ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT. Alfons Winkelmann

Читать онлайн.
Название ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT
Автор произведения Alfons Winkelmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187609



Скачать книгу

jemand – wie hieß er doch gleich? Ja, Peter Piechowiak mit am Tisch gesessen hat. Meist ziemlich müde, die Arbeit schlauchte doch sehr. Aber nicht das war’s, was mich von den Übrigen trennte.“

      „Können Sie das näher erläutern?“

      „Ja, ich kann. Das waren alles Langweiler. Vernarrt in ihre Pipi-Probleme, anödend bis zum Geht-Nicht-Mehr. Soziokultur zwischen systematisierter Innovations-Akzeleration und qualitativer Interpretations-Problematik. Meinen Sie, so etwas hätte mich interessiert?“

      „Sind Sie jetzt nicht ungerecht?“

      „Natürlich bin ich ungerecht. Oder kennen Sie jemanden, der gerecht wäre? Trotz allem habe ich sie ja irgendwie gemocht. War eine Abwechslung zur Ödnis, die meine Arbeit so mit sich brachte.“

      „Wer oder was war denn nun öde?“

      „Wie? Ach, alles. Nehmen Sie Tina, zum Beispiel. Unheimlich lieb und nett, wahnsinnig engagiert, setzte sich ein, wie es nur eben ging. Verbrachte halbe Nächte damit, diese alternative Kneipe, in der sie da arbeitete, in Schwung zu halten. Haben die sie dennoch von gleich auf jetzt an die Luft gesetzt, als es ernst wurde. Als die Studenten mit einem Male nicht mehr so viel Geld fürs abendliche Bier ausgeben konnten. Arbeitete sich daraufhin in diesem Arbeitslosenselbsthilfezentrum halb zu Tode, für nix und wieder nix. Ob ihr jemals aufgefallen ist, dass es bei jeder unangenehmen Sache hieß: ‚Das wird die Tina schon schmeißen?‘ Ja, es stimmt, dass ich sie sehr gern hatte, vielleicht sogar ein bisschen in sie verliebt war. Kann sein, dass ich nur wegen ihr freitags zum Stammtisch gegangen bin.“

      „Und das können Sie so einfach alles zurücklassen?“

      „Ja, das kann ich. Sonst säße ich nicht hier im Zug, hätte nicht den Vorzug eines Vorzugs ergriffen.“ Lacht kurz auf. „Gestern Abend habe ich den Vollmond über der hohen Fichte hinter meiner Wohnung gesehen.“

      „Und?“

      „Nichts und. Vielleicht ist dem Vollmond der merkwürdige Traum zu verdanken, den ich heute Nacht geträumt habe.“ Schließt die Augen, erinnert sich.

      „Als ich heute früh erwachte, kam es mir so vor, als hätte ich im Traum eine Geschichte geschrieben – auf eine solche Idee bin ich zuvor noch nie verfallen. Genau kann ich mich an sie auch nicht mehr erinnern. Sehen Sie das kleine Mädchen dort drüben am Bahnsteig? Das mit dem Stoffherzen unter dem Arm? Merkwürdige Dinge kamen in diesem Traum vor: Ein Teich, auf dessen Oberfläche die Fichten schwere Mondschatten warfen. Ich selbst saß im Schilf und hatte Angst vor dem Wasser. Sie wissen, diese ungetrübte Angst, die man nur im Albtraum empfinden kann. Vor etwas in dem schwarzen Wasser fürchtete ich mich. Kurz zuvor war etwas ins schwarze Wasser geglitten, die Fische glotzten mich an, ruhig, bewegten sich nicht. Dann hatte sich der Vollmond durch die Zweige gedrängt und sah mich voll Spott an. Das war ein Mond, auf dem keine Astronautenspuren den Sand entehrt hatten – genauso dachte ich das im Traum. Und von Zeit zu Zeit immer wieder dieses Plätschern. Da durfte etwas nicht wiederkehren. Das Schilf schnitt mir in die Hände, ich fühlte das Blut tropfen und musste doch entlangstreifen. Denn das Blut überdeckte etwas. Nur was es war, das wusste ich nicht. Und der Mond lachte bloß dazu. Ein bisschen blöde sah er ja schon aus, wie er so im schwarzen Himmel hing. Ich wollte aufstehen und fortgehen, aber Sie wissen selbst, dass man im Traum häufig nicht fortgehen kann. Also musste ich im Schilf hocken bleiben, spürte dabei unter mir ein Rollen und Hämmern wie jetzt hier im Zug. Immer wieder der Gedanke, das ist eine Geschichte, die du aufschreiben musst. Ich war zugleich Protagonist und Beobachter. Fragen Sie nicht, wie das sein konnte. Und endlich gelang es mir, aufzustehen und fortzugehen. Das waren die schweren Bewegungen eines Traums. Einmal stürzte etwas durch die Zweige: ein Messingkronleuchter. Als ich das begriffen hatte, musste ich nicht etwa lachen – wie absurd war das schließlich – im Gegenteil: Die Angst umklammerte meinen Magen desto fester. Der Rückweg – ich wusste, es war ein Rückweg – war schwer, doch völlig lautlos. Der Boden war weich, die Zweige wichen von selbst zurück, der Mondschein drängte nahezu unverschämt zu Boden. Eine Last war mir von den Schultern genommen worden. Welche? Ein Transporter, wie ich ihn in Göttingen gefahren hatte, stand auf einem Feldweg. Keine Möglichkeit zu wenden. Dank der beiden Außenspiegel gelang es mir jedoch gut, rückwärts zur Straße zu fahren. Erst dort fiel mir auf, dass ich das Licht nicht eingeschaltet hatte. Das Mondlicht glänzte auf der nassen Fahrbahn. Hinter der Baumgruppe drüben hätte ich niemals einen Teich vermutet. Die Angst umklammerte meinen Magen nicht mehr ganz so fest. Im Wagen roch es nach Blut. Das Lenkrad fühlte sich glitschig an. Dennoch fuhr ich, so rasch es nur gehen wollte, wiederum völlig lautlos. Nur dieses Rumpeln und Hämmern wie in einem Zug.“ – Gute Aufnahmen, Willi Be. Danke!

