Wie isses nur tödlich. Günther Seiler

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Название Wie isses nur tödlich
Автор произведения Günther Seiler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745046359



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      1. Geschichte: Die Boßeler

      Akke Döhring-Feyke sah an diesem frühen Samstagmorgen mit besorgter Miene in den Himmel. Am Vortag hatte es noch sehr gestürmt und geregnet. So langsam beruhigte Akke sich. Seit Tagen beobachtete er den Wetterbericht und nach den Tagesschaunachrichten durfte seine Frau Nelli in diesen Tagen während des Wetterberichtes im Fernsehen keinen Mucks von sich geben. Akke sah und hörte sich angestrengt den Wetterbericht nicht nur an, nein, er saugte die Informationen nur so aus dem Fernsehgerät. Neben seiner Fernbedienung für die Flimmerkiste hatte er rechtzeitig einen Kugelschreiber und seinen Block gelegt, um sich die wichtigen Daten zum Wetter aufschreiben zu können. Auch prüfte Akke schon mit einer beunruhigenden Manie die Messgeräte im Haus für den Luftdruck in Hektopascal, starrte mit einem bedenklichen Blick auf das häusliche Messgerät aus Bayern, das mit knorrigen Wurzeln dekoriert an der Wand die Zimmertemperatur, die Luftfeuchtigkeit und den Luftdruck maß . Diese Station war im letzten Urlaub in Bayern mit in den vollen Koffer gestopft worden. In dem Arbeitszimmer von Akke hing an der Decke ein Glasgefäß mit blau gefärbtem Wasser, ein sogenanntes Goethebarometer. Wenn der Luftdruck stieg, also sich schlechtes Wetter ankündigte, stieg ein Teil des Wassers in eine kleine gebogene Röhre. Allerdings konnte seine Frau Nelli ihm schon Tage vorher von einem drohenden Wetterumschwung durch ihre Kopfschmerzen berichten. Seine Frau war als Oberärztin in dem Landeskrankenhaus in der Psychiatrie in Emden tätig.

      Akke war im Beruf Richter an dem Amtsgericht in Aurich und kümmerte sich um die hilflosen Personen in seinem Gerichtsbezirk. Er war der Betreuungsrichter und musste sich um Einweisungen in Altenheimen und in Krankenhäusern mit angegliederter Psychiatrie kümmern. Kein leichter Job, denn Akke musste sich jeden Fall selber ansehen und das bedeutete, dass er immer viel auf Achse war. Die Anzahl der Menschen, die an Demenz und Alzheimer erkrankten, nahm zu und Akke ging immer ganz lieb mit diesen Personen um. Er litt immer mit, wenn er hilflose Personen in deren Haus aufsuchen musste, die mit den ungewöhnlichsten Verkleidungen in ihrem Haus oder Wohnung herumliefen. Häufig wurde er von zuhause zu einem Notfall gerufen, wenn sich hilflose Personen ausschlossen ausgeschossen hatten und nur spärlich bekleidet auf der Straße herumirrten. Dann musste er als zuständiger Richter prüfen, ob eine sofortige Einweisung erfolgen musste oder nicht. Die Polizeibeamten waren immer ganz froh, wenn sofort ein Richter hinzugezogen werden konnte.

      Aber Akke beobachtete das Wetter nicht aus beruflichen Gründen. Akke war der erste Vorsitzende des Boßel- und Klootschießer Verein Upgant-Schott und Marienhafe e.V. Der Ort Upgant-Schott liegt auf einer Linie von Greetsiel nach Aurich. Jedes Jahr am ersten Samstag im November veranstaltete dieser Verein mit seinen vierundsiebzig eingeschriebenen Mitgliedern auf der Kreisstraße einen Boßelwettbewerb. Beim Boßeln treten zwei Mannschaften mit jeweils zwei oder vier Gruppen, je nach Alter der Mitglieder, mit einer Hartgummikugel, die Holz genannt wurde, gegeneinander auf der Straße an. Das Holz sollte mit Schwung möglichst gerade auf der Straße, ähnlich wie beim Kegeln, eine große, gerade Strecke zurücklegen. Gut trainierte Boßeler schaffen es auch schon mal, das Holz zweihundert Meter weit auf der Straße zu rollen. Falls das Holz in den Graben kullert und das kommt häufig vor, wird es mit einem Stock, an dem ein kleiner Fangkorb befestigt war, aus dem Schlot, wie hier der Seitengraben heißt, heraus geholt. Das Klootschießen war von der Technik ähnlich, nur lag hier der Unterschied darin, dass der Wettkampf bei Frost auf dem Feld oder auf der Weide stattfand. Diese Sportart war älter als das Boßeln. Zurück zum Boßeln. Hinter jeder Mannschaft wird ein Bollerwagen gezogen, auf dem das Zielwasser, Speck und Würste mit frischem Brot gelagert werden. Regelmäßig wird angehalten, die Strecke nachgemessen, notiert und dann Bier und Korn getrunken. Es ist ja im November kalt und meistens hier in Ostfriesland diesig oder sogar richtig dick neblig. Da in der Mannschaft eine Menge an Mitgliedern liefen, müssen die Autofahrer mit Warnflaggen auf den Boßelwettbewerb hingewiesen werden. Die meisten Autofahrer aus Ostfriesland kennen das Spektakel, halten an und warten, bis die Würfe erfolgreich vorbei sind. Andere Autofahrer aus anderen Bundesländern halten ebenfalls an und sehen ganz fasziniert zu, was für einen Wettbewerb die Ostfriesen hier mit allem Ernst veranstalten. Am Ende der über Kilometer langen Strecke liegt immer ein gemütliches Lokal, wo es Grünkohl mit Pinkel, Bier und Köm gibt. Bei Pinkel handelt es sich um eine sehr leckere Grützwurst mit feinen Zutaten und der Köm ist schlicht der kalte Korn.

