Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman. Britta Winckler

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Название Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman
Автор произведения Britta Winckler
Жанр Языкознание
Серия Die Klinik am See Staffel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740912307



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eine etwas starke Sprache war, teilweise auch ein klein wenig übertrieben. Aber er wußte auch, wann und mit wem man so reden konnte, ja, sogar mußte. Dieser Wichner war ein grober Klotz – das hatte er sehr schnell erkannt. Auf einen groben Klotz gehörte aber auch ein grober Keil.

      Norbert Wichner fühlte sich durch die derbe Redeweise des Arztes keineswegs beleidigt. Sein Inneres hatte sich wieder einigermaßen beruhigt. »Na ja«, brummte er, »ich… ich… bin halt manchmal etwas zu… zu leidenschaftlich – in jeder Beziehung.«

      Dr. Lindau verkniff sich ein Lächeln. »Dann reißen Sie sich zusammen und fahren nicht gleich aus der Haut, wenn es einmal nicht nach Ihrem Kopf geht! Klar?« Er sah auf die Uhr und erschrak.

      »Kann ich… jetzt… gehen…?« fragte Norbert Wichner stockend.

      »Ja, zum Donnerwetter«, erwiderte Dr. Lindau. »Gehen Sie nach Hause und seien Sie besonders nett und lieb zu Ihrer Frau!«

      Norbert Wichner murmelte etwas, was wahrscheinlich ein Gruß sein sollte, und machte, daß er fort kam.

      »Na also«, murmelte Dr. Lindau.

      »Danke, Herr Chefarzt, daß Sie geholfen haben«, sagte Anja Westphal. »Ich bin nur erstaunt, wie Sie mit den Leuten umgehen können.«

      »Tja, verehrte Frau Kollegin, in dieser Gegend herrscht oft ein etwas derberer Ton als auf dem Parkett der feinen Gesellschaft«, gab Dr. Lindau lächelnd zurück. »Wenn Sie lange genug hier sind, werden Sie das auch noch lernen. Man muß allerdings auch wissen, bei welcher Gelegenheit und wem gegenüber ein solcher Ton angebracht ist. Jetzt jedoch entschuldigen Sie mich, denn ich bin schon sehr spät dran. Ich muß schleunigst nach München und meine heimkommende Tochter abholen. Deshalb bin ich vorhin auch heraufgekommen, weil ich Ihnen das sagen wollte. Vertreten Sie mich also inzwischen würdig!« setzte er in scherzhaftem Ton hinzu, grüßte und verschwand.

      Minuten später verließ er die Klinik, setzte sich in seinen Wagen und fuhr in Richtung München davon.

      *

      »Hier spricht der Kapitän«, klang es aus dem Bordlautsprecher. »Meine Damen und Herren, wir nähern uns München und werden in wenigen Minuten auf dem Flugplatz Riem landen. Stellen Sie bitte die Sitze senkrecht und schnallen Sie sich an!«

      Der Flugkapitän des Jumbo-Jets wiederholte diese Durchsage nochmals in englischer Sprache.

      Astrid Lindau atmete erleichtert auf. Bald war es geschafft und sie befand sich wieder in heimischen Gefilden. Fast zwölf Stunden war sie jetzt durch die Luft geflogen – mit zwei Unterbrechungen bei Zwischenlandungen. Indien, Kalkutta, Peter Diehl und das Elend der Slums – das alles lag weit hinter ihr. Nun freute sie sich schon unbändig auf das Wiedersehen mit dem Vater und mit seiner Klinik da unten am See. Während des gesamten Fluges hatte sie viel nachgedacht. Weniger an Peter Diehl und an das enttäuschende Ende einer Zuneigung, die sie lange für die große Liebe gehalten hatte. Das war vorbei, und mit einiger Genugtuung merkte Astrid, daß es gar nicht mehr schmerzte. Von etwas jedoch kam sie nicht so leicht los – von der Erinnerung an die dunkelhäutigen Kinder am Rande von Kalkutta, die nicht nur von Hunger, sondern – und das vor allem – von Krankheiten gezeichnet waren. Immer wieder hatte Astrid daran denken müssen. Sie wunderte sich gar nicht, als sich bei ihr der Gedanke meldete, diesen armen Würmern zu helfen – als Ärztin nämlich. Zuerst war es eigentlich nur die Andeutung eines solchen Gedankens gewesen. Doch je näher die Maschine der bayerischen Metropole kam, desto stärker wurde er und formte sich schon fast zu einem Entschluß.

      Wäre das nicht eine schöne Aufgabe, als Kinderärztin wieder nach Indien zu gehen? Diese Frage ließ Astrid nicht mehr los. Als dann die Maschine zur Landung auf dem Flugplatz München-Riem ansetzte, da hatte sich Astrid schon fast entschieden. Ja, ging es ihr durch den Sinn, ich werde das Studium so schnell wie möglich beenden und dann wieder nach Indien gehen. Natürlich nicht für ein ganzes Leben, aber wenigstens für ein paar Jahre. Sie war schließlich noch jung, hatte das Leben vor sich und versäumte nichts.

