Der Frühlingsschläfer. Friederike Gahm

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Название Der Frühlingsschläfer
Автор произведения Friederike Gahm
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347079724



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in meinem dünnen Kleid und stellte fest, dass das fremde Mädchen wieder verschwunden war. Es war weg. Da standen nur Walter, Bernd, Ulrike, an Thomas gekuschelt, und ich. Das war alles. Die Nacht war immer noch ungewöhnlich dunkel. Ob es noch Sterne gab; wo war mein Freund, der Mond? Vereinzelte Feuerwerkskörper knallten, ein bisschen buntes Licht, dann wieder die Dunkelheit. Wir gingen nach drinnen zurück. Ich sonderte mich von den anderen ab, ging in die Toilette und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah mich lächeln. Ich sah mir in die Augen; es waren tatsächlich meine großen, graublauen Augen. Sie blickten unbeteiligt zurück. Ich wartete auf Tränen; es kamen keine. Da zog ich mir die Lippen nach und ging wieder ins Restaurant.

      Walter war gerade damit beschäftigt, die Schleife von seinem Päckchen zu reißen. Natürlich war er zu ungeduldig, um sie ordentlich aufzuknoten. Er rollte das Papier auf. Der Talisman fiel auf den Tisch. Walter nahm ihn in die Hand. Ein Elefant, sagte er, hübsch! Hat er irgendeine besondere Bedeutung? Nein, erwiderte ich schnell, nein, er hat mir nur gefallen. Hübsch, wiederholte Walter, und legte den Jadeelefanten zwischen die Papierabfälle. Er wirkte sehr klein, ein kleiner, nackter Elefant. Er würde dort liegen bleiben und mit dem Papier im Müll enden oder herunterfallen und dabei auf dem Steinboden zerbrechen, denn er war fragil gearbeitet. Er tat mir Leid.

      Eine zweite Flasche Sekt wurde gebracht. Alle waren jetzt sehr angeregt, auch der Mann, der neben mir saß. Ich beteiligte mich lebhaft an der Konversation. Mein Gott, sagte Thomas, du bist ja auf einmal eine richtige Stimmungskanone! Ich lachte laut und erzählte einen schlüpfrigen Witz, weil ich solche Witze nicht mag. Thomas wusste auch einen. Ulrike lächelte säuerlich. Dem Mann neben mir fiel ebenfalls ein passender Beitrag ein. Erneutes Gelächter. Wir waren der lustigste Tisch im Lokal. Der Mann neben mir war in Hochform. Er hatte drahtige, rötlichblonde Haare und Sommersprossen. Seine Augen wirkten wässrig und wimpernlos. Ich fand ihn hässlich. Der Mann neben mir hatte den Vornamen Walter - wie der mittelalterliche Dichter und Sänger - nur ohne h.

      Gegen zwei Uhr brachen wir auf. Ausgiebige Verabschiedung, Händeschütteln, dann stiegen wir in die Autos. Die Türen schlugen zu. Walter war immer noch sehr aufgeräumt. Das war ein richtig netter Abend, sagte er. Ich glaube, den drei neuen Westbürgern hat es auch gefallen. Und das Essen war doch toll, oder? Ja, antwortete ich, sehr toll, alles sehr toll. Walter verfiel in einen längeren Monolog, ich sah aus dem Fenster. Häuser zogen vorbei, nur wenige Fenster waren noch erleuchtet. Dann eine Allee, in wohltuender Monotonie, Pappeln rechts, Pappeln links, dann wieder ein paar Häuser. Ich sah weiter aus dem Fenster und merkte, wie ich Hass empfand. Nicht dass ich Walter gehasst hätte; mein Gefühl für ihn war einfach in nichts umgeschlagen. Ich wusste nicht einmal genau, wann, aber er war mir seit diesem Moment so gleichgültig, wie einem ein Mensch gleichgültig sein kann. Nein, ihm gegenüber konnte ich keinen Hass spüren. Ich hasste mich, hasste mich für meine kindische Verliebtheit, für meine romantischen Scheuklappen, für meine schafsgleiche Duldsamkeit, und vor allem hasste ich mich, weil es jemand geschafft hatte, mich zu demütigen. Ich überlegte, wie ich noch bis zum Abitur fast täglich den Anblick eines Mannes ertragen sollte, der mich jedes Mal, ohne es zu ahnen, an diese Niederlage erinnern würde. Wie viele Deutschstunden musste man in drei Monaten absolvieren? Wie oft würde man seiner Erinnerung in der Pause über den Weg laufen? Stumm versprach ich dem ersten Stern, den ich in dieser Nacht erblickte, mich nie wieder zu verlieben, nie wieder verwundbar zu sein. Jedes Mal, wenn ich Walter sehen würde, wollte ich in Drachenblut baden und alle Lindenblätter sorgfältig aus meiner Nähe schaffen. Ich dachte, dass man nicht Minnelyrik auswendig lernen musste, sondern das Nibelungenlied. Ich han aus alten mären wunders viel geseit… Als wir vor der Wohnung meiner Eltern ankamen, verabschiedete ich mich höflich-kühl und bedankte mich für den schönen Abend. Es klang nicht einmal ironisch.

