ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT. Alfons Winkelmann

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Название ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT
Автор произведения Alfons Winkelmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187609



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gab sie weiter – an wen? Ich weiß es nicht. Wenn ich es nur wüsste!“

      Er springt auf, denn die Bremsen kreischen, der Zug wird langsamer. Er schnappt sich seinen Rucksack und seinen schwarzen Gitarrenkasten und bereitet sich aufs Aussteigen vor.

      Auf dem Bahnhof in Passau stehen so viele Reisende in Erwartung des nächsten Zuges. Jetzt wirklich der Prinz Eugen nach Wien. Peter Piechowiak mustert die Umstehenden, insbesondere eine blonde Frau im schwarzen, ärmellosen Kleid – kein Trauerkleid! –, die offensichtlich auf jemanden wartet, der im nun einfahrenden Eurocity sitzt. Peter Piechowiak spürt die Glätte ihrer ausrasierten Achselhöhlen unter seinen Fingern. Ein bisschen fühlt er sich an Tina erinnert, obwohl Tina in ihrer chaotischen Alternativität – Alternaivität, denkt er und lächelt – so etwas wie einen Lady-Shaver niemals an sich herangelassen hätte. Wieso ihm nun gerade diese Unbedeutsamkeit ein- und aufgefallen ist, kann Peter Piechowiak nicht sagen. – Wir haben ihn allerdings auch nicht danach gefragt.

      Auch der Prinz Eugen gibt sich den Anschein, als könne er nicht anhalten. Auf jeden Fall verbreiten die Frau und der Mann, der ihr in die Arme fällt, so etwas wie eine sanfte Zärtlichkeit. Peter Piechowiak bedauert, sie verlassen zu müssen. Er bemerkt zu spät, dass er sich vor einem zwitschernden Walkman niedergelassen hat, ein Zwitschern, das erst der Lärm des fahrenden Zugs erstickt. Willy Bes Kamera gleitet über ermüdete Gesichter. Erschöpft von dem schier endlosen Landschaftsfilm vor dem Fenster. Obwohl gerade jetzt der schönste Abschnitt der Fahrt. Vielleicht jedoch nicht nach sechs Stunden. So handlungsarm dürfte allenfalls eine Spätvorstellung sein. Aber selbst die ist nach zwei, zweieinhalb Stunden vorüber. Nur noch wenige Bahnhöfe, auf denen die Filmrolle gewechselt wird, der Inhalt ansonsten derselbe bleibt. Peter Piechowiak zieht ein Buch – mit blauem Umschlag, den Titel können wir nicht erkennen – aus einer Seitentasche seines Rucksacks und beginnt zu lesen. Willi Be filmt ihn, wie er sich eine Haarsträhne hinters Ohr streicht.

      Wir fragen ihn weiter nach seinen Albträumen.

      „Sie können mich auch nicht für fünf Minuten in Ruhe lassen, oder?“ Er legt das Buch beiseite. „Zwölf Sonnen sah ich am Himmel stehen. Wahrscheinlicher jedoch waren es zwölf Monde, denn es war ziemlich kühl. Ein Himmel mit zwölf Sonnen oder Monden? Jetzt fällt es mir wieder ein: Ich wusste genau, dass es zwölf Monde waren. Und mittendrin ein Mond blutig-rot wie eine klaffende Wunde im Himmel. Und aus dieser Wunde tropfte der Tod. Das dachte ich, haargenau. Solche Träume vergisst man nicht. Der erste Mond beinahe so gleißend wie eine Sonne. Die Erde ein fahles Blau. Eine ungeheure Weite. Was mich die meinen Magen umklammernde Hand wegdrücken ließ, war die Gewissheit, dass nicht ich dort stand. Sehen Sie – sehen Sie! Ein Himmel genau wie jetzt dort draußen.“

      „Wo?“

      „Für einen Augenblick sah ich die zwölf Monde wieder am Himmel stehen. Entschuldigen Sie bitte, die Erinnerungen können manchmal so stark sein. Nur Bruchteile von Sekunden dauern vermutlich solche Albträume. Dehne ich sie jetzt ins Weite. Schließlich gebar der Himmel tatsächlich den Tod. Die Monde erloschen im nämlichen Augenblick. Dafür brannte weit hinter diesen Himmeln ein neues Licht. Merken Sie eigentlich, was man erzählt, wenn man Albträume erzählt?“

      „Fahren Sie ruhig fort, das können wir ja gegebenenfalls schneiden.“

      „Verdammt, gerade das sollen Sie nicht schneiden!“ Voller Empörung. Dann fährt er fort: „Irgendetwas war dann da mit Osten. Im Osten erhob sich nämlich jetzt der neue Tag. Eigentlich bedauerlich, dass die Sonne im Westen untergeht, nicht? So etwas denke ich nachträglich meinen Albträumen hinzu. So auch, dass einer der mittleren Monde gelegentlich verschwommen hinter einer Wolke hervorblinzelte. Beunruhigend auch die klangleere Luft – dieses ungenügende Erklären! Dafür umfloss mich – mich – jetzt etwas Weiches mit einem Duft nach Kastanie. Kann der da hinter mir nicht mal seinen Walkman abstellen? Und etwas raste kometengleich auf mich zu. Das war das Todesblau. Der Komet brannte blau. Zugleich damit, kurz, leicht säuerlicher Schweiß. Gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Wie langsam sich die Träume ins Gedächtnis zurückschieben!“

