Das Erbe. Helmut H. Schulz

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Название Das Erbe
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847660040



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war ein mächtiger, kompakter Fleischberg, ganz Ruhe. Alters wirkte dagegen beweglicher, seine Gestalt war nur mittelgroß. Gablenz benötigte seine Brille nur zum Lesen und Schreiben, aber Alters brauchte dauernd eine Brille.

      «Wer hat die Dias?»

      «Sie sind im Wagen», sagte Alters.

      «Dann hol sie», Doktor Koblenz reichte ihm die Wagenschlüssel. «Ihr könntet mal die Kinoleinwand aufstellen.»

      Das Ihr richtete sich an Gablenz und Kisko, einen jungen Mann von höchstens dreißig Jahren, der mit am Tisch gesessen hatte, jetzt aber aufgestanden war. Kisko, Gablenz und Alters bildeten den Stab der Vorausabteilung, Gablenz und Alters kannte der Oberbauleiter, Kisko war noch ein unbeschriebenes Blatt. Koblenz empfand einen heftigen Widerwillen gegen den jungen Mann, er hatte überhaupt etwas gegen Absolventen. Diese Abneigung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Jetzt erwartete Koblenz Einspruch von dem jungen Bauingenieur, der Oberbauleiter wußte natürlich genau, daß der Ton, in dem er seine Anordnung gegeben hatte, ihrem Verhältnis nicht angemessen war.

      «Kann ich erst mal telefonieren», fragte der junge Mann. «Nachmittags hast du genügend Zeit.» Koblenz spürte den Versuch Kiskos, sich aufzulehnen. Der glaubte sich in seiner Würde als Bauingenieur verletzt, in seiner Würde als Sohn eines berühmten Mannes; ein Karrierist, ein Mann ohne Biografie war Kisko. Hier würde er eine Geschichte bekommen, oder er würde untergehen. «Wir wollen jetzt keine Zeit mehr vertrödeln, ich will später noch auf die Baustelle raus.» Er wandte sich direkt an Kisko. «Du kannst ein Teilobjekt übernehmen, bis Pilgramer kommt.»

      Er ließ sich Zeit, er ließ dem Anderen Zeit. Kisko verstand, daß er ein Ersatzmann war.

      Gablenz fragte: «Hast du den jungen Pilgramer aufgerissen?»

      Doktor Koblenz bildete sich nicht wenig darauf ein, Kader zu finden. Es war so etwas wie ein Gesellschaftsspiel für ihn. Fähige Leute sind rar, meinte er, und wer einen guten Kader auftrieb, der war selbst ein fähiger Kopf.

      Allein zurückgeblieben lehnte der 0berbauleiter den Rücken an die Stuhllehne und ließ seinen Blick von Tisch zu Tisch wandern. Da saßen die drei Maschinentechniker, unentbehrliche Leute, die Koblenz kannte und die ihn kannten, die wußten, daß er alles durchschaute, jedes Manöver, jede Manipulation. An dem großen Achtertisch saß das junge Gemüse, das sich in ein Pionierleben hineinträumte. Die wollten etwas erleben, Ungebundenheit, Freiheit. Sie sollten was erleben, sagte sich Koblenz. Viel wert waren diese acht Jungen sicherlich nicht, zumindest nicht in der ersten Zeit, in der schweren Periode des Anfangs. Auf der Suche nach Unterstützung, nach Rückhalt geriet Koblenz Blick an den Gallas-Tisch. Die alten Leute hatten sich sofort wiedergefunden, sie zeigten durch die Tischordnung deutlich, wie ungefähr die künftigen Autoritätsstrukturen verlaufen würden, Gallas, Weichand, Fouché, Kachulla; Koblenz entsann sich sofort gemeinsamer Arbeit. Die wußten, was sie erwartete, die ließen sich zwar nicht widerspruchslos hin und her schieben, schon gar nicht Gallas, dafür brauchte man aber auch nicht dahinter zu stehen und jeden Handgriff zu kontrollieren. Betonfacharbeiter, Eisenflechter, Maurer, die noch gelernt hatten eine Mauer tadellos hochzuziehen, eine Wand zu putzen, ohne daß sie Wellblech glich. Manches korrigierten sie ohne Aufhebens und Gallas ersetzte zwei Bauleiter. Namentlich Gallas liebte Koblenz. Gallas schien ihm beinahe verwandt, und so winkte er auch jetzt zum Tisch hinüber, und seine scharfe Stimme klang durch die Gaststube: «Gallas, kommen Sie doch mal auf einen Moment rüber, ja?» Er beobachtete, wie Gallas in Ruhe sein Bier austrank, etwas zu Kachulla sagte, Weichand die Hand auf die Schulter legte und aufstand. Gallas hatte einen federnden athletischen Gang. Ein kurzer Rumpf bewegte sich auf langen kräftigen Beinen, ein Seemann, Soldat oder Akrobat hätte Gallas sein können, und er vereinigte wahrscheinlich alle die Eigenschaften in sich die Soldaten, Seeleute und Akrobaten ausmachten. Sein hartes, kantiges Gesicht mit den leicht angehobenen Mundwinkeln und den zusammengekniffenen Augenlidern, dieses Mißtrauen und Suchen ausdrückende Gesicht eines stahlharten Burschen gefiel Koblenz außerordentlich.

