Das Erbe. Helmut H. Schulz

Читать онлайн.
Название Das Erbe
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847660040



Скачать книгу

Ein letztes Mal hielt der Pkw am Ende der Müllkippe. Von dort führte die Straße weiter über eine Brücke, hinter der sich die wuchtigen Tore einer alten Schleuse befanden, ins Dorf. Es war kein großes Dorf. Neben der Schleuse stand ein Gasthof, der folgerichtig «Zur Schleuse» hieß.

      Die Leute in dem Pkw ließen die übrigen Fahrzeuge herankommen. Dann wies jemand die Lkws ein. Sie verließen die Straße und rollten auf einen ziemlich großen Parkplatz um sich in fast militärischer Ordnung nebeneinander aufzureihen. Als die Männer in den Gastraum gingen, begann es zu regnen.

       2

      Fünfzehn Menschen verteilten sich an die für sie reservierten Tische. Mindestens zwei Wochen lang sollten die Leute der Vorausabteilung in den Gästezimmern der «Schleuse» wohnen. Noch war unklar, ob sie dann in Zelte übersiedelten oder in eine der Baracken. Gallas vermutete, daß der vorhandene Platz in den Baracken kaum für die Stäbe reichen würde. Auch in einer anderen Runde als unter Bauarbeitern wäre der vierunddreißigjährige Gallas aufgefallen, ein entschlossener Alleingänger, widersprüchlich bis in die Fingerspitzen. Es gab nur wenige, denen Gallas nicht mißtraute, und noch weniger, die er nicht angegriffen hatte. Gallas, grauäugig, mit kurz geschnittenem, fast blondem Haar, ließ nie einen Zweifel an seiner Unfehlbarkeit zu. Er war der geborene Herausforderer; wenn er nachdachte, kniff er die Augenlider zusammen und hob die Mundwinkel leicht an. Deshalb erschien er ewig im Zorn, und dieser starken, nach außen gerichteten Natur entsprach auch sein Körper. Gallas war wie geschaffen für Strapazen. Er suchte sie beinahe.

      Die Ankunft im Dorf besserte seine Laune nicht gerade. Jetzt hätte er einen gebraucht, an dem er sich reiben konnte, aber erstens waren die anderen mit Essen beschäftigt, und zweitens kannten sie ihn. Um einer Kleinigkeit willen mit Gallas in Streit zu geraten lohnte nicht, der würde den Krach bis auf die Spitze treiben. Gallas schob die Suppe beiseite und zog sich das Hauptgericht heran, Fleisch und junge Erbsen. An dem Essen war nichts auszusetzen, und so schwieg er.

      Sie würden für Monate in der «Schleuse» essen, und aus Erfahrung setzten sie keine hohen Erwartungen in die Küche der «Schleuse». Später würde in der Kantine gekocht werden, was unter Umständen nicht besser war.

      Weichand, der älteste in der Vorausabteilung, fünfzig vielleicht, ein fleischiger Mann, der an Freßsucht litt, zog seinen Rucksack heran, öffnete ihn und entnahm ihm ein Eßbesteck. Außerdem legte er ein kleines Weißbrot heraus, das noch nicht angeschnitten war. Er brach es in der Mitte wie ein Stück Holz und begann genußreich Suppe und Brot zu essen.

      Verdrossen über die Ruhe Weichands, nervös vom Stillsitzen und der Tatsache, daß nichts geschah, sagte Gallas: «Wetten, daß der Dicke das ganze Brot auffrißt?»

      Friedlich grinsend aß Weichand weiter, sein Bauch stieß gegen die Tischkante. Er schob den Stuhl zurück und setzte sich bequemer.

      «Den bring mal aus der Ruhe», brummte Gallas.

      «Laß ihn in Frieden», sagte Fouché. «Die könnten uns unsere Zimmerschlüssel geben. Ich will mich hinhauen, heute spielt sich ja doch nichts mehr ab.»

      Fouché kannte Gallas von anderen Baustellen. Fouché saß steif auf seinem Stuhl und hob den Löffel an den Mund, als müsse er die Suppe schluckweise prüfen. Er sprach altmärkische Mundart, G wie J: «Sieh mal, Jallas, die janze Jejend is een Dreck.»

      Kachulla, der beste Beobachter in der Gallas-Gruppe, hatte daraus einen Spitznamen für Fouché geformt, Jewiejot. Gerufen wurde Fouché meist Futsch.

      Alles Aufziehen ließ Fouché indessen kühl. In dieser Gruppe galt er als der erste Mann nach Gallas. Übrigens hielt er selbst viel von sich und auf sich. Sein Geld trug er in Exquisitläden, von deren Kleiderständern er sich sein Aussehen borgte. Was unnötig war, denn Fouché, jung, schwarzbärtig, wirkte auf Frauen und pflegte eine philosophische Veranlagung: «Sieh mal, Jallas, wie eener arbeitet, das siehste meistens daran, wie er anjezojen jeht.» Er hob den Zeigefinger bis in Augenhöhe.

      Gallas schob die Hand Fouchés weg und sagte nachsichtig: «Leck mich mit deinen Theorien, euch bring ich schon auf Trab, meinetwegen nackt.»

