Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier. Immanuel Birmelin

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Название Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier
Автор произведения Immanuel Birmelin
Жанр Биология
Серия
Издательство Биология
Год выпуска 0
isbn 9783833874413



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bei Primaten eingehend beschrieben. Nämlich das Phänomen, dass jede Beziehung ihre eigene Ausprägung hat und dass die Bindungen durchaus unterschiedliche Qualitäten haben.

      In der Frühphase menschlicher und tierlicher Entwicklung werden entscheidende Weichenstellungen für das spätere Leben vorgenommen. Und da sind wir bei der zweiten Hauptfragestellung – dem Anpassungswert –, nämlich nach den Funktionen eines Verhaltens. Das ist ganz zweifelsfrei die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben. Beim Menschen besteht die Vorbereitung darin, dass auf der Grundlage sicherer Beziehungen Informationen erworben werden können, die letztlich ein Zurechtfinden in der Welt ermöglichen.

      Wie gut oder wie schlecht sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt, ist von seiner sozialen Erfahrung abhängig. Das war eine der wichtigen Erkenntnisse von Bowlby und seiner Schülerin Ainsworth. Mithilfe der Bindungstheorie kann erklärt werden, warum emotionale Schmerzen wie Angst, Wut und Hass und auch spätere Persönlichkeitsstörungen wie Depression und emotionale Entfremdung durch elterliche Zurückweisung oder durch unfreiwillige Trennung oder den Verlust der Bindungsperson entstehen.

      Wichtig zu wissen

      Karin und Klaus Grossmann beschreiben in ihrem hervorragenden Buch »Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit« Langzeitstudien amerikanischer Wissenschaftler. (Quellennachweis, >)

      In einer der Studien untersuchten sie die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern im Alter von 18 Monaten bis ins Kindergartenalter aus Familien der Mittelschicht. Ergebnis: Aus sicheren Bindungen entwickelt sich kindliche Kompetenz, die sich im Kindergarten in angemessener Autonomie, Kooperationsbereitschaft, Wissbegier und einer guten emotionalen Organisation, zum Beispiel in ihrem Mitgefühl und in ihrer Frustrationstoleranz, zeigt.

      Die Forschungen führten zu einem besseren Verständnis in der Frage, welchen Einfluss die frühe Bindungsqualität zur Mutter auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hat. Sie zeigten, dass die Qualität der Mutterbindung die Grundlage für das Selbstwertgefühl des Kindes ist und wie diese Qualität seine Beziehung zu Gleichaltrigen und anderen Personen, denen es begegnet, beeinflusst.

      Unter natürlichen Bedingungen baut das Neugeborene eine Bindung zu seiner Mutter auf. Aber es gibt Situationen, in denen die Mutter nicht zugegen ist. Die Mutter ist beispielsweise schwer erkrankt. Glücklicherweise kann das Baby zu jeder Pflegeperson eine Bindung aufbauen, die beruhigend mit ihm umgeht, aktiv auf es eingeht und auf seine Signale verständnisvoll reagiert.

      Drahtattrappe statt Mutter

      Welche verheerenden Folgen das Fehlen einer Mutter-Kind-Bindung hat, konnte das Ehepaar Harlow im Tierexperiment zeigen. Heute würde man vermutlich solche Experimente nicht mehr durchführen, und ich muss gestehen, ich hätte es auch früher nicht gemacht. Aber die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich und unterstreichen, wie wichtig Bindungen im Säuglingsalter sind.

      Die Tiere, es waren Rhesusaffenjunge, wurden sofort nach der Geburt von der Mutter getrennt und in Anwesenheit von zwei Drahtpuppen als Mutterersatz aufgezogen. Bei einer der Puppen bestand der Rumpf aus einem weichen Wolltuch, bei der anderen aus einem Drahtgeflecht. Stellte man die Affenkinder vor die Wahl zwischen Drahtmutter und Wollmutter, entschieden sie sich immer für die Wollmutter, niemals für die Drahtmutter. Sogar dann, wenn man sie an der Drahtmutter durch eine Milchflasche anlocken wollte. Die Bindung des Affenkindes entsteht demnach nicht dadurch, dass das Junge durch Nahrung belohnt wurde. Es zog die weiche Wollmutter vor. Geborgenheit ist wichtiger als Nahrung.

      Die körperliche Entwicklung dieser Tiere verlief zunächst normal, und sie entwickelten sogar eine Art Anhänglichkeit an eine der Attrappen, die mit weichem Stoff überzogen war. Später stellten sich bei den mit Attrappen aufgezogenen Tieren allerdings schwere Entwicklungsschäden ein. Man spricht vom Deprivationssyndrom. Dieses Syndrom zeigt folgende Merkmale: Bewegungs-Stereotypien, allgemeine Bewegungsunruhe, aggressive Reaktionen, verbreitete Apathie, Ausreißen der Haare und viele weitere abnorme Verhaltensweisen.

