ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT. Alfons Winkelmann

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Название ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT
Автор произведения Alfons Winkelmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187609



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nicht. Der See ist nicht für mich, den Traum hake ich als Traum endgültig ab. Die zwölf Monde, sie wandelten sich, ja, ich sah sie – wie langsam kriechen die Erinnerungen – sich wandeln, sich wandeln in … – Auch das kann ich nicht sagen. In Feigen. Ja, vielleicht in Feigen, obwohl ich Feigen – außer in getrocknetem Zustand – noch nie zuvor gegessen habe. Das alles ist jetzt so, weil ich lebe! Lebe!“

      Peter Piechowiak schwingt sich wortlos seinen Rucksack auf den Rücken, sein Buch hat er, kurz bevor der Zug hielt, wieder in einer der Seitentaschen verstaut.

      Er schreitet in die große Halle hinab, wirkt einen Moment, als sei er irritiert, sucht, sucht einen Stadtplan, findet keinen, weiß, er muss bald in der Pension sein. Wo ist die Pension, wo ist er überhaupt hier?

      Draußen vor dem Bahnhofsgebäude springt, trotz der späten Abendstunde, ein kleines Mädchen mit einem Stoffherzen unterm Arm umher. Peter Piechowiak ruft: „Anaëlle!“

      Da hält das kleine Mädchen kurz inne, als hätte es etwas gehört, und springt dann munter weiter und verschwindet irgendwo in den Straßen.

      An diesem Abend, ausgerechnet an diesem Abend, verspürt er ein solch großes Verlangen nach ihr. Er hätte nicht sagen können, warum gerade an diesem Abend, an diesem Abend. Wie Elène so dasteht, wie sie dasteht in der Türe, ihr Büstenhalter zeichnet sich ganz deutlich unter ihrer dünnen weißen Bluse ab. Herr Börries sieht sie an, er sieht sie immer wieder an. Er sagt: „Gut siehst du aus!“ Und sie lacht und streicht sich eine Strähne ihres kurzen dunklen Haares aus dem Gesicht. Sie blinzelt, weil das Licht sie blendet, er hat einfach das Licht einschalten müssen, weil sie so dasteht.

      Sie sagt: „Mach das Licht aus, es blendet.“

      Er sagt: „Nein.“ Sie dreht sich um, und er sagt: „Bleib stehen, bitte, bleib stehen.“

      Sie sagt: „Ich bin doch keine Stripperin, die sich im Scheinwerferlicht vor dir auszieht.“

      „Doch, bitte, tu’s für mich.“

      „Nein, nicht jetzt, ich hab’ heute keine Lust.“

      Unten auf der Straße quietschen Bremsen. Herr Börries hört ein Splittern. Elène hört es gleichfalls, sie dreht sich wieder herum. Sie läuft so rasch an ihm vorüber, dass er sie nicht festhalten kann. Sie stellt sich ans Fenster und sieht hinunter. „Da ist jemand gegen die Laterne unten gefahren“, sagt sie mit ganz monotoner Stimme. „Er steigt jetzt aus und besieht den Schaden. Komisch, auf dem Beifahrersitz, das ist doch verboten, sitzt ein kleines Mädchen mit Rüschenbluse und blauem Rock. Es hält etwas Merkwürdiges im Arm. Ein Stoffherz. Die Laterne ist etwas umgeknickt, das Auto vorn verbeult. Er beugt sich über den Kotflügel.“

      „Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries und überlegt, dass dort unten vermutlich kein kleines Mädchen sitzt. Wahrscheinlich will sie ihm nur zu verstehen geben, dass sie ihn durchschaut hat, und sie will ihn quälen – sich selbst nicht? Quält sie sich selbst mit ihrer Erzählung nicht?

      „Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries jetzt erneut. „Es interessiert mich nicht, selbst, wenn’s stimmt.“

      „Dich interessiert nie etwas, was ich sage. Du glaubst auch nie etwas von dem, was ich sage. Alles, was dich interessiert, alles, woran du glaubst, ist Ficken.“

      Das stimmt nicht, denkt Herr Börries.

      „Doch, das stimmt. Meinst du etwa, ich würde dich nicht kennen? Wir leben schließlich lange genug miteinander.“

      „Genug, komm her“, sagt Herr Börries.

      „Nein“, sagt sie. „Er begeht Unfallflucht, er steigt wieder in den Wagen, hat sich vorher misstrauisch umgesehen, ob ihn auch niemand beobachtet hat. Wenn er wüsste, dass ich ihn beobachtet habe, würde er jetzt nicht einfach zurücksetzen und losfahren, als wäre nichts geschehen. Das mit dem kleinen Mädchen kommt mir irgendwie komisch vor.“ Mit ganz monotoner Stimme.

