eine Flasche französischen Rotwein. Meine Lobeshymnen waren ohne jegliche Heuchelei; die Gastgeber hatten weder Kosten noch Mühe gescheut, und das Essen war wirklich gelungen. Natürlich zog es sich entsprechend in die Länge, zumal irgend jemand das Thema Politik angeschnitten hatte und wir sofort in einen hitzigen Disput verfielen. Klaus und Gisela vertraten die Linke, Norbert erwies sich als stark konservativ, ich hingegen bemühte mich, die Fahne der Liberalen hochzuhalten. Erst beim Käse wurden wir kompromissbereiter, denn zum vollen Magen gesellt sich meistens auch eine wohlige Trägheit. Beim Kaffee blickte ich zufällig auf meine Uhr und stellte erstaunt fest, dass vom alten Jahr nur noch eine halbe Stunde übrig war. Wir nutzten diese Zeit zum Tischabdecken und Aufräumen, entwickelten sogar plötzlich eine ziemliche Betriebsamkeit, um bis zwölf Uhr fertig zu sein. Wir schafften es. Fünf Minuten vorher herrschte Ordnung, der Vorhang zur Essnische wurde zugezogen, und wir saßen wieder im Wohnzimmer. Niemand war mehr müde. Klaus schaltete das Radio an. Der Countdown lief bereits, dann kam der Gong. Mitternacht! Offensichtlich war es doch möglich, Silvester ohne Warten zu verbringen.

      Wir prosteten uns mit Sekt zu und wünschten einander ein glückliches neues Jahr. Norbert nutzte die Gelegenheit, um mir einen Kuss zu geben. Kein Kribbeln, nichts Aufregendes, gar nichts! Ich dachte an ein albernes Teenager-Verslein: Der Kuss ist der Ausdruck eines Eindrucks durch Aufdruck mit Nachdruck, und erwiderte ihn automatisch. Nach dem Anstoßen gingen wir vor die Tür - Ablaufschema der vergangenen Silvesterfeiern, auch der letzten. Ich zuckte zusammen. Das Nibelungenlied fiel mir ein. Ich han aus alten mären.…, begann eine Stimme in mir herunterzuleiern. Drachenblut, dachte ich, Drachenblut. Norbert fragte, an was denkst du? Ich lächelte ihn an. An Silvester; an Silvester und an Drachenblut, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Meine Antwort erheiterte ihn. Ich wusste nicht, warum.

      Die Nacht war wunderbar klar. Ich war verliebt in den Sternenhimmel, meine einzige beständige Liebe. Eigentlich war es unter diesem Himmel nicht wichtig, ein bestimmtes Zuhause zu haben. Zuhause - eine Hilfskonstruktion für die, denen die Unendlichkeit zu groß ist? War sie für mich auch zu groß? Im Moment konnte ich verneinen, aber wie oft würde ich mit einem kläglichen Ja antworten? Norbert legte den Arm um mich. Du siehst so träumerisch aus, sagte er. Ich beendete mit Bedauern meinen geistigen Höhenflug und bemühte mich, ein nüchternes Gesicht zu ziehen. Ich träume nie, behauptete ich kühn, ich bin nur ein bisschen müde. Kleine Realistin, neckte Norbert und zog mich am Haar. Und klein bin ich schon gar nicht, fuhr ich streitlustig fort, denn wenn ich mich ertappt fühle, erwacht sofort mein Kampfgeist. Du hast noch fast gar nichts von dir erzählt, flüsterte er, und dabei möchte ich gern alles von dir wissen. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht, konterte ich bewusst flapsig. Norbert lachte. Ich konnte an meiner Äußerung nichts Komisches finden. Die Wahrheit ist selten komisch.

