SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze. Tim Curran

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Название SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze
Автор произведения Tim Curran
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958350298



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wie sich die Nägel lockerten und heraussprangen, einer nach dem anderen.

      In der Kiste war ein hektisches Kratzen, Scharren und dumpfes Dröhnen.

      Etwas in Hyden rastete plötzlich aus. Ein wilder, kreischender Terror durchzuckte ihn, und er fing an zu schreien: »Ich hau ab! Ich springe runter! Das ist Wahnsinn …«

      Aber Goode zwang ihn wieder nach unten und sagte, er solle das Maul halten, einfach das Maul halten, verdammt noch mal, das wäre alles in seinem Kopf, nur in seinem Kopf. Doch die Vorstellung, mit der Kiste im Wagen allein zu sein und mit dem, was darin war … Goode wusste, dass er es nicht alleine schaffen würde. Es einfach nicht schaffen konnte. Whisper Lake lag nun geradewegs vor ihnen. Auf beiden Seiten waren die Lastkräne und Gerätschaften und die gebeugten Hütten der abseits gelegenen Minencamps. Etwas von hinten machte ein lautes, schnappendes Geräusch, und Goode musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, dass eines der Messingbänder aufgebrochen war und das andere bald folgen würde … und dann … und dann …

      Hyden keuchte in scharfen, schmerzenden Atemzügen. Er zitterte so sehr, dass er die Schrotflinte nicht mehr halten konnte. Klirrend fiel sie herunter und lag nutzlos zu seinen Füßen. Dann waren sie in der Stadt, und was auch immer in der Kiste war, schien das zu spüren, denn es zog sich zurück in seine kalte Schlafstatt und wartete, wie die Dinge sich entwickeln würden. Goode und Hyden seufzten gemeinschaftlich, entspannten sich aber erst, als sie den Leichenbestatter gefunden hatten und das abscheuliche Ding losgeworden waren.

      1-3

      Hiram Callister war der, den sie aufsuchten.

      Der rundliche, schmierige Hiram Callister, Bestatter und Tischler. Er bereitete die Toten vor und fertigte die Särge, in die sie vorsichtig hineingepackt wurden. Meist verarbeitete er billiges Pinienholz, manchmal auch importiertes schwarzes Mahagoni, das mit dem Zug für reiche Minenarbeiter oder Eisenbahner herangeschafft wurde. Hiram arbeitete bevorzugt bei Lampenschein, während sein jüngerer Bruder Caleb – Mitbesitzer der Bestattungsfirma der Callister-Brüder – lieber bei Tageslicht arbeitete. Und wenn Hiram nicht gerade mit Holz und Totholz zu tun hatte, zog er sich in seine oben liegenden Gemächer zurück und machte sich über seine Sammlung pornografischer Bilder her, von denen die meisten ein Freund aus New Orleans geschickt hatte. Dort konnte ein Kenner solche Dinge leicht bekommen … für den entsprechenden Preis.

      Hiram war nie gut im Umgang mit Frauen gewesen.

      Mit Leuten im Allgemeinen.

      Zumindest nicht mit Lebenden. Ein dickliches und streberhaftes Kind war er gewesen, aus dem ein übergewichtiger und unansehnlicher Mann geworden war. Ein Mann mit scheinbar mehreren schwabbelnden Kinnen, die wie eine Herde auf seinem Unterkiefer umherzogen, und mit einem Nacken wie rosa Schweinchen am Trog. Er liebte Kuchen und Süßigkeiten. Eine Fehlfunktion seiner Talgdrüsen sorgte dafür, dass er ausgiebig schwitzte. Seine Hände waren merkwürdig kühl und in der Gegenwart anderer stotterte er. Oft zeigten die Kinder auf der Straße mit dem Finger auf ihn. Nachts konnte man ihn finden, wie er Sahnekaramel, Schokolade und französische Cremes neben den umhüllten Körpern in der Leichenhalle verspeiste, wobei er immer wieder sein feuchtes Gesicht und die nasse Stirn mit einem Taschentuch abtupfte. Das war seine Welt, die Welt der Särge und Chemikalien, der Leichen und silberglänzenden Instrumente. Eine Welt, die abgeschlossen und trübe war und die nach Jod, Alkohol und weniger angenehmen Dingen roch.

      Aber es war Hirams Welt, und es verlangte ihn nach ihr.

      Sollte Caleb das Tageslicht haben. Denn Caleb war ein Gewächs, das ans Tageslicht gehörte – gut aussehend, charmant und selbstsicher. Seine Tage verbrachte er damit, Witwen zu trösten, und in den Nächten war er in Spielhöllen und Bordellen, wo er anrüchige Geschichten von den Toten zum Besten gab. Die Menschen nannten ihn Freund und Liebster, so wie sie Hiram Leichenschänder und Perversling nannten. Hässliche Geschichten erzählten sie über ihn.