      „Du langweilst mich.“

      „Müssen wir uns heute Abend schon wieder streiten?“

      „Wieso?“, fragt Herr Börries. „Ich streite mich nicht, ich habe überhaupt keine Lust, mich zu streiten, mit dir sowieso schon nicht.“

      Sie streicht sich über die dunklen Haare.

      Sie will mich herausfordern, denkt Herr Börries.

      „Ich hab’s gewusst, du bist verödet“, sagt sie. „Schon lange taugst du nichts mehr, schon lange frage ich mich, weshalb wir beide eigentlich noch zusammenleben.“

      „Jetzt fängst du schon wieder damit an. Warum siehst du mich nicht an, wenn du mit mir sprichst?“

      „Du ödest mich an. Wenn ich dich ansehen muss, bekomme ich vor lauter Öde kein Wort mehr heraus. Ich hätte mir die Autonummer merken sollen.“

      „Wozu?“

      „Na, das ist doch klar! Was meinst du, wenn jeder einfach davonfahren würde, nachdem er eine Straßenlaterne beschädigt hat. Und außerdem, die Sache mit dem kleinen Mädchen. Das kommt mir nicht geheuer vor.“

      „Jetzt lass das kleine Mädchen aus dem Spiel und lenk nicht immer ab!“

      Herr Börries nimmt die Zigarettenschachtel – verdammt, schon wieder! Warum lässt er sie immerzu einfach so in der Wohnung liegen? – Er zerknüllt sie und will sie in den Papierkorb werfen, trifft jedoch daneben. Die zerknüllte Zigarettenschachtel fällt auf den Teppich. Er ärgert sich darüber, bringt es jedoch nicht fertig, aufzustehen und sie aufzuheben. Die Zigarettenschachtel liegt genau unter der Lampe, die sie erst vor ein paar Tagen gekauft haben. Ein schwerer Messingleuchter, den er mit viel Mühe in die Decke gedübelt hat.

      „Weißt du“, sagt Elène auf einmal, „wir sollten uns trennen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, was wir uns nicht schon hunderte von Malen gesagt hätten. Ich bin’s leid, immer dasselbe zu sagen.“

      Herr Börries ist weniger erschrocken, als er vielleicht hätte sein müssen, denn sie hat nur ausgesprochen, was er selbst schon oft genug gedacht hat. Außerdem muss er bei ihren Worten an die Baronesse Angélique von Lichtblau denken. Aber er schiebt ihr Bild für den Augenblick beiseite. Oft genug, so überlegt er, hat er schon im Bett neben Elène gelegen und gedacht, dass es wohl besser wäre, sie würden sich trennen. Doch dann überkommt ihn erneut dieses Verlangen nach ihr. Nein, sie hätte es nicht gerade in dem Augenblick sagen dürfen, in dem er ein solches Verlangen nach ihr hat.

      „Komm her“, sagt er, „bitte!“ Und er versucht, seinen Ärger über ihre Worte nicht in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.

      „Was faselst du da?“, fragt Elène. „Du bist doch ein Heuchler!“

      Immer nennt sie ihn einen Heuchler, wenn er versucht, einen Streit dadurch beizulegen, dass sie miteinander ins Bett gehen.

      „Nein“, sagt sie, „heute Abend bleibt dein Schwanz in der Unterhose, nein, heute Abend nicht. Ich bin es leid.“

      „Du hast einen anderen“, sagt er, und wieder denkt er an die Baronesse. Sie beginnt zu lachen, lauthals zu lachen, so laut, wie er es von ihr schon lange nicht mehr gehört hatte. So laut und zynisch.

      „Etwas anderes fällt dir dazu nicht ein“, sagt sie, immer noch lauthals lachend. „Das ist mal wieder typisch. Nein, du Heuchler, ich … und was wäre, wenn ich einen hätte? Was wäre, wenn?“ Sie hält kurz inne. „Und was ist denn mit dir?“

      Er erschrickt. Weiß sie etwa von der Baronesse?

      „Jetzt erschrickst du – oder spielst du nur den Erschreckten? Bestimmt spielst du nur den Erschreckten. Du kannst nichts anderes als spielen, das weiß ich doch genau.“

      „Komm“, sagt er, „ich habe es nicht so gemeint.“

      „Doch!“ Sie sieht ihm – jetzt auf einmal doch – direkt