ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT. Alfons Winkelmann

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Название ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT
Автор произведения Alfons Winkelmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187609



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der Welt jemals gewinnen? Und heute? Was besagt eine hingeworfene Bemerkung? Und wieder sackt ihm der Fußboden unterm Stuhl weg, wie damals, bei dem kurzen Erdbeben. Sieht er die Sterne vor sich und stürzt, stürzt, stürzt zugleich nicht. Im Weltraum kann niemand stürzen.

      Peter Piechowiak fährt sich über die stoppeligen Wangen, springt auf. Wieder etwas, die hinkende Zeit zu überlisten. Der Rasierapparat summt, kratzt die Stoppeln beiseite, kratzt ein paar Minuten beiseite. Die Wangen glatt, rasch noch einen Pickel auf der Nase ausdrücken. Ja, natürlich, die Uhrzeiger ein bisschen weitergekrochen. Sich doch noch einmal der Bibel widmen? Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh. Wie dies sich zu vermehren trachtet, so will auch er sich vermehren. Nun, damit kommt Peter Piechowiak nicht aus. Wirft er sich aufs Bett. Schließt er die Augen und nickt tatsächlich ein. Knallt das Fenster zu und ist plötzlich Sturm und Regen. Darf er seinen Schirm nicht vergessen, nachher. Steht er auf, mittlerweile vier Uhr. Läuft er vom Fenster – der Regen sprüht ins Zimmer wie Rausch – zur Türe, daneben das Waschbecken. Hat er vorhin vergessen, das Waschbecken zu säubern, jetzt nachgeholt.

      Willi Be schläft hinter seiner Kamera ein, es gibt einfach nichts Neues aufzunehmen. Unangenehm, aber nicht zu ändern – tut das einzig Richtige: lässt den Kopf auf die Brust fallen und schnarcht.

      Ich: He, Willi Be, aufwachen, es ist Zeit.

      Willi Be: Hä? Was ist denn?

      Ich: Zeit, zu gehen.

      Was in den vergangenen eindreiviertel Stunden geschehen ist, entzieht sich dank Willi Bes Schlaf leider unserer Kenntnis. Das sind halt die Kompromisse, die man bei einer Reportage immer eingehen muss.

      Sechs Uhr. So eilig hat’s Peter Piechowiak bislang in Wien noch niemals gehabt. Endlich ein Ziel. Und dann ein solches Ziel!

      Er begegnet der jungen Verkäuferin, wie sie gerade das Geschäft verlassen will.

      Plato erzählt vom frühesten Menschen, einem Vierfüßler mit zwei Geschlechtern. In einer entsetzlichen Nacht, in einem von Kräften des Bösen erzeugten Sturm, wurden alle Menschen entzweigerissen, und seither sucht jeder seine andere Hälfte. Jeweils zwei verschiedenen Geschlechts können versuchen, sich zu ergänzen, aber gewöhnlich ist das auf irgendeine Weise unvollkommen. Wenn jedoch ein Teil seine wahre andere Hälfte findet, kann keine Macht der Erde sie voneinander fernhalten oder wieder trennen, sobald sie sich vereinigt haben.

      Wer redet hier von Macht? Der Gewittersturm ist doch wirklich harmlos! Aber wir reden von Wahrheit, von der einen und einzigen Wahrheit.

      Die ersten vier ziellosen Tage in Wien vorüber. Die nächsten Tage werden folgen, gewiss, gewiss. Jedoch nicht mehr ziellos.

      Noch so viel gibt’s zu erzählen, auch angesichts der möglichen Weltkatastrophe.

      Doch was die Liebe einmal zusammengefügt hat, das wird auch die böseste Macht nicht mehr trennen.

      Gönnen wir uns, Willi Be, einmal den Rausch des absoluten Glücks? Bevor wir uns im weiteren Verlauf auch wieder etwas völlig anderem zuwenden, nämlich dem absoluten Unglück?

      Grenzenlose Freiheit in diesem Juli in Wien. Zwei Jeans und drei T-Shirts reichen allemal aus, über die Runden zu kommen. Vor dem Stephansdom steht Peter Piechowiak und singt zur Gitarre. Er nickt dem bebrillten Japaner zu, der ihn erst begeistert fotografiert und ihm anschließend einen Schein in den geöffneten Gitarrenkasten wirft. Ob er enttäuscht wäre, wüsste er, dass Peter Piechowiak gar kein Wiener ist? Peter Piechowiak lächelt und singt weiter. Zum Glück hört ihm niemand wirklich zu, denn er singt die Ballade von dem Mann, der ein kleines Mädchen ermorden wollte. Jene schauerliche Ballade, die gerade in allen Fast-Book-Shops in Wien an hervorragender Stelle zum Verkauf, meist neben der Kassa, ausliegt.

      Gegen zwölf Uhr packt er zusammen. Schlendert vorüber am Dom, zwängt sich durch die engen Gassen und läuft schließlich den Schottenring hinab. Schon bald steht er vor der Buchhandlung Börries – natürlich nicht wegen der Fast-Books, die es da zu kaufen gibt. Die interessieren ihn schon längst nicht mehr. Die haben ihn im Grunde auch nie interessiert. Den schwarzen Gitarrenkasten in der linken Hand, geht er vor dem Geschäft auf und ab, wirft hie und da einen Blick in das Modelleisenbahn-Geschäft nebenan, auf seine Armbanduhr, billiges Modell. Christine Bellinger müsste jeden Augenblick aus der Buchhandlung treten.