      „Sie sagten doch vorhin, so etwas vergäße man nicht?“

      „Zwischen Nicht-Vergessen und Erinnern besteht ein gewaltiger Unterschied. Übrigens nett von Ihnen, dass Sie mir zumindest zuhören. Darüber sich bei unserem Freitag-Stammtisch zu unterhalten, wäre schlichtweg nicht möglich gewesen.“

      „Und Tina?“

      Peter Piechowiak errötet. Hat er Tina also doch geliebt?

      „Sie war mir – trotz allem – zu fern. Nein, darüber habe ich – gelegentlich – mit Karina gesprochen.“

      „Wer war Karina?“

      Erneutes Erröten.

      „Das werde ich Ihnen nur dann sagen, wenn Sie’s schneiden.“

      „Einverstanden.“

      „Eine mögliche Antwort darauf fand ich übrigens einmal während meines Germanistik-Studiums.“

      „Sie haben Germanistik studiert?“

      „Nur zwei Semester. Ich fand’s ansonsten zum Kotzen. Verleidete mir jeden Spaß am Lesen. Brauchen Sie nicht zu schneiden. Der dritte der Monde war übrigens unser hauseigener blöder Mond. Ist Ihnen niemals aufgefallen, wie dämlich der grinst? Liegt wohl daran, dass er dann voll ist. Das Ungenügen der Ratio gleich der Sprache. Vielleicht auch ein Grund, weshalb ich auch mal Mathematik studiert habe. Zwei Semester. Bin dann über den Hilbert-Raum gestolpert, und die Prüfer waren der Auffassung, dass ich zwar sehr gut reden könne, ansonsten jedoch keine Ahnung habe. Konnte tagelang vor der Abbildung eines Möbius-Bandes sitzen und keinen klaren Gedanken mehr fassen. Damals sagte Karina übrigens zum ersten Mal, ich möge mir nun endlich einfallen lassen, was ich denn wirklich wolle. Das war der Anfang vom Ende. Den vierten Mond zerschnippelten ein paar andere Wolken. Dieser Mond sah aus wie ein eingedrücktes Ei – das Ei des Kolumbus. Denn der fünfte hatte einen Gebirgszug, der wie die Vereinigten Staaten von Amerika aussah – wo Kolumbus ja bekanntlich niemals gelandet ist.“

      Draußen das hell angestrahlte Schloss, ein ungesundes – ungesundes? – Orange, das die Stadt etliche Kilowattstunden kostet. Besoffen von der eigenen Energie.

      „In der Germanistik-Bibliothek standen etliche Bücher, die so verstaubt waren, dass man einen Hustenanfall bekam, wenn man sie aus dem Regal nahm. Die Staubbücher, gewissermaßen. Ich glaube, diese Bibliothek war das größte Antiquariat vor Ort.“

      „Keine weiteren Albträume?“

      „Alles, was ich Ihnen jetzt schildere, sind Albträume. Das war Linz? Wenn Sie’s sagen, wird’s wohl stimmen. Dann sprach ich im Traum Französisch – la lune, elle est heureuse. Dabei spreche ich überhaupt kein Französisch.“ Auch Peter Piechowiak ist bereits müde, so müde von einer langen Bahnfahrt, ebenso wie wir. Sieben Stunden bis jetzt. Frankreich. Karina wollte immer einmal mit ihm nach Paris fahren, erzählt er so nebenbei. Ist aber nie etwas draus geworden. „Spüren Sie diesen plötzlichen Sog? Der Zug fährt auf einmal viel schneller. Zumindest erscheint es so. Dort wird etwas geschehen, dessen bin ich mir nun auf einmal sicher.“

      „Dort?“

      „In Wien, Sie Dämlack.“ Dieses Wort ist Öl für Willi Bes Kamera. „Weiß gar nicht genau, wo ich da eintreffe. Muss mir also eine Taxe nehmen.“ Wir haben noch über eine Stunde bis Wien. „Da ist eine urtümliche Erregung in mir, die ich absolut nicht begreifen kann, die dadurch nur umso angenehmer ist. Da ist etwas, was mich lockt, was mich zieht, viel stärker beunruhigt, aber nicht ängstigt, wie die zwölf Monde über der fahlblauen Erde. Oder der todesblaue Komet. Ich habe das Gefühl, als begänne ich jetzt zu leben – zu leben! Mann, verstehen Sie das? Und wissen Sie, ich freue mich darauf, im Stephansdom ein vernünftiges Orgelkonzert zu hören, oder weiß Gott wo immer. Und auch nicht allein. Auf einmal bin ich mir sicher, dass ich solche Konzerte niemals alleine besuchen werde.“

      „Weshalb?“

      „Weshalb? Wenn ich das sagen könnte. Der letzte Albtraum war nämlich keiner mehr. Sie erinnern sich, der Kastanienduft