       3

      Sagenhaft, meldet sich mein Alter Ego zu Wort, sagenhaft, wie du vom Thema ablenken kannst. Darf ich mir trotzdem die Frage erlauben, was diese Reminiszenzen sollen? Ich bin ehrlich empört. Du hast doch von Silvester angefangen, verteidige ich mich. Mein Alter Ego schüttelt verärgert den Kopf. Ich habe Norbert und Silvester erwähnt, sagt es. Von Walter war nie die Rede. Erlaube mal, protestiere ich, da besteht doch ein unmittelbarer Zusammenhang. Du kannst nicht ernstlich behaupten, das eine Silvester hätte mit dem zweiten nichts zu tun. Es war doch geradezu Voraussetzung. Das eine Silvester ist immer Voraussetzung für das nächste, bemerkt mein Alter Ego spöttisch. Unsinn, kontere ich, du weißt ganz genau, dass ich das nicht zeitlich, sondern inhaltlich meine. Ohne die Ereignisse des ersten Silvesters, wäre das zweite und vor allem seine Folgen so nie eingetreten. Ach so, entgegnet es mir gedehnt, du stellst also gerade logische Abhängigkeiten fest. Wenn ich recht verstehe, soll das heißen, du hättest nicht getreten, wenn du nicht zuvor getreten worden wärest? Genau so ist es, stimme ich zu. Sehr interessant, mein Alter Ego klingt zynisch. Du hast wohl soeben ein neues Naturgesetz entdeckt: Tritte bewirken Gegentritte - eine moralische Variante des physikalischen Grundsatzes actio et reactio. Soll ich Beifall klatschen? Plötzlich wird sein Tonfall schneidend. Du hast einiges übersehen bei deiner Scheinlogik. Erstens muss niemand einen erhaltenen Tritt wieder austeilen, zweitens darf er nicht jemanden treten, der ihm nichts getan hat, und drittens ist es völlig unzulässig, zehn Tritte für einen erlittenen austeilen zu wollen. Reicht das, um deine vermeintliche Kausalität zu widerlegen, fragt es, immer noch sehr erbost. Ich fühle mich zu Unrecht angegriffen und wende ein, dass ich mein Verhalten keinesfalls entschuldigen, sondern nur erklären wollte. Mein Alter Ego zeigt sich nicht im geringsten beeindruckt. Alles Erklärbare ist entschuldbar. Wer erklärt, heischt nach Verständnis, und Verständnis ist Entschuldigung, fährt es ungerührt fort. Sei also wenigstens ehrlich! Ich denke nach und kann nicht von der Hand weisen, dass Erklärung und Entschuldigung grundsätzlich viel miteinander zu tun haben. Trotzdem, beharre ich, will ich in diesem konkreten Fall mit der Erklärung keine Entschuldigung herbeiführen, sondern nur eine objektive Beurteilung meines Verhaltens ermöglichen. Sonst entstünde ja ein völlig verzerrtes Bild. Mein Alter Ego seufzt. Natürlich, schnauft es, nur eine objektive Beurteilung, die bei jedem Menschen auf Verständnis stoßen wird, und schon sind wir wieder bei der Entschuldigung. Ich bin ziemlich zermürbt von dem Hin und Her. Bei wem sollte ich mich denn entschuldigen wollen, stoße ich ratlos hervor. Vielleicht erinnerst du dich doch lieber einmal an das richtige Silvester, schlägt mein Alter Ego etwas besänftigt vor.

      Das richtige Silvester war genau ein Jahr später. Abgesehen von meiner mittlerweile chronischen Silvesterabneigung, stand es auch sonst unter ungünstigen Vorzeichen. Ich war aus meinem Elternhaus ausgezogen, um in Tübingen mit dem Jurastudium anzufangen. Nicht nur das provinzielle Tübingen war eine herbe Enttäuschung, auch das Studium lief nicht so an, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir waren über tausend Studenten im ersten Semester, ich kannte kaum jemanden in dieser anonymen Masse und fühlte mich entsprechend fremd. Zu allem Unglück hatte ich mir in der ersten bürgerrechtlichen Klausur ein „Mangelhaft“ eingehandelt, das ich noch nicht verdaut hatte. Bisher hatte ich mit Fünfern wenig Bekanntschaft gemacht und fühlte mich in meiner Eitelkeit gekränkt. Misserfolg will gelernt sein, besonders wenn man ihn als ungerecht empfindet. Mir blieb unklar, was ich falsch gemacht haben sollte; es schien in diesem sonderbaren Fach weder ein Richtig noch ein Falsch zu geben. Unzureichende Begründung, stand unter meiner Arbeit, obwohl ich mich acht DIN-A4-Seiten darin versucht hatte. Der knappe Kommentar war niederschmetternd und genauso aussagekräftig wie gar keiner. Alles schien gegen mich zu sein in dieser engen, unzugänglichen Stadt. Tübingen wollte mich nicht. Ich suchte das Tor, durch das ich Einlass finden würde, ohne zu wissen, wo ich mit meiner Suche anfangen sollte.

      Froh, dieser unbequemen Situation über Weihnachten zu entrinnen, fuhr ich zu meinen Eltern, die inzwischen in eine andere Stadt gezogen waren. Aber dort wartete die nächste Enttäuschung. Das neue Elternhaus zeigte kein vertrautes Gesicht; es war fremd. Zwar hatte ich nach wie vor ein eigenes Zimmer, zwar standen dort auch meine früheren Möbel, aber es war nicht mein Zimmer. Auch als ich meinen umfangreichen Kleinkram ausgepackt und eingeräumt, als der Teddybär wieder gutmütig-dick auf dem Bett thronte, änderte sich nichts daran. Der neue Raum war nicht mein Zimmer. Er war viel kleiner als mein Zimmer, bei weitem nicht so sonnig und wirkte mit seiner weißen Raufasertapete nüchtern und sachlich.

      Es ist nicht verwunderlich, dass auch Weihnachten unter diesen Umständen sehr zu wünschen übrig ließ. Wenigstens