Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026824862



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keine Ausnahme zu seinen Gunsten machte. Wir wissen, dass ihm Fabrizzios Klugheit und Geistesgegenwart vom ersten Tage an mißfallen hatten. Er nahm die außerordentliche Freundschaft übel, die seine Tante und er leichtsinnig zur Schau trugen, und lieh dem maßlosen Hofklatsch ein besonders geneigtes Ohr. Die Ankunft des jungen Mannes und der so ungewöhnliche Empfang, der ihm zuteil geworden war, gaben vier Wochen lang dem Gespräch und der Verwunderung aller Adligen im Staate Parma immer wieder neue Nahrung. >Wir sind im Jahrhundert der Ungeheuerlichkeiten!< sagte man mit einem Augenaufschlag gen Himmel. Da hatte Serenissimus einen Einfall.

      Es gab in der Leibgarde einen Grenadier ohne Rang, der eine unglaubliche Menge von Wein vertrug; dieser Mann verbrachte sein Leben im Wirtshaus und unterrichtete den Monarchen ohne Zwischenpersonen über die Stimmung im Heer. Carlone besaß nicht die geringste Bildung, sonst wäre er längst mehr geworden. Sein Dienst war, sich alle Tage im Schloß einzufinden, wenn die grosse Turmuhr zwölf schlug. Der Fürst stellte kurz vor Mittag höchstselbst den Laden eines Fensters im Zwischenstock, neben seinem Ankleidezimmer, auf eine bestimmte Art. Mit dem letzten Schlag zwölf kam er wieder in den Zwischenstock, wo er den Soldaten vorfand.

      Der Fürst hatte in seiner Tasche ein Blatt Papier und Schreibzeug und diktierte dem Mann folgende Zeilen:

      ›Eure Exzellenz besitzen ohne Zweifel viel Verstand, und nur Dero tiefer Weisheit verdanken wir die so treffliche Regierung unseres Landes. Allein, mein lieber Graf, so grosse Erfolge ziehen stets ein wenig Mißgunst nach sich, und darum fürchte ich stark, dass man sich ein bisschen auf Ihre Kosten lustig macht, wenn Ihr Scharfsinn nicht dahinterkommt, dass ein gewisser fescher junger Mann das Glück hat, vielleicht wider seinen Willen, eine ganz merkwürdige Leidenschaft zu verursachen. Der glückliche Sterbliche soll erst dreiundzwanzig Jahre alt sein, und, lieber Graf, es ist eine verzwickte Geschichte, Sie wie ich sind alle beide reichlich doppelt so alt. Abends, aus einer gewissen Entfernung, ist der Graf ein entzückender, sprühender, geistreicher und überaus liebenswürdiger Mann, allein früh, in nächster Nähe, ist der Eindringling, wenn man sichs recht besieht, vielleicht verführerischer. Nun geben wir Frauen, besonders wir, die wir die Dreißig hinter uns haben, viel auf Jugendfrische. Spricht man nicht sogar bereits davon, dass dieser liebenswürdige Jüngling durch irgendeine nette Stellung ganz an unseren Hof gefesselt werden soll? Und welche Person spricht denn mit Eurer Exzellenz am häufigsten davon?‹

      Der Fürst nahm den Brief und gab dem Grenadier zwei Taler.

      »Das ist ganz extra!« sagte er mit finsterer Miene zu ihm. »Unverbrüchliches Stillschweigen gegen jedermann oder das feuchteste Kellerloch in der Zitadelle!«

      Der Fürst hatte in seinem Schreibtisch einen Vorrat von Briefumschlägen mit den Anschriften seiner meisten Hofschranzen von der Hand des nämlichen Soldaten, der als des Schreibens unkundig galt und nicht einmal seinen Dienstbericht je selber geschrieben hatte. Der Fürst suchte sich den entsprechenden Umschlag heraus.

      Ein paar Stunden später erhielt der Graf Mosca einen Brief durch die Post. Die Stunde, in der er ankommen musste, war ausgerechnet, und im Augenblick, als der Briefträger, den man mit einem kleinen Brief hatte hineingehen sehen, wieder aus dem Ministerium herauskam, wurde Mosca zu Serenissimus befohlen. Nie war der Günstling in tieferem Trübsinn erschienen. Um sich so recht daran zu weiden, rief ihm der Fürst zu, als er seiner ansichtig wurde: »Ich möchte mich in gemütlicher Plauderei mit dem Freund erholen, statt mit dem Minister zu arbeiten. Ich habe heute abend tolle Kopfschmerzen. Außerdem plagen mich trübe Gedanken.«

      Der Premierminister Graf Mosca della Rovere war natürlich in der gräßlichsten Laune, als er seinen hohen Herrn endlich verlassen durfte. Ranuccio Ernesto IV.war in der Kunst, ein Herz zu martern, von vollendeter Geschicklichkeit, und der Vergleich mit dem Tiger, der gern mit seiner Beute spielt, ist hier ohne allzu großes Unrecht am Platze.