      Hiram war es egal.

      Letzten Endes – ob Mann, Frau oder Kind – gehörten sie stets ihm.

      Er bevorzugte die Frauen. Ganz besonders die jungen. Nicht die rechtschaffenen Ehefrauen und Schwestern – wenn es so etwas in einer brodelnden Minenstadt wie Whisper Lake gab – sondern die Huren. In ihrem Leben waren sie ständig berührt und begrapscht worden, und so schien es Hiram keine Sünde zu sein, dasselbe mit ihnen im Tod zu tun. Aber das galt nur für Huren. Für niemanden sonst. Egal was die Leute über ihn flüsterten, er hatte seine Standards, seine Berufsehre.

      Als die zwei Männer mit dem Sarg auftauchten, hatte Hiram gerade die Leiche einer jungen Hure vor ihm liegen. Sie war starr wie ein Zedernbrett und sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Hiram berührte sie, heftig schwitzend und atmend … in diesem Moment hatten die beiden an die Tür gehämmert. Der eine war eine alte, grauhaarige Wüstenratte, der andere ein junger Kerl mit Sommersprossen auf den Wangen. Aber beide hatten weit aufgerissene, starre Augen, und ihre Hände zitterten. Sie sahen aus, als ob sie ihre eigenen Geister gesehen hätten, die im Dunkeln hinter ihnen her waren.

      Hiram hatte noch nie zwei Männer gesehen, die so … voller Angst waren.

      Sie brachten den Sarg herein, stellten ihn auf einen leeren Tisch und machten, dass sie so schnell wie möglich wieder draußen waren, wobei sie geradezu darum kämpften, wer zuerst durch die Tür war. Aber manche Leute, das war Hiram klar, fühlten sich beklommen in der Gegenwart von Toten. Egal.

      Zu diesem Sarg hatte er ein Telegramm erhalten.

      Er enthielt den Körper von James Lee Cobb. Cobb war so etwas wie ein Auftragskiller gewesen, ein Gesetzloser, bekannt dafür, ein sadistischer, übler Mann zu sein. Die Welt war besser dran ohne ihn. Sein einziger Verwandter war ein Mormone, ein Siedler drüben im nahen Deliverance, eine der Mormonenstädte. Ein Halbbruder namens Eustice Harmony, der sich bereit erklärt hatte, ihn zu vergraben … sofern Cobbs Rothautfreunde die Rechnung übernahmen. Und das hatten sie getan.

      Als Hiram den Sarg betrachtete, sah er, dass viele der Nägel, mit denen er verschlossen worden war, fehlten. Eines der Messingbänder war gebrochen. Grobe Behandlung auf dem Transport. Aber das war etwas, das Cobb verdient hatte.

      Hiram ließ den Sarg stehen.

      Er hatte Dringenderes zu tun, als sich um tote Banditen zu kümmern.

      1-4

      Weit nach Mitternacht begann sich ein Gefühl des Grauens in ihm auszubreiten.

      Er konnte es nicht erklären. Versuchte es nicht.

      Nachdem er mit der bemalten Dame fertig war und sie in einen billigen, von ihrer Zuhälterin bezahlten Sarg aus Zedernholz gepackt hatte, begann er mit den Byrd-Brüdern, Thomas und Heck. Er zog die Tücher zurück und studierte ihre ergrauenden Gesichter. Eine Schande. Beide hatten ein Geschäft geführt – Thomas einen Reitstall und Heck eine Metzgerei. Und nun, so war das eben, waren sie selbst nichts anderes mehr als Fleisch. Es war kein Geheimnis, dass beide mit derselben Frau geschlafen hatten … Hecks Ehefrau … und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis so eine schamlose Unzucht sie hierher bringen würde.

      Hiram kannte nur wenige Einzelheiten.

      Sie hatten sich betrunken im Cider-House-Saloon geprügelt, Heck hatte seinen Army-Colt gezogen und Thomas angeschossen, und Thomas hatte, bevor der Blutverlust zu groß geworden war, ein Jagdmesser in die Kehle seines Bruders gestoßen. In einer gemeinschaftlichen Pfütze ihres eigenen Blutes waren sie gestorben, ineinander im Kampf verschränkt wie bei einer Umarmung. So hatten sie noch ausgesehen, als man sie hergebracht hatte. Hiram und sein Bruder mussten beide mit anpacken, um die erstarrten Glieder voneinander zu trennen. Hecks Ehefrau Clarissa bezahlte für das Begräbnis. Sie wollte gute Särge für beide, und sie sollten gut darin aussehen, damit sie Seite an Seite fotografiert werden konnten, für die Verwandten daheim in Missouri. Sie konnte sich das leisten – als einzige lebende Angehörige gehörten ihr nun ein Reitstall und eine Metzgerei.

      Mit grauen, wässrigen Augen, die an nasses Blech erinnerten,