      Akke hatte zusammen mit seinem zweiten Vorsitzenden Fokken Albers, der ersten Schriftführerin Heddine Altendorf und dem Jungendwart Uffe Helms in diesem Jahr die Tour ausgearbeitet. Sie waren die Strecke einige Kilometer abgefahren und teilweise sogar zu Fuß abgelaufen. Dabei waren die Gefahrenstellen in eine topografische Karte eingezeichnet und jede Straßenbiegung sogar mit den jeweiligen Gradkrümmungen aufgeschrieben und mit einem Leuchtmarker bunt gekennzeichnet worden. Die Planungsarbeiten waren streng geheim. Es kam aber immer wieder vor, dass sie während der Abgehphase Mitglieder vom Boßelverein trafen, die ganz besonders langsam an ihnen vorbeifuhren und sich wie Touristen verhielten: „Na, was machen Sie denn da, was haben Sie denn da für eine lange Angel mit diesem merkwürdigen Flechtkorb am Ende. Wollen Sie hier im Schlot Fische fangen? Schmecken die denn?“ Der Jugendwart Uffe Helms sagte dann nur: „Moin, Moin, fahr weiter, du Klugschnaker, und sag den Anderen nicht, wo du uns gefunden hast.“ Die Straßenabschnitte wurden eben völlig geheim gehalten und von den „Offiziellen“ drang kein Sterbenswörtchen nach Draußen. Die örtliche Presse kannte den Boßeltermin, berichtete in der Zeitung davon und druckte auch Fotos von den Akteuren ab. Dabei wurden die Punktestände vom letzten Jahr nochmals in Erinnerung gebracht.

      Jedes Jahr wurde die Strecke für die Boßelfreunde geändert und alle fieberten immer dem Termin entgegen. Es wurde vorher auch schon fleißig geübt und in der letzten Vereinssitzung, die mit der Leerung des Sparclubs verbunden wurde, legten sie durch Losentscheid die Mannschaften fest. Immer wieder versuchten einzelne Mitglieder, mit kleinen Bestechungsversuchen die Mannschaften zu tauschen, was an sich auf einer Jahreshauptversammlung vor Jahren eindeutig geregelt worden war. Das gezogene Los galt und war nicht übertragbar oder durfte getauscht werden. Aber wie die Menschen nun einmal sind, sie versuchen es immer wieder.

      In diesem Jahr ging die Jahresboßeltour von Upgant-Schott über Marienhafe zu dem kleinen Ort Rechtsupweg. Sie mussten der Kreisstraße folgend die Bundesstraße 72 überqueren, was nicht ungefährlich war. Daher hatte Akke neben den üblichen behördlichen Genehmigungen dieser Tour, diese musste bei dem Amt angemeldet werden, mit dem Polizeipräsidenten, den er beruflich gut kannte, vereinbart, dass die Polizei diesmal die gesamte Tour mit zwei Streifenwagen absichern und begleiten sollte. Der Polizeipräsident hatte zu ihm gesagt: „Akke, sorge dafür, dass eure netten Damen meinen Beamten mit der Kornbuddel vom Streifenwagen bleiben. Bei einer letzten Absicherung in Emden von einem anderen Boßelverein mussten wir die Besatzung betrunken und schlafend im Dunkeln aus dem Streifenwagen ziehen. Die Kömbuddel lag noch vor dem Peterwagen.“ Akke hatte nur gelacht und genickt.

      Der wichtige Tag brach an, der Samstag war da und die Sonne lachte und schickte sogar einige wärmende Sonnenstrahlen nach Ostfriesland. Bei Akke in seinem schmucken, reetgedeckten Haus in Marienhafe war die gesamte Boßelführung versammelt und die Schriftführerin telefonierte noch mit dem Wirt des Ankunftslokales in Rechtsupweg. Es handelte sich um die Wirtsleute Meta und Rindelt Buhrfeind. Heddine wollte nochmals sicher gehen, ob alles in Ordnung war und ob der Grünkohl rechtzeitig frisch auf die Tische kommen würde, denn die Mannschaften würden bei der Ankunft in dem Lokal ‚Windschiefe Kate‘ fertig mit Jack und Büx sein und großen Kohldampf haben. Die Rücktour nach dem Essen und dem gemütlichen Beisammensein mit den Angehörigen und Partnern, die nachkamen, geschah mit privaten Autos oder Großraumtaxen, da am Ende der Boßelfeier kein Bus mehr fuhr. Hätte am etwas Geduld , könnte man auch den ersten Bus nehmen.

      Die Vereinskopferten, wie sie im Boßelverein liebevoll genannt wurden, fuhren mit ihren Fahrrädern von Akkes Haus zum Vereinslokal in Marienhafe. Dort hatten sich schon die Mannschaften versammelt und trampelten von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Sie unterhielten sich angeregt und ausgelassen und es wurde viel gelacht. Die Kömbuddel kreiste schon bei der ersten Mannschaft und als sie die Buddel an die Mannschaft drei herüber reichen wollten, winkten diese ab. Einer von ihnen grölte herüber: „Wir wollen eine gute Pole position und gleich mit voller Kraft die ersten dreihundert Meter mit dem Holz schaffen, damit wir uns euch Saufköppe mit eurer Kömfahne vom Hals halten.“ Von der ersten Mannschaft ertönte nur hämisches Gelächter und