      Astrid war von dieser Vorstellung geradezu begeistert. Daß ein solcher Entschluß allerdings bei ihrem Vater keine Begeisterung auslösen würde, ahnte sie jetzt schon, machte sich aber im Augenblick noch keine großen Gedanken darüber. Vater war schließlich auch Arzt und würde letztlich doch Verständnis aufbringen, wenn man sich zu etwas berufen fühlte.

      Astrids Gedanken wurden unterbrochen. Der Jumbo war gelandet. Eine der Stewardessen öffnete die Ausstiegstür, und nacheinander verließen die Passagiere die Maschine.

      Mit ihrer Reisetasche in der Hand betrat Astrid wenig später die Ankunftshalle des Flughafengebäudes. Suchend blickte sie sich um, konnte ihren Vater jedoch in dem Hin und Her von ankommenden und auf einen Abflug wartenden Menschen nicht entdecken. Langsam schritt sie der großen Wartehalle zu, blieb zwischendurch immer wieder stehen und sah sich nach allen Seiten um. In der unmittelbaren Nähe eines Zeitungskiosks blieb sie dann wieder stehen. Ihre Blicke schweiften umher. Wo blieb nur Vater? fragte sie sich. Das Telegramm müßte er doch eigentlich rechtzeitig bekommen haben. Leichte Unruhe erfaßte Astrid. Doch Sekunden später fiel ihr ein, daß der Vater ja Chefarzt einer Klinik war. Vielleicht hatte er einen Notfall, war möglicherweise durch eine Operation abgehalten worden, rechtzeitig auf dem Flughafen zu erscheinen.

      »Also werde ich eben warten«, murmelte Astrid. »Kommen wird er bestimmt.« Ihr Blick fiel auf den Eingang des Flughafenrestaurants. Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, um dort die Ankunft ihres Vaters abzuwarten, als sie plötzlich einen Schrei hörte, den eines Kindes. Sie fuhr herum, und da sah sie den kleinen Jungen, der anscheinend auf einer der Rolltreppen gestürzt war und nun am Fuße der Treppe lag und laut wimmerte.

      In Astrid meldete sich die Medizinerin, die angehende Kinderärztin. Ohne zu zögern lief sie zur Treppe hin.

      Den gleichen Gedanken hatte auch ein schlanker braungebrannter Mann mit gewelltem braunem Haar, der schon seit einer ganzen Weile auf der anderen Seite des Kiosks gestanden hatte und eine junge blonde Frau in seiner unmittelbaren Nähe unaufdringlich beobachtet hatte. Auch er hatte den Kinderschrei gehört, griff sich den neben ihm auf dem Boden stehenden Koffer und hastete zur Rolltreppe. Er drängte sich durch ein paar Umstehende, setzte den Koffer ab und kniete neben dem am Boden liegenden vielleicht sechsjährigen Jungen nieder, der jetzt leise weinte. Da spürte er einen kurzen Schmerz auf seiner Stirn. Er war mit seinem Kopf an etwas angestoßen. »Herrgott, können Sie denn nicht…« Er sprach nicht weiter, als er sah, womit er zusammengeprallt war – mit dem Kopf einer jungen Dame, die sich ebenfalls zu dem Jungen niederknien wollte. In seinen Augen blitzte es auf, als er sah, daß es die junge blonde Frau war, die er vorhin neben dem Kiosk beobachtet hatte.

      »Entschuldigen Sie!« stieß er hervor.

      »Schon gut«, kam die Antwort über Astrids Lippen, die nach dem von der Treppe gestürzten Jungen sehen wollte. »Sind Sie der Vater?« fragte sie und blickte den Mann an, mit dessen Kopf sie zusammengestoßen war. Sie sah in ein Paar blaue Augen, die die Farbe eines Gletschersees hatten. Der Blick aus diesen Augen löste ein seltsames Empfinden in ihr aus, das sie nicht beschreiben konnte, ein angenehmes Empfinden. Errötend wandte sie sich dem Jungen zu.

      »Nein«, antwortete der Mann, der etwa Ende der Zwanzig sein konnte, »so wenig wie Sie die Mutter sein könnten.«

      »Dann gehen Sie bitte etwas zur Seite, damit ich sehen kann, ob und was dem Jungen passiert ist. Ich bin Medizinerin.«

      »Freut mich, eine Kollegin zu treffen – ich bin nämlich auch Arzt, Kinderarzt.«

      Überrascht hob Astrid den Kopf. Wieder trafen sich ihre Blicke mit denen des Mannes, der sich als Kinderarzt ausgab. »Sie… Sie… sind Arzt?« flüsterte sie und wurde verlegen.

      »Ja, und nun wollen wir mal sehen, was dem Kleinen fehlt – Frau Kollegin.« Der Arzt wartete keine Antwort ab. Er kümmerte sich um den Jungen und untersuchte ihn, so gut das in dieser Situation eben möglich war.

      »Gebrochen ist nichts«, erklärte er dann, »und nach inneren Verletzungen sieht es auch nicht aus. Wie heißt du denn?« fragte er den Jungen, dessen Weinen verstummt war. »Wo ist deine Mutti oder dein Vati?«