Der Frühlingsschläfer. Friederike Gahm

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Название Der Frühlingsschläfer
Автор произведения Friederike Gahm
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347079724



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ich viel zu früh fertig und sortierte immer wieder den Inhalt meiner Handtasche im Kampf gegen die letzte halbe Stunde. Sie verstrich langsam, aber sie ging vorbei. Und dann war es wirklich Zeit aufzubrechen. Endlich. Ich verabschiedete mich von meinen Eltern unter sehr vagen Andeutungen, wann mit meiner Rückkehr zu rechnen sei. Mein Vater, normalerweise in diesem Punkt auf größte Genauigkeit bedacht, zeigte sich ungewohnt großzügig - es war ja Silvester.

      Draußen schlug mir ein nasskalter Wind ins Gesicht, aber es regnete nicht mehr. Wir hatten uns in Walters Wohnung verabredet, denn er hielt es für zu riskant, mit dem Auto in der Nähe meines elterlichen Domizils, sozusagen vor der Höhle des Löwen, zu warten. Ich sah das natürlich ein, wie ich alles einsah, was Walter sagte. Sicherheitshalber machte ich sogar einen Umweg, ging ein Stückchen in Richtung Straßenbahnhaltestelle, schlug erst an der nächsten Ecke einen Haken und eilte meinem eigentlichen Ziel entgegen. Walter wohnte in einem abgelegenen, kleinen Nachbarvorort, zu dem es keine öffentliche Verkehrsverbindung gab. Das bedeutete für mich eine reichliche halbe Stunde Fußweg, denn an ein Taxi war nach Anschaffung der teuren Strumpfhose nicht zu denken. Obwohl ich sehr schnell ging, fast rannte, kroch die Kälte schon nach kurzer Zeit in mir hoch. Meine dünnen Lackschuhe bestanden aus vielen kunstvoll verschlungenen Riemchen, waren sehr elegant und für das Waschküchenwetter denkbar ungeeignet. Auch der Hauch von einer Strumpfhose war nicht als Bekleidung für einen Winterspaziergang gedacht. Die Zehen wurden erst feucht, dann steif, und an meinen Beinen piksten unzählige kleine Nadeln.

      Die Nacht war dunkel; Sterne und Mond versteckten sich hinter einer beinahe lückenlosen Wolkendecke. Ich war froh, dass die schlecht beleuchtete Landstraße wenigstens einen asphaltierten Fußweg hatte, sonst wäre ich wesentlich langsamer vorangekommen. Unterwegs begegnete ich niemandem. Nur wenige Autos fuhren vorbei. Eines hielt sogar an, und ein älterer Herr fragte, ob er mich irgendwohin mitnehmen könnte. Er schaute mitleidig-verwundert auf meine Schuhe, meinte es wohl gut, aber angesichts der Einsamkeit war mir seine Hilfsbereitschaft suspekt. Ich bekam es mit der Angst zu tun, lehnte das Angebot hastig ab. Er schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was meine Eltern sagen würden, wenn sie mich bei meiner abendlichen Wanderung sähen, und setzte meinen Weg unverdrossen fort. Endlich sah ich die Lichter des nächsten Ortes, noch weitere fünf Minuten, und ich stand vor Walters Wohnungstür. Bevor ich auf den Klingelknopf drückte, brachte ich meine Haare so weit in Ordnung, wie das mit steif gefrorenen Fingern möglich ist. Dann erst klingelte ich.

      Walters Begrüßung fiel lauwarm aus. Er nahm kaum Notiz von mir, bot mir endlich einen Whisky an. Ich nahm ihn pur, um mich aufzuwärmen und um eine gewisse Niedergeschlagenheit zu bekämpfen, die mich plötzlich befallen hatte. Da saß ich nun in einer Sofaecke, hatte nicht einmal einen Begrüßungskuss bekommen, nippte an meinem Whisky, dachte an Minnelyrik und hatte nur eine dünne Zigarette, um mich daran festzuhalten. Walter plauderte vor sich hin, erzählte von dem Lokal, wo wir gleich hinfahren würden - ein verschwiegenes, kleines Landhaus, wo keine bekannten Gesichter zu befürchten waren. Es klang viel versprechend, sogar sehr viel versprechend. Langsam tauten meine Zehen und Finger auf; langsam wurde mir wohler; langsam kam sogar die Freude auf den Abend wieder. Plötzlich lachte Walter auf und berichtete, wie sich seine Geschwister über die sonderbare Wahl des Restaurants gewundert, aber angesichts seiner Lage volles Verständnis gezeigt hatten. Ich würgte schnell den Whisky hinunter, den ich gerade im Mund hatte, um mich nicht daran zu verschlucken. Diese rege Anteilnahme der Geschwister - ein Bruder und eine Schwester waren hin und wieder erwähnt worden - ließ wohl darauf schließen, dass sie an unserer Silvesterfeier teilhaben wollten. Mir verschlug es die Sprache. Ich wagte weder zu fragen, ob meine Folgerung richtig sei, noch mein Erstaunen über diesen neuen Aspekt zu zeigen, sondern war nur bemüht, meine Enttäuschung zu verstecken, sie zusammen mit einem besonders großen Schluck hinunterzuspülen. Auf einmal verbreitete der Whisky keine wohlige Wärme mehr, sondern brannte im Magen. Ich stellte fest, dass es eine ziemlich billige Sorte war.

