Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026824862



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Berge des Comer Sees von denen des Gardasees. Fabrizzios Auge folgte all den herrlichen Spitzen und Kämmen; der heller dämmernde Morgen ließ die trennenden Täler hervortreten und durchleuchtete den leichten Nebel, der aus ihren Gründen emporwallte.

      Endlich machte sich Fabrizzio wieder auf den Weg. Er überschritt den Hügel, der die Halbinsel Durini bildet, und endlich tauchte vor seinen Augen der Turm der Dorfkirche von Grianta auf, wo er so oft mit dem Abbate Blanio die Gestirne beobachtet hatte.

      ›Wie unwissend war ich doch damals!‹ sagte er zu sich. ›Ich konnte nicht einmal das lächerliche Latein jener astrologischen Schriften verstehen, die mein Lehrer studierte. Ich glaube, ich hatte gerade deshalb so große Scheu davor, weil ich nur hier und da ein paar Brocken davon verstand und meine Phantasie damit beschäftigt war, einen Sinn, und zwar einen möglichst verstiegenen, hineinzulegen.‹

      Allmählich nahm seine Träumerei eine andere Richtung. ›Sollte wirklich etwas Wahres in dieser Wissenschaft stecken? Warum sollte sie sich von den anderen unterscheiden? So kommt zum Beispiel ein bestimmter Kreis von Einfaltspinseln und Schwindlern überein, die mexikanische Ursprache zu verstehen, und nötigt sich mit dieser Eigenschaft der Gesellschaft auf, die sie anerkennt, und den Regierungen, die sie bezahlt. Man überhäuft sie mit Auszeichnungen, just weil sie durchaus keinen Geist haben, so daß die Regierung keine Furcht zu haben braucht, sie könnten die Massen aufreizen und hochherzige Gefühle zum Auflodern bringen. So einer ist der Abbate Bari, dem der Fürst dafür, daß er neunzehn Verse einer griechischen Dithyrambe textlich wieder herstellte, ein Jahresgeld von viertausend Franken und das Ritterkreuz seines Hausordens verliehen hat.

      Aber, großer Gott, habe ich eigentlich das Recht, derartige Dinge lächerlich zu finden? Steht es mir wohl zu, darüber zu schimpfen?‹ sagte er plötzlich zu sich und hielt inne. ›Ist das nicht der gleiche Orden, den vor kurzem mein Rektor in Neapel bekommen hat?‹

      Fabrizzio überkam tiefes Unbehagen. Die schöne Tugendwallung, die sein Herz soeben hatte höher schlagen lassen, machte dem niedrigen Empfinden Platz, an einem Raub teilzuhaben. ›Wie dem auch sei,‹ sagte er sich schließlich mit den erloschenen Augen eines mit sich unzufriedenen Menschen, ›da meine Geburt mir das Recht verleiht, aus solchen Mißständen Vorteil zu ziehen, so wäre es eine hervorragende Dummheit von mir, wenn ich keinen Gebrauch davon machte. Nur ist es durchaus nicht nötig, daß ich mir einfallen lasse, darüber öffentlich zu lästern.‹ Diese Betrachtungen waren gewiß richtig, aber Fabrizzio war vom Gipfel des erhabensten Glückes hinabgestürzt, zu dem er sich eine Stunde vorher erhoben gefühlt hatte. Der Gedanke an Vorrechte hatte jene ewig zarte Blume geknickt, die man das Glück nennt.

      ›Wenn man nicht an die Astrologie glauben darf,‹ fuhr er fort, indem er sich zu betäuben suchte, ›wenn diese Wissenschaft, wie drei Viertel aller nicht mathematischen Wissenschaften, nichts als eine Vereinbarung von begeisterten Narren und durchtriebenen Heuchlern im Solde derer ist, denen sie dienen, woher kommt es dann, daß ich so oft und tief bewegt an einen schicksalsvollen Umstand denke? Einst bin ich dem Gefängnis zu B. entronnen, aber im Rock und mit dem Paß eines Soldaten, den man gerechter Gründe wegen eingesperrt hatte.‹

      Weiter vermochte Fabrizzios Verstand nie einzudringen; er rannte auf hundert Wegen um das Hindernis herum, ohne je darüber hinweg zu gelangen. Er war noch zu jung. In müßigen Stunden schwelgte seine Seele im Genuß romantischer Empfindungen, die ihm seine stets rege Einbildungskraft verschaffte. Er war weit entfernt, seine Zeit geduldigen Betrachtungen des Tatsächlichen zu widmen und seine Beweggründe zu ahnen. Die Wirklichkeit erschien ihm noch seicht und schmutzig. Ich gebe zu, daß niemand sie gern betrachtet, aber dann muß man auch kein Urteil darüber fällen. Vor allem darf man keine Einwände dagegen mit dem Rüstzeug seiner Unwissenheit machen.

      So war Fabrizzio, ohne daß es ihm an Geist gebrach, nicht imstande, zu erkennen, daß sein Halbglaube an Vorzeichen seine Religion war, eine von Kindheit an tief eingewurzelte Neigung. An diesen Glauben zu denken, war ihm Fühlen, war ihm Glück. Und er grübelte hartnäckig nach, wie dieser Glaube eine Erfahrungswissenschaft, etwa wie die Geometrie, werden könne. Voll Eifer suchte er in seinem Gedächtnis nach all den Umständen, unter denen er ein Vorzeichen beobachtet hatte, dem ein vorausgesagtes glückliches oder unglückliches Ereignis nicht gefolgt war. Aber während er meinte, logisch zu denken und der Wahrheit nachzuspüren, verweilte seine Aufmerksamkeit glückselig bei der Erinnerung an Fälle, wo der Vorbedeutung das glückliche oder unglückliche Ereignis, das sie angekündet, vollauf gefolgt war. Das rührte seine Seele und erfüllte sie mit Ehrfurcht. Er hätte eine unüberwindliche Abneigung gegen den Menschen gehabt, der Vorzeichen geleugnet oder gar Spott darüber gezeigt hätte.

