ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT. Alfons Winkelmann

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Название ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT
Автор произведения Alfons Winkelmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187609



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oder deine Gleichgültigkeit zeigen kannst. Du widerst mich an!“

      „Aber du heuchelst deinen Hass“, sagt er.

      Da spuckt sie ihm ins Gesicht.

      „Pass auf, das Regal“, entfährt es ihm, denn sie lehnt sich dagegen, und es beginnt zu schwanken, so stark, dass ein paar Bücher herausfallen. Sie bückt sich und sammelt sie ein, behält sie aber in der Hand, anstatt sie ins Regal zurückzustellen. Herr Börries denkt schon, sie wollte ihm die Bücher an den Kopf werfen und dazu schreien: „Du und deine Scheiß-Bücher“, wie sie es häufig tut. Die Spucke rinnt ihm an der Wange herab, er zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischt sich das Gesicht ab. Dann sieht er sie an, weil sie erneut laut lacht.

      „Wie dumm du jetzt aussiehst. Das hättest du nicht erwartet, stimmt’s?“ Er sagt nichts.

      Da fällt ihr Blick auf die zerknüllte Zigarettenschachtel. Sie bückt sich wiederum. Im gleichen Moment knirscht etwas, und dann fällt der schwere Messingleuchter herab, ihr genau auf den Hinterkopf.

      Er hat sie nicht umbringen wollen, ganz gewiss nicht, ganz gewiss hat er sie nicht umbringen wollen, besonders nicht an diesem Abend, an dem er doch ein viel zu starkes Verlangen nach ihr hatte. Ihre Augen werden ganz starr, er kann es sehen, ihre grünen Augen. Blut rinnt auf den Teppich, und der Gedanke fährt Herrn Börries durch den Kopf, ganz unwillkürlich: „Wie werde ich ihn bloß sauber bekommen?“

      Weiß er doch genau, wie sehr Elène es hasste, wenn der Teppich verunreinigt war, sei es mit Straßenschmutz, sei es mit Rotwein oder Zigarettenasche. „Immer diese Rotweinflecken“, schrie sie stets, „die kriegt man doch nicht wieder richtig raus! Und diese Zigarettenasche!“ Dann hielt sie immer inne, sah ihn misstrauisch an. „Du rauchst doch wieder heimlich.“ Vergebens, dass er ihr versicherte, nicht er sei es, der die Wohnung mit Zigarettenasche verschmutzte. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort.

      Jetzt aber denkt er: Ich habe sie doch gar nicht umgebracht. Ich habe sie wirklich nicht umbringen wollen. Nicht in Wirklichkeit. Manchmal schon, wenn er abends im Bett neben ihr gelegen hat, hat er gedacht: Ich bringe sie um, dann bin ich sie ein für alle Mal los. Und wieder fährt ihm unwillkürlich der Gedanke an die Baronesse Angélique von Lichtblau durch den Kopf. So ganz deutlich kann er sie nicht erkennen, lediglich ihre kurzen, weißblond gefärbten Haare, den ausrasierten Nacken. Wie sehr gefällt es ihr, wenn er mit dem Finger darüberfährt. Doch dann sieht er wieder Eléne vor sich, unten auf dem Teppich, so starr. Ich habe sie in Wirklichkeit nicht umbringen wollen, denkt er. Nicht am heutigen Abend, selbst nach diesem Streit, der am Ende doch wieder im Bett geendet hätte. Das hätte gar nicht anders sein können. Dann wären sie wilder denn je, das war immer so. Endeten ihre Auseinandersetzungen im Bett, dann waren sie wilder denn je. Sie liebten sich bis zur totalen Erschöpfung, sie konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Immer wieder, immer bis zur totalen Erschöpfung liebten sie sich. Aber jetzt liegt sie da ganz tot, ganz starr, sogar aus dem Mund fließt Blut. Der Dübel hat nicht gehalten, denkt Herr Börries, ich hatte den Dübel nicht fest genug in die Decke eingegipst. Sie hat gleich gesagt, der Dübel sitzt locker, aber ich habe ihr nicht glauben wollen, und da hat sie recht gehabt, denkt er, aber das ist jetzt auch gleichgültig. Und er überlegt, was er tun soll. Den Notarzt rufen? Der kann allerdings nicht mehr helfen. Die Polizei? Die Kommissare würden ihm nicht glauben, die würden glauben, dass er sie umbringen wollte, dass er sie erschlagen hat, vor allem, wenn ihnen die Nachbarn erzählen, dass sie sich an diesem Abend wieder gestritten haben. Das müssen die Nachbarn deutlich gehört haben, überlegt Herr Börries, dass wir uns heute Abend wieder gestritten haben. Sie ihrerseits hören ja auch, wenn die da nebenan sich laut unterhalten. Wie häufig hat Elène ihn unterbrochen, wenn er etwas sagte, wenn er sie ins Bett holen wollte, und gesagt, sie wolle hören, was die Nachbarn zu sagen hätten.