      Kachulla sperrte, lautlos lachend, seinen Rachen auf: «Galli-Galli.»

      Kachulla war ein kleiner fuchsartiger Mann, der sich ständig umsah, als erwarte er einen überraschenden Angriff. In seinem spitzen Gesicht lagen braune Augen dicht beieinander. Mit Kachulla gab es oft Ärger, ein unbeständiger Charakter, der sie schon einmal verlassen hatte, um freilich bald wiederzukommen. Kachulla hatte wegen eines Totschlages gesessen. Er genierte sich wegen seiner Gefängnisstrafe und antwortete, nach den Gründen befragt, mürrisch: «Wegen Alkohol.»

      Mit Ausnahme Weichands standen die Männer an diesem Tisch ungefähr im gleichen Alter, und Gallas sagte sich, daß diese Gruppe wahrscheinlich den Kern bilden werde. Er empfand etwas wie freundliche Nachsicht gegenüber den anderen und rätselte beim Essen darüber, wie er sie einsetzen würde. Er hätte sie aufteilen können, zur Aufmunterung für die Schlappschwänze und Marschhinker. Das wäre die eine Möglichkeit gewesen, aber Gallas, der sich selbst und andere mit den Worten: «Na los, dalli, dalli» in Atem hielt, woraus der findige Kachulla galli-galli gemacht hatte, dachte weiter. Sie stellen hier die Elite dar. Der Gallas-Clan bestimmte die Norm, die durchschnittliche Höhe des Einkommens. Sie galten als Querköpfe, standen auf keiner Bestenliste, aber sie wurden dringend gebraucht. Alle Gallas-Leute arbeiteten ungewöhnlich gut, nach alten Vorstellungen von Qualität. Das machte sie bei manchen Bauten unentbehrlich. Sie wußten von ihrem Ruf und von seiner Kehrseite; daß sie nie genannt wurden, machte ihnen nichts aus. Dieser Trupp hatte eine Geschichte und ein großes Selbstbewußtsein.

      Als Gallas jetzt die Möglichkeit andeutete, sie aufzuteilen - eine Frage, nichts weiter, zumindest für Gallas -, sprang ihn Fouché an: «Du hast sie wohl nicht alle? Denkst du, ich bin hier zum Spaß? Soll jeder sehen, wo er bleibt.»

      «Immer sachte.» Innerlich stimmte Gallas Fouché zu. Es ging natürlich um Geld. Denn weshalb drückte man sich draußen in Dreck und Speck herum, während die Arschlöcher sich in den Büros die Hände an der Heizung wärmten? Na also.

      An den übrigen Tischen herrschte Schweigen. Es wurde gegessen. Dann bestellten die Leute Bier und Schnäpse. Alle blieben sitzen, in Erwartung, wie sich der Rest des Tages gestalten würde.

      3

      Obgleich ihnen in der «Schleuse» sechs Tische vorbehalten waren, hatten die Männer nur vier davon besetzt. Zwei Vierertische waren zusammengeschoben worden, so daß jetzt acht Mann zusammensitzen konnten. An dem dritten Tisch saßen die restlichen drei der fünfzehn. Was auf den ersten Blick wie zufällig aussah, war der Anfang eines Zusammengehörigkeitsgefühls, oder anders ausgedrückt, der Cliquenbildung. Die Männer kannten sich noch nicht gut genug. Freundschaften bestanden noch nicht, aber instinktiv nickten die am Achtertisch zusammen, spürend, daß sie sich irgendwie ähnelten.

      An den Wänden der Gaststätte waren Gepäckstücke aufgereiht, Rucksäcke mit aufgeschnallten weißen Helmen, Luftkoffer, Reiselords oder einfach Taschen und Koffer.

      An dem Achtertisch saßen vorwiegend jüngere Männer, einige mochten Romantik und Abenteuerlust bewogen haben, Vertrag für die Baustelle zu nehmen. Bleuel, ein kräftiger Bursche, den der Bart älter machte, drückte es für Neumann und Ernst so aus: «Ich hab ja schon manches gemacht, Männer; 'n Bus hab ich gefahren, bei der Verkehrspolizei war ich auch. Hab also schon allerhand gesehen. Hier mach ich Geld, mein Traum wär'n Büsching und internationale Tour, die große Tour und das große Geld» Er nahm sich eine Zigarette und warf die angebrochene Packung großspurig auf den Tisch. «Bedient euch, Männer.»

      «Die große Tour, das große Geld», vorsichtig polkte sich Ernst eine Zigarette aus der Schachtel, ehe er sie weiterreichte. «Ehe du da hinkommst, Mann, bist du dreihundert Jahre alt», sagte er. «Wahrscheinlich hat keiner von uns die richtige Kaderakte. Denkst du, die schicken dich auf'ner teuren Chaise nach Hamburg, ohne Sicherheit? Überhaupt kannst du so einen Zug fahren?»

      Ernst war ein drahtiger kleiner Kerl mit frauenhaft geschwungenem Mund und bartlosem Kinn. Selbst die Koteletten, die er sich stehen