Vater und Klon. Wolf Buchinger

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Название Vater und Klon
Автор произведения Wolf Buchinger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742780416



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oder im schlimmsten Fall weinen. Ja, er täte es so wie Selli, der sich nach draußen in den Flur gerettet hat. Die unscharfen Schatten im Milchglas der Tür zeigen, dass er sich mit einem großen Taschentuch die Tränen abwischt - bis runter an den Hals.

      Hey Paul, dies ist eine total unbekannte Seite deines Daseins! Paul bewirkt, dass Menschen gerührt sind. Ist das schon eine Alterserscheinung oder eine bisher versteckte, weil verbotene Begabung? Hey Raoul, das wirst du auch können müssen, wenn nicht, bringe ich es dir bei. „Hör mein Lied, Elisabeth“ wird unser erstes gemeinsames Lied sein. Damit wird jeder unserer Showauftritte beginnen und enden. Wir werden nicht nur mit gemeinsamer Logik glänzen, wir werden zusammen die Massen bewegen wie kaum ein Popstar. Simon and Garfunkel werden alt aussehen. „Paul und Klon Raoul inszenieren ihre göttliche Zweisamkeit wie einen Gottesdienst“ wird die Presse titeln. Die Hallen werden bald zu klein sein, wir treten in den größten Stadien der Welt auf, gemeinsam mit dem Papst vor dem Petersdom, die grüne Wiese vor dem Weißen Haus wird schwarz vor Menschen sein und auf den Platz des Friedens in Peking darf nur, wer sich einen Bonus für fünf Jahre besonderer Arbeit verdient hat. Ich sollte Elisabeth mal fragen, wie lange es geht, bis ich Raoul in die Arme schließen kann.

      Aha. Jetzt hat sie sich wohl berappelt, auf dem Bildschirm bewegen sich Tausende kleiner Zahlen, der Rechner scheint zu arbeiten. Huch, was ist denn das? Keine Elisabeth, eine Mail:

       *Lieber Herr Paul, solche Pannen sollten wir in Zukunft vermeiden. Wir sind hochkarätige Wissenschaftler und wollen keine Botschafter von unnötigen Sentimentalitäten sein, die unsere hehren Ziele verwässern oder vielleicht sogar Angriffspunkte für Gegner sein könnten. Bitte halten Sie sich an diesen Wunsch. In drei Minuten wird unser Interview mit genau den sechs vorgegebenen Fragen beginnen. Keine Extratouren, bitte! Ich zähle auf Ihr Verständnis! Danke. E.*

      Bitte! P.! Also wenn es eine Seelenwanderung gibt, dann hat gerade mein Vater zu mir gesprochen. „Hehre Ziele“ hat auch er immer gesagt, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, über den nie zu diskutieren war, weil er immer Recht hatte. Ich habe verstanden, Elisabeth. Nie mehr wirst du mein Lied hören, nur noch meine sachlichen, un-emotionalen, logischen und für Wissenschaftler nachvollziehbaren Ergüsse. Und kurz werden sie sein, damit sie ausschließlich richtig interpretiert und verstanden werden können. Langsam werde ich der perfekte Klon-Geber. Wahrscheinlich hat sie diese Fähigkeiten schon längst mit ihrem Stab von Psychoanalytikern bei mir erkannt und mich deswegen auserwählt. Okay, da muss ich durch, der Zweck heiligt die Mittel. Ich bluffe laut und vernehmlich: „Ja, Elisabeth! Ich folge dir!“ Hat sie es gehört? Ja, Peter nickt begeistert, Selli lächelt, Fiona streichelt ihren linken Arm und Edouard guckt, als gäbe es in den nächsten Tagen keinen Rotwein.

      Edouard’s Feedback nach dem ersten TV-Interview

      „Monsieur, Sie waren großartig! Ihr Kurzzeitgedächtnis ist kolossal genau und unglaublich jung, ich beneide Sie! Ich hätte nie und nimmer alles so wiederholen können, wie ich es Ihnen gesagt habe. In Zukunft machen wir es immer so.“

      „Merci, Edouard. Und bevor Sie es sagen: Ich denke über eine Lohnerhöhung nach. Ist das Feedback aus China schon gekommen? Elisabeth hat es als letzte Information angekündigt, vor allem bin ich auf die ersten Einschaltquoten gespannt. Oh, Madame ist zuverlässig, sie schickt sie gerade.“