      Peng, machte der Knallfrosch, den Klaus angezündet hatte. Hui, widersprach zischend eine Leuchtrakete etwas weiter entfernt und endete mit lauten Krach, bevor sie endlich ihren Goldregen freigab. Klaus hatte sich auf Knallfrösche spezialisiert. Peng, peng, peng, beharrten sie rechthaberisch auf ihrer Meinung, obwohl sie nur armselig am Boden herumhüpften und nicht einmal zum Himmel aufsteigen konnten. Einer sprang wütend gegen einen geparkten Audi. Peng! Bitte nicht ausgerechnet an mein Auto schießen, rief Norbert zu Klaus hinüber. Aha, registrierte ich, das ist also sein Auto. Es schien hell zu sein. Die genaue Farbe konnte ich im Dunkeln nicht ausmachen. Es sah ziemlich neu aus, und ich fand es recht groß für einen frischgebackenen Mediziner. Wahrscheinlich hatte der Vater etwas locker gemacht. Meine Vorstellungen von einem wohlsituierten Elternhaus festigten sich.

      Wir gingen wieder hinein. Die plötzliche Wärme machte träge und unsere Unterhaltung schleppte sich mühsam dahin. Nach den paar Stunden kannte man sich noch nicht gut genug, um miteinander schweigen zu können. Wir redeten Belangloses. Klaus, der vollkommene Gastgeber, hatte dieses Tief einkalkuliert und versuchte, uns durch ein vorbereitetes Quiz aufzumuntern. Es ging um Fremdworte. Ich kramte hilfesuchend in meinem Schullatein und kam ganz gut über die Hürden. Gisela gab vor, bei Pleonasmus passen zu müssen. Wahrscheinlich wollte sie die Endrunde Norbert und mir überlassen. Großes Gelächter bei Stalagmiten und Stalaktiten. Die Eselsbrücke war offensichtlich allen bekannt. Bei Staphyle war ich ratlos und gab auf. Norbert wusste auch hier weiter. Das Zäpfchen im Hals, sagte er. Mit großem Applaus kürten wir ihn zum Fremdwort-Ass des Abends. Klaus improvisierte einen Tusch und überreichte dem Sieger drei Marzipanschweinchen als Trophäe. Norbert verbeugte sich nach allen Seiten nahm die Auszeichnung in Empfang, bestand aber darauf, den Preis mit dem zweiten Sieger zu teilen. Gisela brachte ein Küchenmesser. Erbarmungslos schnitt Norbert das mittlere Marzipanschweinchen der Länge nach durch. Drei Glücksschweine sagte er und sah mir in die Augen, das ist genug Glück für uns beide. Mir fiel auf, dass er uns gesagt hatte. Ich schwieg und biss in mein Marzipan, um das geteilte Schweinchen von seiner Halbheit zu erlösen.

      Das Telefon klingelte. Waltraud ließ ankündigen, dass meine Eltern gleich kommen wollten, um mich abzuholen. Ich trank meinen Sekt aus. Deine Adresse! Norbert hielt mir sein Notizbuch hin, du musst mir noch deine Adresse aufschreiben. Während ich mich in das Büchlein eintrug, fragte er auf einmal sehr leise, ob ich schon einen Freund hätte. Ich sah auf. Warum, wollte ich wissen. Weil ich dich sehr mag, antwortete er. Nein, sagte ich endlich und bemühte mich um einen unverbindlichen Tonfall, ich habe keinen Freund. Norbert sah erleichtert aus. Darf ich dich einmal in Tübingen besuchen, erkundigte er sich sofort. Ich konnte mir denken, wie er ein Ja auslegen würde. Ich konnte mir auch denken, dass ich Hoffnungen wecken und vielleicht wieder zerstören würde. Ich wusste es sogar. Das abweisende Tübingen tauchte vor mir auf. Mein Zögern war nur kurz, zu kurz, um bemerkt zu werden. Ich nickte wortlos und schrieb ihm zusätzlich die Telefonnummer meiner Wirtsleute auf. Ruf vorher an, bat ich ihn schon im Stehen und glaubte, meiner Zusage dadurch etwas von ihrer Endgültigkeit zu nehmen. Ich zog meinen Mantel an, bedankte mich bei Gisela und Klaus für die viele Mühe, die sie sich gemacht hatten. Es war mein schönstes Silvester, sagte ich, ohne zu übertreiben. Man sah, dass sie sich darüber freuten. Norbert bestand darauf, mich nach draußen zu begleiten. Ich wollte mich allein von dir verabschieden, flüsterte er vor der Tür und küsste mich. Ich küsste ihn zurück. Im Schein der Hauslaterne sah ich, wie er strahlte. Wenn er sich nur