      Traumverloren wandelte Fabrizzio dahin und war mit seinen ohnmächtigen Grübeleien gerade so weit gelangt, als er aufblickte und sich vor der Mauer des väterlichen Gartens sah. Diese Mauer, der Unterbau einer herrlichen Terrasse, erhob sich rechts vom Wege bis zur Höhe von vierzig Fuß. Ein Gesims von Quadersteinen an ihrem oberen Rande, dicht unter der Brüstung, gab ihr etwas Erhabenes. ›Nicht übel‹, sagte Fabrizzio kalt bei sich. ›Kein schlechter Stil, beinahe altrömisch‹, setzte er in Anwendung seiner neu erworbenen Kunstkenntnisse hinzu. Dann wandte er sich voll Ekel ab. Die Härte seines Vaters und ganz besonders die Anzeige seines Bruders Ascanio nach seiner Heimkehr aus Frankreich kamen ihm in den Sinn.

      ›Diese widernatürliche Anzeige ist der Ursprung meines jetzigen Lebens. Ich kann sie hassen, ich kann sie verachten, aber schließlich hat sie mein Schicksal gewendet. Was wäre aus mir geworden, als ich nach Novara verbannt war, wo mich kaum der väterliche Verwalter dulden mochte, wenn meine Tante keine Liebschaft mit einem mächtigen Minister gehabt hätte? Wenn meine Tante statt ihrer zärtlichen und leidenschaftlichen Seele eine nüchterne und gewöhnliche Seele hätte und nicht mit jener gewissen Begeisterung liebte, die mich in Verwunderung setzt? Ja, wo stünde ich heute, wenn die Duchezza die Seele ihres Bruders, des Marchese del Dongo, hätte?

      Von diesen grausamen Erinnerungen ergriffen, ging Fabrizzio nur unsicheren Schrittes weiter; er gelangte an den Rand des Grabens gegenüber der prächtigen Schloßfassade. Er warf aber kaum einen Blick auf das große, altersgraue Gebäude. Der Gedanke an seinen Bruder und Vater verschloß seine Seele jedem Gefühl für Schönheit. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur darauf, sich vor seinen scheinheiligen und gefährlichen Feinden in acht zu nehmen. Einen Augenblick lang sah er mit starkem Abscheu hinauf nach dem kleinen Fenster des Zimmers, das er vor 1815 im zweiten Stock bewohnt hatte. Der Charakter seines Vaters hatte die Erinnerung an seine Kinderzeit allen Zaubers beraubt.

      ›Dort war ich nicht wieder‹, dachte er, ›seit dem 7. März 1815 abends acht Uhr. Ich ging weg, um mir Vasis Paß zu verschaffen, und am anderen Morgen machte ich mich aus Angst vor Spitzeln Hals über Kopf auf die Reise. Als ich nach meiner Rückkehr aus Frankreich hier war, hatte ich dank der Gemeinheit meines Bruders nicht einmal Zeit, hinaufzugehen, um mir meine Kupferstiche wieder anzusehen.‹

      Fabrizzio blickte voll Widerwillen weg. ›Der Abbate Blanio ist älter als dreiundachtzig Jahre‹, sagte er traurig bei sich. ›Er kommt fast gar nicht mehr ins Schloß, wie mir meine Schwester erzählt hat. Die Beschwerden des Alters haben sich bei ihm eingestellt. Dieses so feste und so edle Herz ist vergreist. Gott weiß, wie lange er seinen Kirchturm nicht mehr bestiegen hat! Ich werde mich im Keller verstecken, hinter den Fässern oder hinter der Weinpresse, bis er aufsteht. Ich möchte den Schlaf des guten alten Mannes nicht stören. Wahrscheinlich wird er vergessen haben, wie ich aussehe. Sechs Jahre sind viel bei seinem Alter! Ich werde nur noch den Schatten eines Freundes finden. – Es ist wirklich eine Kinderei,‹ fügte er hinzu, ›hierher zu kommen und sich vom väterlichen Schloß anekeln zu lassen.‹

      Fabrizzio betrat den kleinen Platz vor der Kirche. Zu seinem Erstaunen, das sich zur Freude steigerte, bemerkte er im zweiten Stock des alten Kirchturms, daß die lange, schmale Luke durch die kleine Laterne des Abbaten Blanio erleuchtet war. Der Abbate hatte die Gewohnheit, sie dorthin zu stellen, wenn er in den Holzkäfig hinaufkletterte, der seine Sternwarte war, damit der Lichtschein ihn nicht am Lesen seiner Himmelskarte hindere. Diese Karte war auf einem großen Tonkübel angebracht, in dem ehemals ein Orangenbaum des Schlosses gestanden hatte. Auf dem Boden des Kübels brannte ein winziges Lämpchen, dessen Qualm ein kleines Blechrohr ableitete. Der Schatten des Blechrohres zeigte auf der Karte Norden an. Alle diese schlichten