      Walter merkte von alldem nichts; er suchte die Eintrittskarten. Er suchte immer irgendetwas, was mich nicht mehr wunderte, seit ich das Chaos in seiner Wohnung kennen gelernt hatte. Auf den wenigen Sitzgelegenheiten stapelten sich Bücher, unkorrigierte Hefte, Schallplatten; über der Sessellehne lümmelte eine Hose; der Tisch war von schmutzigem Geschirr, zwei randvollen Aschenbechern und mehreren Bananenschalen beansprucht; hinter einem wunderschönen alten Meißen Wandteller klemmten Kontoauszüge. Es sah genauso aus, wie man das von einem Junggesellen-Haushalt erwartet. Ich fand diese Unordnung genial, zog allerdings in meinen eigenen vier Wänden eine gewisse Systematik vor. Walter suchte immer noch, hatte mittlerweile das Badezimmer erfolglos abgegrast und dehnte seinen Aktionsradius auf die Küche aus. Er war viel zu beschäftigt, um mich zu beachten oder gar zu beobachten. Ein freudiger Ausruf nach geraumer Weile verriet, dass das Gesuchte endlich aufgetaucht war; es hatte in einer Küchenschublade gelegen. Wo war nun wieder das Jackett? Erneute Sucherei. Zu Walters großer Überraschung hing es ordentlich im Kleiderschrank; damit hatte er nicht gerechnet. Inzwischen war die Zeit nicht stehen geblieben. Walter, der Suchende, stellte es überrascht-entsetzt fest und trieb zur Eile. Er drückte mir meinen Mantel in die Hand, viel zu beschäftigt, um mir hineinhelfen zu können, weil er die Jagd nach Haus- und Zündschlüssel antreten musste. Nach weiteren hektischen fünf Minuten saßen wir endlich im Auto.

      Die Fahrt dauerte länger, als ich erwartet hatte. Walter bemühte sich, die Zeit, die er mit Suchen verbummelt hatte, wieder aufzuholen, und traktierte seinen alten Volkswagen auf das Äußerste. Obwohl ich diesen Fahrstil von ihm schon gewöhnt war, sträubten sich mir mehrfach die Haare, zumal er von der Senderwahl im Radio, der Suche nach einer vollen Zigarettenschachtel und sonstigen Nebensächlichkeiten wesentlich stärker in Anspruch genommen war als vom Straßenverkehr. Er redete ohne Unterlass, ohne etwas zu sagen, war von krampfhafter Munterkeit erfüllt, erzählte lebhaft von seinen Geschwistern. Mein Verdacht, dass in Kürze eine Familienfeier stattfinden würde, erhärtete sich drastisch. Offensichtlich sollte ich vorab in groben Zügen in die Familienverhältnisse eingeweiht werden. Walter berichtete von den Anfangsschwierigkeiten seines Schwagers im Westen, von Arbeits- und Wohnungssuche, und mir fiel erst in diesem Zusammenhang wieder ein, dass alle gerade im Herbst über Prag aus der DDR gekommen waren: die Schwester mit Mann und einjährigem Kind, der Bruder ohne weiteren Anhang. Ich ertappte mich bei dem unfreundlichen Gedanken, dass ich Verwandte, die im Osten geblieben wären, vorgezogen hätte, erschrak fast im selben Moment pflichtschuldig über meinen Egoismus und bemühte mich, das Ganze positiv zu betrachten. Beim Anzünden einer Zigarette durchfuhr mich plötzlich eine ganz neue Idee, die mich so faszinierte, dass ich mir fast die Finger verbrannte. Vielleicht hatte Walter diese Familienversammlung initiiert, weil er gewisse ernste Absichten hegte und mich allen vorstellen wollte; vielleicht war er vorhin bei der Begrüßung so merkwürdig erschienen, weil er ganz einfach nervös war? Je länger ich über diese Erklärung nachdachte, desto plausibler erschien sie mir. Meine Gleichgültigkeit an den geschilderten deutsch-deutschen Problemen verwandelte sich schlagartig in rege Anteilnahme. Während ich mir noch sehr phantasiereiche Variationen über den weiteren Verlauf des Abends ausmalte, bogen wir auf den Parkplatz des Restaurants ein. Ah, sie sind schon da, sagte Walter und zeigte auf ein geparktes Auto. Ich war nun gar nicht mehr enttäuscht, dass sich mein Annahme tatsächlich bewahrheitete, sondern eher aufgeregt und sehr gespannt darauf, alle kennen zu lernen.

      An der Garderobe standen drei Personen, die den Eindruck machten, als wüssten sie nicht genau, wo sie hingehörten. Ihre Kleidung schien vom vorletzten Winterschlussverkauf zu stammen. Es konnte sich nur um die eben noch so unerwünschten Ostflüchtlinge handeln. Ich setzte mein herzlichstes Lächeln auf, um wortlos meine hässlichen Anfangsgedanken wieder wettzumachen. Der Bruder hieß Bernd, war einiges älter und etwa einen halben Kopf größer als Walter; seine Schwester Ulrike sah ihm ziemlich ähnlich, trug aber eine Brille, die ihre Augen überdimensional vergrößerte; Schwager Thomas schließlich wirkte trotz seiner schwarzen Haare genauso grau und linkisch, wie ich mir damals als echtes, arrogant-gedankenloses Wirtschaftswunderkind einen DDR-Bürger vorstellte. Alle drei redeten sehr sächsisch und waren offensichtlich erleichtert, dass Walter endlich da war, um die Tischbestellung zu regeln. Auch ich war erleichtert, denn ich fühlte mich in meiner Erwachsenenrolle noch ganz und gar nicht wohl, und die Unsicherheit der anderen ließ meine Selbstsicherheit beträchtlich wachsen. Verstohlen musterte ich die drei, fast enttäuscht, dass sie nicht exotischer aussahen. Alles östlich