      „Haben Sie für Ihren Traum eine Erklärung?“

      „Heiße ich Freud? Aber die Geschichte ist ja noch längst nicht zu Ende. Diese Nacht war eine Nacht der Albträume. Wäre ich abergläubisch: keine gute Voraussetzung, alle Brücken hinter sich abzubrechen und fortzugehen.“

      „Sie sind nicht abergläubisch?“

      Er lacht laut. „Was denken Sie! Natürlich. Da schossen mondweiße Wolken über den Himmel, jetzt in einer Stadt. Eine große Stadt, trotzdem waren die Straßen leer. Glänzendes Kopfsteinpflaster. Neonlampen schwankten trunken von einer Seite zur anderen. Es musste gerade geregnet haben, meine Brille…“ (Peter Piechowiak trägt gar keine Brille) „… war tropfenvoll. Trotzdem sah ich so gut wie nie zuvor. Ich sah einen jungen Mann in einem Hauseingang stehen, neben sich einen schwarzen Gitarrenkasten.“

      „So einen wie Ihrer hier?“

      Er lacht erneut. „Ja, genau so einen. Unsere Blicke trafen sich, der junge Mann öffnete den Mund und begann, mit unsicherer Stimme eine Ballade zu singen. Irgendwie ging es darin um einen Mann, der schwere Schuld auf sich geladen hatte, aber den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr. Dann geschah etwas anderes, überaus Merkwürdiges: Ein kleines Mädchen in weißer Rüschenbluse und kariertem Röckchen, ein Stoffherz, aus dem es rot tropfte, unter dem Arm, rannte an uns beiden vorüber. Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Wie seltsam, dass um diese späte Uhrzeit ein so kleines Mädchen noch allein über die Straßen läuft. Irgendwie spürte ich jedoch eine Verbundenheit zu dem Mädchen, auch, als es schon längst nicht mehr zu sehen war. Alles war so rasch gegangen, dass ich mich fragte, ob ich es wirklich gesehen hatte. Und als ich zum Hauseingang hinüberschaute, war der junge Mann mit der Gitarre nicht mehr zu sehen. Allerdings war das Gefühl zurückgeblieben, dass etwas geschehen würde, was mich, Peter Piechowiak, betraf. Und zwar etwas ganz, ganz furchtbar – Schönes. Seltsame Verbindung, nicht? Furchtbar Schönes. Vor dem Schönen fürchten wir uns.“

      „Wir? Wir fürchten uns nicht vor dem Schönen.“

      Er lacht jetzt laut. „Gut, Sie fürchten sich vielleicht nicht davor. Sie sind schließlich substanzlos. Aber wir Menschen, wir mit Substanz, wir fürchten uns. ‚Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.’ Kennen Sie den Satz? Allerdings …“ Zögert jetzt. „Ob das wirklich stimmt? Im Traum hatte ich trotz allem ein ganz anderes Gefühl. Dass das Schöne nämlich zugleich Freiheit und lebenslanges Gefängnis verheißt.“

      Er sieht eine Weile lang zum Fenster hinaus, sagt dann: „Was ich in Wien erwarte? Vielleicht, diese Freiheit und Schönheit zu finden.“

      Dann wirft er das Haar zurück und wendet sich wieder Willi Bes Kamera zu. „Vielleicht hätte ich doch nach Brasilien fahren sollen. An den Amazonas. Wenn das Geld dazu gereicht hätte. Aber wer weiß, vielleicht komme ich trotzdem eines Tages dorthin. Vielleicht nicht alleine. Komische Ideen kommen einem in so einem Zug, finden Sie nicht auch?“

      Ein Wägelchen klingelt draußen durch die Gänge. „Kaffee?“ Ja doch. Zwar viel zu teuer. Aber tut gut.

      „Wenn ich jetzt beginnen sollte, irgendetwas zu resümieren, müssten wir viel weiter als bis Wien fahren. Oder stimmt das etwa auch nicht? Da gab’s vor meiner Abreise noch ganz andere, völlig verschwommene Träume. Es sieht beinahe so aus, als würde in Wien tatsächlich etwas Wundersames geschehen.“

      Peter Piechowiak kneift die Augen zusammen, als dächte er über etwas nach.

      „Irgendwann“,