      Die meisten Tiere paarten sich nicht mehr, diejenigen Weibchen, die sich paarten und Kinder bekamen, waren schlechte Mütter. Sie ließen ihre Kinder widerwillig saugen. Die Lernleistungen im Vergleich zu normal aufgewachsenen Tieren waren gering, ihr Erkundungs- und Spielverhalten war gestört.

      Wie wichtig ist der Partner?

      Jeden Morgen im Sommer fliegt eine wilde Graugänseschar in Grünau, Österreich, ein – genau wissend, dass es hier Futter gibt. Mensch und Vogel haben sich aneinander gewöhnt. Beim näheren Hinsehen bemerkt man dann, dass die Schar aus mehreren einzelnen Paaren besteht. Gans und Ganter. Ehepaare, könnte man sagen. Sie bleiben ein Leben lang zusammen, ziehen jedes Jahr gemeinsam Kinder groß und behaupten sich gegen andere Paare.

      Katharina Hirschenhauser, eine Wissenschaftlerin des Konrad-Lorenz-Instituts, untersucht das Verhalten und die Stresshormone, die Graugänse bei Trennung zeigen. Sie hat die unangenehme Aufgabe, die Frau von Ganter Max zu entführen. Die Wissenschaftlerin nähert sich vorsichtig und bedächtig dem Paar. Plötzlich, ohne hastige Bewegungen, packt sie die Gans und entführt sie. Und Max bleibt allein zurück. Wie fühlt er sich, was geht in seinem Inneren vor?

      Der Kot von Max wird zur Botschaft seiner inneren Belastung. In ihm ist das Stresshormon Cortisol enthalten, das Max aus seinem Körper ausscheidet. Die Menge an Stresshormonen ist ein Maß der psychischen Belastung. Je schlechter es ihm geht, umso mehr Stresshormone finden sich in seinem Kot.

      Stress oder besser Distress (= dauernd anhaltender negativer Stress) entsteht in einem Organismus, wenn er die Umweltreize und Situationen nicht mehr adäquat verarbeiten kann und er bei der Verarbeitung überfordert ist. Sein psychisches und physiologisches Gleichgewicht gerät in Schieflage. Der Körper reagiert mit einer erhöhten Nebennierentätigkeit darauf und sendet Hormone ins Blut. Bei andauerndem Stress werden die Reproduktionsrate und das Immunsystem heruntergefahren. Es kommt zu Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes oder zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Tier oder der Mensch fühlt sich nicht mehr wohl. Stressmessungen mittels Cortisol sind ein Indikator für Unwohlsein eines Individuums.

      Die chemische Analyse des Kots von Max ist kompliziert, aber das Ergebnis ist eindeutig. Die Stresshormone von Max jagen nach der Entführung in die Höhe, offenbar macht ihm die Trennung von seiner Partnerin zu schaffen. Sein Hormonpegel wird erst wieder normal, wenn er seine Partnerin zurückbekommt. Zumindest auf der Ebene der Stresshormone sind uns Gänse erstaunlich ähnlich.

      Der Vater der Verhaltensforschung

      Die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im oberösterreichischen Grünau trägt den Namen des bedeutenden Wissenschaftlers Konrad Lorenz. Er ist einer der Väter der Verhaltensforschung und bekam für seine Forschungen den Nobelpreis. Bilder, wie er mit seinen Graugänsen im See schwamm, gingen um die ganze Welt. Er wurde ein Star in der Wissenschaft. Was war sein Forschungsfeld? Seit frühester Kindheit interessierte er sich für Tiere und schloss mit ihnen Freundschaft. Zu vielen von ihnen hatte er eine enge Bindung, und das war auch unter anderem Teil seiner Forschung. Er stellte fest, dass sich frisch geschlüpfte Enten und Gänse in einem kurzen Zeitfenster an ihre Mutter binden. Das war nicht besonders neu und keine wissenschaftliche Sensation.

      Beginnen wir die Geschichte am Startpunkt. Der dreiunddreißigjährige Konrad Lorenz wollte einmal den Vorgang, wie eine Graugans aus dem Ei schlüpft, genau beobachten. Nachdem sich das Küken aus der Eischale befreit hatte, ruhte es aus und sah in das Antlitz seines Beobachters, der gerade eine Bewegung machte und irgendein Wort sagte. Der kleine Vogel vollzog daraufhin die – wie man heute weiß – angeborene Gebärde des Grüßens nach der Art der Graugänse. Das Tierchen senkte seinen Kopf mit vorgestrecktem Hals und nach unten durchgedrücktem Nacken und äußerte den dazugehörigen (Gruß-)Laut, der freilich nur wie ein Wispern klang.