      Wärme überflutete ihn, als er Gallas aufforderte, sich zu setzen, und ihn zu einem Glas einlud; sichtbar für alle zeichnete er den Bauarbeiter Gallas aus. Alle beobachteten den Vorgang, und Gallas sowohl als auch Koblenz waren sich der Wirkung dieser Szene bewußt. Koblenz bekräftigte es noch, indem er sagte: «Ja, Gallas, das wird eine harte Nuß werden mit diesen aufgeregten Schneiderlein dort drüben, was meinen Sie?»

      «Sicher», erwiderte Gallas, «darüber haben wir eben auch gesprochen.»

      «Ich will Ihnen erst mal sagen, daß ich froh bin, Sie hier zu haben, ich rechne auf Sie, wir paar Mann sind nur ein elend kleiner Haufen, was, Gallas? Ich will den Leuten jetzt das Vorhaben erläutern, und hören Sie, wie wollen wir die Trupps einsetzen? Wir müssen unbedingt ganz kurzfristig eine leidliche Baracke zusammenbauen. Telefon brauchen wir auch sobald als möglich. Ich bin jetzt ganz Ohr?» Koblenz lächelte und winkte den drei Bauleitern zu, die Leinwand und Bildwerfer aufstellten. Dazu mußten die Tische geräumt werden, es gab ein Durcheinander und eine angenehme Unterbrechung, geschah doch jetzt endlich was.

      Das Gerenne beobachtend, sagte Gallas: «Kann sein, wir vier gehen in den Gruppen unter. Wir haben uns überlegt, daß es besser ist, wir bleiben auf jeden Fall erst mal zusammen. Die Jungen ziehen wir uns nach Bedarf ran. Kann der Bauleiter drüber verfügen.»

      «Wissen Sie was?» Koblenz wandte sich Gallas ganz zu. «Ich möchte Ihnen diesen ganzen Quark aufhalsen. Ich werde in den ersten Wochen wenig Zeit haben, ich werde überhaupt wenig Zeit dafür haben. Gründen Sie eine Brigade oder ein Damenkränzchen. Sie wissen wahrscheinlich am ehesten, wie man so etwas auf die Beine stellt.»

      Gallas, der begriff, was ihm angeboten wurde, sagte vorsichtig zu, aber er war stolz. Diese Auszeichnung entsprach seinen Erwartungen. Er sagte sich auch, daß Koblenz gute Gründe hatte, in diesem schwachen Trupp nach kräftiger Unterstützung zu suchen. Bald, in einem Jahr, sah es schon wieder anders aus. Gallas wußte gut, daß die Baustelle sich rasch verändern, ein Gewirr von Kolonnenwagen, Baracken, Fahrzeugen und Menschen darstellen würde, für den Außenstehenden kaum überschaubar. Andererseits wunderte sich Gallas, daß Koblenz diese wichtige Sache scheinbar auf die leichte Schulter nahm. Wich ihm der Alte aus? Wer war zum Beispiel sein, Gallas, Bauleiter und unmittelbarer Vorgesetzter? Vier Mann ließen sich als eine Brigade kaum zusammenhalten.

      Daß sich Koblenz mit diesen Problemen beschäftigte, bewies er durch die anschließende Frage. «Weshalb haben sich übrigens nur so wenige für Theerberg gemeldet?»

      Gallas hob die Schultern. «Familie, Alter, Krankheit; hatten alle ihre Gründe.»

      «Ja natürlich», sagte Koblenz, «wir müssen halt auskommen. Na, das sind wir gewohnt. Ich seh Sie nachher noch.»

      Damit war Gallas verabschiedet. Er trank den Schnaps aus und ging an seinen Tisch zurück.

      «Was wollte der Olle denn?», fragte Kachulla.

      «Hat Schiß», sagte Gallas. «Ruhe mal jetzt. Er will dem jungen Gemüse einen Vortrag halten.»

      Und Koblenz sagte mit seiner scharfen Stimme: «Stellen Sie bitte das Rauchen ein, Getränke werden jetzt auch nicht ausgegeben.»

      Am Achtertisch wurde gemurrt, und Gallas schickte einen wütenden Blick hinüber, der Blick traf Bleuel, der sich umwandte und verstummte.

       6

      In das glatt und kahl gewalzte Gelände, auf dem die Planierschilde der Raupen eine bearbeitbare Großfläche herstellten, sollte ein mächtiger Kraftwerkkomplex gebaut werden. Für die Wahl des Standortes waren von den Geologen ermittelte Braunkohlelager maßgebend gewesen. Schwere Turbinen sollten später Energie liefern, ein halbes Dutzend Kühltürme um das Komplexgebäude, das Maschinenhaus, herum gruppiert werden. Dutzende Baulichkeiten für verschiedene Zwecke mußten zusätzlich entstehen.

      Koblenz redete klar und zusammenhängend, er vermochte die komplizierte Planung faßlich darzustellen, verlor sich nicht in Zahlen, gab aber dennoch einen Begriff von den Aufwendungen. Neu war, daß an dem Großprojekt mehrere Nationen zusammenwirken sollten, sowjetische Energiefachleute, polnische Kühlturmbauer, ungarische Elektroniker. Einige