Название | Walther Kabel-Krimis: Ãœber 100 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band |
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Автор произведения | Walther Kabel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788075831101 |
Neben Irma Hölsch ging ein graubärtiger, knorriger Mann, gekleidet wie ein Landmann, der überall in seiner Wirtschaft selbst mitzugreift. Biederkeit, aber auch bäuerliche Schlauheit leuchtete aus seinen Zügen.
Irma hatte sich gleichfalls noch schnell vor ihrer Abreise für den Lammerthof mit passender Kleidung versehen, hatte sich ein graugrünes Lodenkostüm fertig gekauft, das trotzdem wie angegossen saß. Den Kopf trug sie unbedeckt, und der Wind spielte mit den wenigen losen Stirnhaaren, dieser laue Morgenwind, der von Westen über die Heide herüberstrich und Frühlingsdüfte der aus dem Winterschlaf erwachten Natur mitbrachte.
Die beiden kamen von dem langgestreckten Stalle her, hatten die Schafe sich angesehen, die jetzt auf des alten Parlitz Vorschlag wieder um ein halbes Hundert vermehrt werden sollten.
Links von dem Stalle stand das kleine Leutehaus. Dort wohnte das Ehepaar Parlitz, das jetzt allein für den Lammerthof sorgte, dort hatte auch Irma die beste Stube sich schnell herrichten lassen, denn allein im Hauptgebäude zu schlafen, davor hatte sie sich gefürchtet.
Irma sah etwas blaß aus. Sie hatte sich auf der Reise erkältet und fünf Tage zu Bett gelegen. Vielleicht war’s auch eine leichte Influenza gewesen. Frau Parlitz hatte jedenfalls darauf gedrungen, daß das Fräulein am Morgen nach ihrer Ankunft im Bett blieb, hatte sie gepflegt, ihr Haustränkchen bereitet und sie wie ein eigenes Kind bemuttert. So war es gekommen, daß Irma von ihrem neuen Besitz bisher noch so gut wie nichts kannte und daß sie erst ein einziges Mal in der ›Burg‹ gewesen war, wie das Ehepaar Parlitz nach alter Gewohnheit das Hauptgebäude nannte.
Irma schaute sich um. Überall Zeichen des Verfalls, wenn auch sonst peinliche Ordnung herrschte. Die Großmutter hatte seit Jahren nichts mehr für den Besitz getan. Das hatte Martin Parlitz schon wiederholt betont. – ›An uns hat es nicht gelegen, daß hier alles verwilderte,‹ hatte er gesagt. ›Aber Frau Hölsch zeigte ja kein Interesse mehr an ihrem Eigentum.‹
An zwei halb zerbrochenen Ackerwagen gingen sie weiter auf den Hintereingang der Burg zu. –
Der Bau stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert, sah mit seinem einen Eckturm und dem flachen Dach aus grünbemoosten Ziegeln wie eine verpfuschte Kirche aus. An der Westseite war ein Stück angeklebt worden, nur eine Zimmerbreite, um oben und unten hellere Gemächer zu erhalten. Scharf bog sich die Grenze ab, wo das alte und das neue Gemäuer aneinander stießen. Efeu umrankte das plumpe Gebäude, ließ die Fenster nur noch kleiner erscheinen. Nur der neue Flügel hatte große, breite Fenster. Und hier war auch eine Glasveranda in den geräumigen Vorgarten hineingebaut.
Die Erdgeschoßfenster des alten Flügels waren vergittert, mit dicken, rostigen Eisenstäben wie vor den Luftlöchern eines Verließes. Sie erhöhten noch den ungastlichen Eindruck.
»Meine Großmutter hat also ganz allein in der Burg gehaust all die Jahre?« fragte Irma fast ungläubig.
Martin Parlitz klirrte mit dem Schlüsselbunde.
»Ganz allein. Es war eine gute, aber ein wenig absonderliche Frau.«
Er suchte den Schlüssel zur Hintertür heraus, die dicht neben dem runden Turme lag, auf dessen niedrigem Spitzdach eine Wetterfahne kreischte. Irma ging das Kreischen auf die Nerven. Sie war überhaupt so sehr empfindlich gegen alles, seit sie sich hier auf dem Lammerthof befand.
Auch die Türangeln kreischten.
»Ölen Sie sie gut ein, Parlitz,« sagte sie gereizt. »Das ist ja scheußlich … Und auch die Wetterfahne, wenn es geht.«
Der Alte schaute sie von der Seite an. Ja, ja, so ein Berliner Fräulein …! Die waren ja wohl alle nur zum in den Glasschrank stellen.
Eine dumpfe, kühle Luft schlug den Eintretenden entgegen. Es roch wie nach faulendem Holz.