      *Hallo Mister Paul, die Kommission ist begeistert. In den ersten 32 Minuten nach der Aufschaltung hatten wir mehr als 17.000 User, die meisten haben das ganze Interview gesehen. Die ersten Auswertungen sind ebenfalls positiv, 23 Medien interessieren sich und haben Kontakte für Interviews angekündigt, es kommen spannende Tage auf Sie zu. Ein Problem sollten wir sehr schnell lösen: 72 User haben sich über Ihr Outfit mokiert, es soll aus einem französischen Billigladen stammen und hat farblich keinen Bezug zur aktuellen Mode. Sie sind nun eine internationale Größe mit Repräsentationspflichten gegenüber unserem Konzern. Wir kennen nur eine einzige Variante: Schwarz in schwarz, weißes Hemd, unauffällige, möglichst graue Krawatte, geduldet bei lockeren Einsätzen (falls es solche ab jetzt überhaupt noch gibt) auch hellblau. Basta. Viel Spaß beim Einkaufen! Es gibt Schneider, die einen Maßanzug in zwölf Stunden herstellen, zumindest bei uns. Und bereiten Sie sich bitte auf den ersten Medienanruf vor, das wird wohl sehr schnell gehen. Wir sind nun im Focus des Weltinteresses, so wie wir es geplant haben. Und für den Zweifelsfall: Wir haben ausschließlich die Ihnen bekannten sechs Fragen akzeptiert. Längere Talkshows wird es erst nach der Inklonisierung geben. Danke für Ihr Verständnis! E.*

      Wow! Es ist endlich was los, wir haben etwas unglaublich Sinnvolles zu tun und hängen nicht mehr rum und schauen ständig auf die Uhr, wann endlich das Abendprogramm im Fernsehen losgeht. Als Pensionist soll man nicht die Stunden bis zum Tod zählen, sondern aktiv, selbstbestimmt und positiv sein Leben gestalten. Soweit zur Theorie des Älterwerdens in der heutigen Zeit. Wir setzen eins drauf und werden gleich zweimal neu geboren: Erstens als hyperaktiver, weltweit bekannter Senior und zweitens durch die ‚Inklonisierung‘ - welch ein Wort! - meiner eigenen Person. Muss ich nun Gott, Elisabeth oder mir danken für eine derartige Erfüllung des Lebens? Danke, danke, danke an alle drei! Hauptsache ist, dass …

      „Pardon Monsieur, ein erstes wichtiges Telefonat vom Hauptstadtstudio, der Chefredakteur persönlich, nein, nicht das Radio, es ist das nationale Fernsehen!“

      „Oh, … also … tja … sagen Sie ihm, dass ich noch nicht

      … oder besser: Ich bin vor lauter Interviewanfragen … nein, sagen Sie ihm, dass ich nichts zum Anziehen … nein, sagen Sie ihm das ja nicht, … ich muss nachdenken …, legen Sie das Interview auf morgen Nachmittag fest, … ja, das müssen wir schaffen!“

      „Oh! Monsieur haben morgen um fünfzehn Uhr sein erstes großes TV-Interview!“

      „Neidisch, Edouard? Früher hatten Sie wohl auch wichtige Auftritte, aber früher ist vorbei und wir leben nun in der Jetztzeit. Kennen Sie einen Eliteschneider, der bis morgen Mittag wenigstens einen Maßanzug fertig hat?“

      „Non, Monsieur, wir sind nicht in China, wo Nachtarbeit selbstverständlich ist, hier bei uns wird der Mensch noch geachtet. Ich werde eine Lösung finden, mit der Madame

      Elisabeth zufrieden sein wird.“

      „Was haben Sie vor?“

      „Eine Lösung à la française, alles wird sehr schnell perfekt. Ich brauche nur noch Ihre zweite Kreditkarte! Als Ihr bald mehr verdienender Diener werde ich nun zum Generalbevollmächtigten des Inklonisierers und damit auch zu seinem Vertrauten, der über ein gewisses Vermögen verfügen darf … zum Wohle seines Herrn. So ist es bei uns noch in einigen wichtigen Familien, ich hatte früher auch einen Diener und weiß, was er zu tun hat. Alors Monsieur, die Karte und die Geheimzahl bitte!“

      „Lassen Sie mich diese mir neue und ungewohnte Situation überdenken, … ich habe mir geschworen, nie einer Frau die Verfügungsgewalt über meine Konten zu geben, aber …, na ja, Sie sind anders gelagert. Voici, meine Ersatzkarte, die Geheimzahl ist mein Geburtstag, den kennen Sie ja. ‚No limits‘ gilt allerdings nur für mich, Sie heben das ab, was Sie zwingend für mich brauchen. Okay?“

      „Und wie ich habe verstanden! Zuerst der Anzug und dann zwölf Flaschen unseres Lieblingsweines, es wird viel zu besprechen geben am Abend …“

      „Drei genügen …“

      „Zwölf, … das wären dann vier glückliche Abende. Okay, kein Widerspruch, merci!“

      „Und was ist drüben im Wohnzimmer los?“

      „Das Fernsehteam …“

      „Was heißt das?“

      „Sie bleiben da.“

      „Was heißt das?“

      „Sie bleiben da und warten, bis ein Sender Aufnahmen von Ihnen machen will.“

      „Normalerweise bringt doch jeder sein eigenes Team mit.“

      „Nicht bei Elisabeth. Unser Team garantiert totale Loyalität. Sie entscheiden, was rausgeht,