      Der Graf ließ sich im Galopp nach Hause fahren, schrie, ohne stehen zu bleiben, seine Leute an, er wäre für kein lebendiges Wesen zu sprechen, ließ dem diensthabenden Auditore sagen, er brauche ihn nicht – einen Menschen in Hörweite zu wissen, war ihm unerträglich –, und schloß sich eiligst in den großen Gemäldesaal ein. Dort konnte er sich endlich ganz seiner Wut hingeben; dort verbrachte er den Abend im Dunkeln, wie ein Besessener ziellos hin und her rennend. Er versuchte, seinem Herzen Ruhe zu gebieten und die ganze Kraft seines Hirns auf die Überlegung seines künftigen Verhaltens zu sammeln. In seiner tiefen Herzensnot, die seine grausamsten Feinde mitleidig gestimmt hätte, sagte er sich: ›Der Mann, den ich tief verabscheue, wohnt im Hause der Duchezza, verbringt jede Minute mit ihr. Soll ich versuchen, eine ihrer Kammerjungfern zum Sprechen zu bringen? Nichts wäre gefährlicher. Sie ist so gütig; sie entlohnt sie so reichlich! Sie wird deshalb vergöttert. Und, grosser Gott, wer sollte sie nicht vergöttern?

      Es fragt sich jetzt,‹ begann er in neuer Wut, ›soll ich mir die Eifersucht, die mich verzehrt, anmerken lassen oder gar nicht davon sprechen? Wenn ich schweige, wird man sich nicht im geringsten verstellen. Ich kenne Gina. Sie ist ein Weib von feuriger Natur; ihr Tun und Denken ist sogar für sie selber unberechenbar. Wenn sie sich eine Rolle vornimmt, bleibt sie darin stecken; im Augenblick der Ausführung kommt ihr immer ein neuer Gedanke, den sie leidenschaftlich aufgreift, als ob es der beste auf der Welt wäre, und so verdirbt sie sich alles.

      Wenn ich kein Wort über mein Martyrium rede, verheimlicht man mir nichts, und ich sehe alles, was vorgehen mag.

      Ja, aber wenn ich spreche, dann schaffe ich eine neue Lage. Ich bringe sie zum Nachdenken. Ich komme einer Menge schrecklicher Dinge zuvor, die sich ereignen könnten. – Vielleicht wird er aus dem Hause geschickt;‹ sagte der Graf aufatmend, ›dann habe ich so gut wie gewonnenes Spiel. Wenn sie auch im Augenblick schlechter Laune wäre, ich werde sie beschwichtigen. Schlechte Laune, – ganz natürlich! Sie liebt ihn seit fünfzehn Jahren wie einen Sohn. Dann aber, als er nach Waterloo ging, ward er ihr entrückt. Als er von Neapel zurückkam, war er, zumal für sie, ein anderer Mensch. Ein anderer Mensch!‹ wiederholte er wütend. ›Und ein reizender Mensch! Vor allem hat er jenes offene und zärtliche Aussehen, jenes Lachen im Auge, das so viel Glück verheißt. Und solche Augen an unserem Hofe zu finden, ist die Duchezza nicht gerade gewöhnt. Hier gibt es statt dessen finstere oder höhnische Blicke. Was für Augen mag ich oftmals machen, unter der Last meiner Geschäfte! Ich, der ich nur durch meinen Einfluss auf einen Mann herrsche, dem es ein Vergnügen wäre, wenn ich mich bloßstellte! Ach, soviel Mühe ich mir auch gebe, es ist doch gerade mein Blick, der alt aussieht! Streift meine Heiterkeit nicht immer an Ironie ? Mehr noch – hier muß ich aufrichtig sein! – lässt meine Heiterkeit nicht die unumschränkte Macht und die – Bosheit durchschimmern? Sage ich mir zuweilen nicht selber, besonders wenn man mich reizt: Ich kann, was ich will! Ich füge sogar eine Dummheit hinzu: Ich muß glücklicher sein als andere, weil ich besitze, was die anderen nicht haben: Herrschergewalt in drei Vierteln aller Dinge. – Nun, wir wollen gerecht sein: dieser gewohnheitsmäßige Gedanke muss mir mein Lachen vergiften, muß mir etwas wie selbstzufriedene Eigenliebe verleihen. Wie reizend dagegen ist sein Lachen! Er besitzt den siegesfrohen Zauber der ersten Jugend und überträgt ihn auf andere.‹

      Zum Unglück für den Grafen war die Luft an jenem Abend heiss, drückend, gewitterschwül, kurzum, es war einer jener Tage, die in südlichen Ländern zu gewaltsamen Entschlüssen verleiten. Es würde zu weit führen, alle Gedankengänge und Standpunkte aufzuzählen, die diesen leidenschaftlichen Mann drei qualvolle Stunden hindurch folterten. Schließlich gab der Verstand den Ausschlag, einzig und allein auf Grund folgender Überlegung: ›Ich bin wahrscheinlich toll. Ich bilde mir ein, vernünftig zu denken, und denke gar nicht vernünftig; ich drehe mich nur im Kreise herum, um einen weniger grausamen Zustand zu schaffen, und renne dabei an einem entscheidenden Entschluss vorbei. Da mich das Übermaß des Schmerzes blind gemacht hat, muss ich mich an die Regel aller klugen Leute halten, die da heisst: Vorsicht! Sonst, wenn das Schicksalswort Eifersucht einmal gefallen ist, steht meine Rolle ewiglich fest. Sage ich dagegen heute nichts, dann kann ich morgen sprechen und bleibe Herr über das Ganze.‹ Die Krise war allzu heftig; der Graf wäre wahnsinnig geworden, wenn sie länger gedauert hätte. Für Augenblicke fühlte er sich erleichtert; seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Brief ohne Unterschrift. Von wem konnte er kommen? Er zählte sich eine Reihe Personen auf und urteilte über jede. Das lenkte ihn ab. Endlich erinnerte er sich an ein boshaftes Flackern im Auge des Fürsten,