Langsam durchschritten sie die Zimmer. Die meisten waren unmöbliert hier im Erdgeschoß. Nur im neuen Flügel, den Frau Hölsch bewohnt hatte, gab es alten Hausrat, alles fast ärmlich. Und hier führte auch eine zweite Treppe, schmal, mit schlecht gestrichenen Holzstufen, in den Oberstock hinauf. Die Haustreppe lag in der Diele hinter dem Vordereingang in der Mitte des alten Flügels.
Irma hatte schon die ganzen Tage seit ihrer Ankunft eine Frage auf den Lippen gehabt. Jetzt tat sie die scheu und zögernd.
»Sagen Sie, Parlitz, es soll hier doch so etwas wie ein verschlossenes Zimmer gegeben?«
Der alte Mann blieb stehen. In seinen Augen, die er fest auf Irmas Gesicht richtete, lag ein Ausdruck der Verwunderung und leichter Unruhe.
»Woher – woher wissen Sie denn das?« meinte er fast unhöflich.
Irma überhörte den Satz. Sie konnte Parlitz doch unmöglich von den Briefen der ›treuen Hand‹ erzählen. – Also das verschlossene Zimmer war jedenfalls vorhanden. Zu ihrer Beruhigung trug das nicht gerade bei.
»Führen Sie mich hin,« sagte sie kurz.
Parlitz schaute verlegen zu Boden, schlenkerte mit dem großen Schlüsselbunde hin und her. Dann schritt er kopfschüttelnd den Gang entlang bis zur Diele hin und erstieg die breite, knarrende Treppe mit den tief ausgetretenen Stufen.
Oben bog er in der Richtung auf den Turm ein. In dem Flur herrschte ein ungewisses Dämmerlicht. Vor der letzten Tür rechts blieb er stehen. Und Irma dachte: ›Der Tempel der Liebe …‹
Alle diese Türen im alten Flügel bestanden aus Eichenholz, waren dunkel gebeizt, hatten geschnitzte Mittelfelder und plumpe, große Schlösser. An dieser Tür gab es zum Überfluß noch eine starke, eiserne Krampe, die mit einem modernen Vorhängeschloß verwahrt war.
Martin Parlitz deutete auf die Tür und sagte:
»Hier, Fräulein, das ist sie!« Sein Gesicht hatte dabei wieder einen merkwürdigen Ausdruck von innerer Beunruhigung angenommen.
»Die Nebenzimmer sind doch sämtlich leer,« meinte Irma zögernd. »Weshalb wird gerade dieses verschlossen gehalten?«
»Das weiß ich nicht, Fräulein. Ich war noch nie drin, noch nie, seit Frau Hölsch durch mich diese Krampe anbringen ließ. Das sind nun zehn Jahre her. Damals war es ebenso kahl wie die anderen nebenan. Was Ihre Großmutter dann dort eingeschlossen hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Selbst das Schlüsselloch ist von innen verstopft worden.«
Irma schaute zaghaft auf die Tür, als lauere dahinter ein dunkles Geheimnis. Sie dachte an den dritten Brief der ›treuen Hand‹ und die darin erwähnte Kiste. Wenn doch nur erst die drei Melchers hier wären! Gut, daß sie morgen abend eintrafen. Irma war es so unheimlich zumute hier im Lammerthof, obwohl die alten Leutchen, die Parlitz, für sie aufs beste sorgten und fraglos ehrenwerte, zuverlässige Menschen waren.
»Wo ist der Schlüssel zu diesem Patentschloß?« fragte sie, auf die Krampe deutend. Ihre Neugier war doch größer als die heimliche Angst vor dem Ungewissen.
Der Alte hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aber in dem Schreibsekretär Ihrer Großmutter, Fräulein.«
»Suchen wir,« meinte Irma. »Ich will wissen, was dieses Zimmer enthält.«
Der Schreibsekretär stand unten im Erdgeschoßzimmer, vor dem die Veranda lag und das sozusagen das Kontor der alten, einsamen Frau gewesen war. Martin Parlitz nannte es auch nur so. Vielleicht wollte er dadurch andeuten, daß der Lammerthof mehr war als ein gewöhnliches Bauerngehöft.
In einer Schublade fanden die beiden verschiedene Schlüssel. Der Alte erklärte, er wisse nicht genau, ob der richtige darunter wäre. So nahmen sie denn nachher alles an Schlüsseln mit, was sie auftreiben konnten und was ungefähr zu passen versprach.
Martin Parlitz verglich oben nun zunächst die Schlüssel mit dem Loche des Schlosses, um sich nicht unnötig mit Probieren aufzuhalten.
Mit einem Male ließ er aber die Hände schlaff herabsinken und blickte Irma ganz ratlos an.
»Was gibt’s denn, Parlitz?! – Vorwärts doch! Oder – am besten, ich versuche selbst zu öffnen.« Die neue Herrin des Lammerthofes