      Ihn wundert es, dass noch niemand bei ihnen geklingelt hat. Es musste doch überall zu hören gewesen sein. Es hat doch, überlegt Herr Börries, einen Höllenlärm verursacht, als der Leuchter herabgefallen ist. Mein Gott, sie ist tot! Sie bewegt sich nicht mehr. Sie ist tot. Er hat es nicht gewollt, nein, niemals hat er das gewollt. Er denkt, er hätte den Messingleuchter besser eingipsen sollen, und er denkt: Was mache ich jetzt bloß, was mache ich jetzt bloß! Ihre Bluse ist ihr aus dem Rock gerutscht, das nimmt er zur Kenntnis, das bemerkt er, das registriert er, und er überlegt nicht, ob es angemessen ist, dass er in diesem Moment so etwas registriert. Er kann nicht die Polizei oder den Notarzt rufen. Wer würde ihm glauben, wer würde ihm glauben, hat er doch gestern noch zu seinem Kumpel Bernhard gesagt, dass er seine Frau manchmal am liebsten umbringen würde. Gestern, vorn an der Theke im Café Die Kaiserin von Österreich. Sie hatten zu viel getrunken, aber Bernhard erinnert sich bestimmt noch daran, und er würde es der Polizei sagen. Was soll Herr Börries jetzt also tun? Was kann er tun? Das Foto da drüben hängt schon wieder schief. Ist das nicht gleichgültig? Das Foto vom Teich. Vom Teich, vom stillen Teich, auf dessen glattem Wasser sich der volle Mond spiegelt (Welcher der Monde war das wohl?). Unser Teich, Elène, unser Teich. Du hast ihn immer so gern gemocht, so gern hast du dort gesessen, wenn es eine klare Nacht war und der Mond so auf das stille Wasser geschienen hat. Aber natürlich …

      Ist die Filmrolle hier schon zu Ende, Willi Be? Schlecht. Genau in diesem Augenblick, wo’s offenbar interessant geworden ist. Ansonsten waren die Aufnahmen allerdings gut, ich glaube, die können wir verwerten.

      Diese ziellosen ersten vier Tage in der Stadt. Peter Piechowiak muss sich nicht auf einen neuen Rhythmus einstellen, sondern auf viele, allzu viele – viele, allzu viele Touristen, die ihre Heimat mit in die Kärntnerstraße tragen. Aus den Gepäckräumen der Busse strömt München, Split, Ulm, Kopenhagen. Die Kameras klicken auf Englisch, Französisch, Japanisch. Tokio kommt draußen in Schwechat am Flughafen an und quillt dann in die Stadt. Eine einzije jroße Weltfamilje. (Ist das ein Zitat, Willi Be?) Immer wieder vergebliche Versuche, sich via Dirndl und Kniebundhose zum Einheimischen hochzuadeln.

      „Sache ma, wo is denn hier dat Hofbräuhaus?“

      „Määnsch, Willi, dat is doch in Münschen.“

      Da war auch Peter Piechowiak einmal zu Hause, obgleich er weiß, dass er da niemals mehr akzeptiert werden würde. Sind die dumpfen Kindheitserinnerungen an eine muffige Stadt. Aber die fliegen zu rasch übers buntgemusterte Dach des Stephansdoms davon. Vom Stephansdom ist er übrigens maßlos enttäuscht. Nichts mit vernünftigem Orgelkonzert. Er denkt: Fehlt bloß noch ein Getränkeautomat vorm Hochaltar. Geht er zur Untergrundbahn, findet dort eine alte, uralte Kirche mit einem verschwommenen Gesicht an einer der Wände. „Keiner weiß net, wer dös sein sollt.“

      Träumt er in der folgenden Nacht, das Gesicht stiege zu ihm herab, legte sich neben ihn. Trat direkt aus der Wand. Hat er am Morgen kaum noch eine Erinnerung daran, wie es ausgesehen. Zum Gott sei Dank, die Tage schönwettrig. Er denkt an jedem Abend, entweder im Pensionszimmer, in der Pizzeria im Erdgeschoss oder im Café um die Ecke, er müsse nun seine Eindrücke des Tages notieren. Ein Tagebuch schreiben. Er schreibt nicht gern.

      Manchmal streift er durch eine Buchhandlung oder ein Antiquariat, sucht müßig herum, denkt ab und zu an Perutz, findet jedoch nur selten ein Buch von ihm. Alles hält ihn in den ersten vier Tagen nahe der Kärtnerstraße, im 1. Bezirk. Als ob anderwärts etwas drohte. Häufig jedoch landet er bei Maria am Gestade, blickt hinunter auf die Straße, die zur Börse führt. (Börsegasse)

      Er nimmt sich jedes Mal vor, diese Straße demnächst weiterzugehen. Schließlich wäre das der direkte Weg zu seiner Pension. Stattdessen immer zurück in die Innenstadt, die U-Bahn genommen, am Donaukanal ausgestiegen, sich durch ein paar Gassen geschlängelt. Kein Vertrauen zur Welt? Vielleicht, weil U-Bahnen vertrauter? Dabei in Göttingen keine U-Bahn. Wie einen Vulkan, den er erwartet und von dem er nicht weiß, ob er ihn gnädiglich aufzunehmen oder zu verbrennen gedenkt. Ein ungeheurer Himmel, an dem der halbe Mond (der zweite schon?) aufgehängt ward. Das an einem der vier Abende, an dem er zurück in die Pension ging.

      Dort ein Zimmer: viel schmaler als hoch. Kein Telegramm von Tina oder … von wem sonst? Endgültiges Abbrechen von Brücken? Stattdessen die müde Nachttischlampe und kein Frühling.

      Schließlich