      An den kulturellen Denkmälern der Stadt hat er schon längst jegliches Interesse verloren. Wichtig allein bleibt bloß noch Christine Bellinger. Wann endlich spricht ihr Chef die erlösenden Worte, lässt sie ziehen? Es sieht heute wieder so aus, als hielte er sie absichtlich länger zurück.

      Endlich, endlich öffnete sich die Tür, sie tritt heraus, sie fallen sich in die Arme – wie lästig so ein Gitarrenkasten sein kann. Der Chef steht an der Kassa, er sieht ihnen nach, wie sie den Schottenring Richtung Votivkirche hinaufgehen. Was sie sich alles zu erzählen haben, überlegt Herr Börries. Selbstverständlich spielt der dumme Chef eine große Rolle. Dann küssen sie sich erneut, sehen sich in die Augen und küssen sich wieder. Zwei verliebte Kinder. Einen warmen Sommer lang und vermutlich noch viel länger. Und Herr Börries bemerkt gerade, dass er den Bestseller nicht mehr vorrätig hält, den vom Mann, der das kleine Mädchen ermorden wollte. Ein unverzeihlicher Fehler, der ihn vermutlich einen Kunden gekostet hat. Schließlich hat er dem Mann, der das Geschäft gerade verlässt, seinen Ärger deutlich angemerkt. Derlei Fehler sind ihm früher niemals unterlaufen, überlegt er. Früher.

      Peter Piechowiak und Christine Bellinger sitzen auf einer Bank im kleinen Park vor der Votivkirche, inmitten des Verkehrslärms. Das Bimmeln der Tram, bevor sie im Untergrund verschwindet. Sie lassen sich von der Sonne bescheinen. Sie streicheln sich Wange, Haar, fahren sich mit dem Finger über die Lippen und sagen: „Du“, mehr nicht (Da hat sich niemals nicht etwas geändert!). Fühlen sie sich immer noch hilflos ausgeliefert sich selbst, könnten immer noch weinen vor Glück. Vielleicht beutelt ein warmer Wind das leichte Sommerkleid Christine Bellingers, sie wird vergebens versuchen, es festzuhalten. Irgendwann sagt sie:

      „Du, jetzt habe ich aber doch Hunger.“ Sie gehen durch die Unterführung, Hand in Hand, wie sonst?, bleiben kurz vor der Fernseh-Reklame stehen (so viele Monitore!), geben einem Sandler ein 10-Schilling-Stück (was kostet’s sie!). Gehen sie hinüber zur Würstlbude, lassen sich ein Hot-Dog geben, mit süßem Senf, bitte, dazu eine Cola, und sie essen und trinken und sehen sich immer wieder und immer wieder neu an.

      Sind sie Verliebte, die träumen, sie seien verliebt, oder sind sie Träumer, die verliebt sind in einen Traum von der Liebe?

      Im letzten Moment fällt Christine Bellinger ein, dass Herr Börries sie gebeten hat, ihm ein Würstl mitzubringen. Sie sagt: „Tschau, du, bis nachher. Ich muss wieder los.“ Sie küssten sich, sie riechen ihren Senf-Atem, gehen Arm in Arm bis zur Ecke. Winken sich zu.

      Peter Piechowiak verschwindet rasch in der Unterführung. Christine Bellinger summt vor sich hin und lässt sich ins Geschäft treiben.

      „Danke“, sagt Herr Börries, als sie ihm das Würstl auf den Kassatisch legt. Er fragt sie nicht, wo sie gewesen. Er sagt ihr, dass ihm der Bestseller ausgegangen sei, sie verschwindet im Büro und gibt die Bestellung an den Grossisten durch – so einfach ist das.

      Peter Piechowiak geht am Dom vorüber und stellt sich wieder in die Kärtnerstraße. Wimmelwusel, als er die Gitarre aus dem Kasten holt, den geöffneten Kasten vor sich stellt und die Gitarre stimmt. Noch bevor er sein Lied singen kann, fallen die ersten Münzen in den Kasten, Peter Piechowiak singt nicht besonders gut heute, hat Mühe, den Ton zu halten. Die falschen Klänge ersticken jedoch rasch in den Parfümwolken, die um die feinen Damen der Welt wabern. Schräg gegenüber steht der Einarmige im gestreiften Hemd und Melone auf dem Kopf. Er kurbelt vergebens an seinem Leierkasten. Ein paar unartikulierte Geräusche kann er ihm entlocken, das ist alles. Aber der Kalabreser macht den feinen Mann, und darum gibt’s auch für den Einarmigen etwas vom großen Weltkuchen.

      Der Schwarze mit Schlapphut, Trompete in der Hand, schlappt an Peter Piechowiak vorüber und stellt sich einige Meter weiter in Pose. Er gröhlt die „Wonderful world“