Schlussakt. Joana Goede

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Название Schlussakt
Автор произведения Joana Goede
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086560



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noch. Schließlich bot mir das einen Anlass, wieder in meine eigenen Sachen zu schlüpfen und die mir von meiner Schwester in einem Moment der alles überragenden Schwäche aufgezwungenen endlich abzulegen. Ich nahm mir vor, in der nächsten halben Stunde eine Verwandlung zu durchlaufen, die mich wieder zu meinem alten Ich zurückbringen sollte, dass nicht so sehr an sich selbst zweifelte, sondern eher an seinem Umfeld. Lange hatte ich mich nicht so erleichtert gefühlt, wie an diesem Morgen, denn alle Last der letzten Tage, schien von mir abgefallen zu sein, wie ein Tuch von meinen Augen, dass mir die Klarsicht verwehrt hatte. Das alles machte mich so glücklich, dass ich darüber einige Geschehnisse völlig vergaß, die sich allerdings als wichtig hätten erweisen können. Dieses Vergessen sollte den weiteren Verlauf meiner Geschichte noch bestimmen, doch so etwas lässt sich selbstverständlich immer erst im Nachhinein sagen. In diesem Augenblick war wirklich alles für mich in Ordnung, wäre da nur nicht dieser leichte, eiskalte Hauch von Ahnung gewesen, der sich nicht abschütteln, sondern nur auf unbestimmte Zeit verdrängen ließ. Es war noch nicht vorbei mit meinem Fluch.

      Die Kirche suchte ich an diesem Tage tatsächlich auf, und zwar unmittelbar nach dem Frühstück, und nachdem ich mich umgezogen hatte. Das Duschen schob ich auf, denn wenn ich aus der warmen Dusche in die winterliche Kälte getreten wäre, hätte ich vermutlich auf der Stelle alle Körperfunktionen eingestellt und wäre erfroren. Ich fühlte mich zwar unwohl, ungewaschen wie ich nun einmal war, doch daran ließ sich nun einmal im Augenblick nichts ändern.

      Eingehüllt in Mantel, Schal und Mütze trat ich schließlich aus dem Haus, nachdem ich mich eingehend mit den drei kleinen Kätzchen beschäftigt hatte. Die drei entwickelten sich großartig und ich war stolz wie ein Vater auf die Kleinen, die wie Kletten an mir klebten, sobald ich in ihrem Blickfeld auftauchte.

      Die Sonne war kaum zu sehen, denn der Himmel war fast vollständig mit grauen Wolken bedeckt, die unglaublich ungemütliche Nässe ausstrahlten und schon nach wenigen Metern wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, keinen Regenschirm mitzunehmen. Eigentlich wäre Schnee passender gewesen, denn er hätte meiner Umgebung, ergänzend zu der sibirischen Kälte, einen winterlichen Schimmer gegeben. Im Augenblick wirkten die dreckigen Matschhaufen an den Straßenrändern und die schwarzen Pfützen daneben eher wie der traurige Rest eines nicht zufrieden stellenden Weihnachtsfestes, und dieser Rest schmolz nun bekümmert vor sich hin, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Ich blieb vor einer besonders großen und hässlichen Pfütze stehen. Pfützen faszinierten mich seit einem bestimmten Moment im Biologieunterricht, in dem mir meine Biolehrerin einiges über die Bewohner von Pfützen berichtet hatte. Bis dahin hatte ich Pfützen immer für abgestandenes, totes Wasser gehalten, das sinnlos vor sich hin verdunstete und dann irgendwo wieder hinunter regnete. Doch mittlerweile wusste ich von faszinierendem Leben in den Pfützen. Denn dort lebten Geschöpfe, die zwar unheimlich klein, aber irgendwie auch unglaublich interessant waren, nämlich Pantoffeltierchen. Diese Pantoffeltierchen begleiten einen Schüler oft bis zum Abitur, denn sie werden immer wieder einmal als Beispiel für irgendetwas im Unterricht herangezogen. Das Interessante an Pantoffeltierchen war für mich, das mehrere Arten von ihnen in derselben Pfütze leben konnten, ohne sich gegenseitig auszulöschen. Das funktionierte, weil die eine Pantoffeltierchenart das Wasser an der Oberfläche bevorzugte und eine andere beispielsweise das Wasser weiter unten. Deshalb kamen sie sich nicht in die Quere. Ich stellte mir vor, dass es sich so auch mit meinem wirklichen Leben verhalten musste. Es war zwar ganz nah an meinem jetzigen dran, aber ich erkannte es nicht, weil ich es nicht sah. Und wie einem Pantoffeltierchen war es auch mir im Augenblick unmöglich, meinen Lebensraum zu verlassen und in einen anderen hineinzuschnuppern, da ich von meinem jetzigen abhängig war. Es bestanden also einige Parallelen zwischen mir und diesen putzigen kleinen Einzellern. Ich betrachtete die Pfütze lange und eingehend, bis mir ein vorbeifahrendes Auto das Pfützenwasser ins Gesicht und auf den Mantel spritze. Ich schüttelte den Kopf über soviel Unachtsamkeit. Damit waren die Lebensräume der Pantoffeltierchen vielleicht zerstört, aber auf jeden Fall ziemlich durcheinander. Wenn es so einfach war, mehrere Lebensräume zu vermischen, dann fragte ich mich, wie es kam, dass ich meinen eigenen noch nicht gefunden hatte. Aber wahrscheinlich passierte so etwas nicht allzu häufig, weshalb ich meinen Weg mit der Hoffnung fortsetzte, das ich in nächster Zeit durch einen solchen Zufall nach Hause finden würde. Leider war diese Hoffnung nur sehr schwach, denn sie basierte auf einer verwegenen Theorie, die sich Pfützenbewohner als Beispiel nahm. Darauf konnte man nicht bauen. Selbst ich nicht.

      Ich hatte mir das kalte Wasser, und mit ihm vielleicht kleine, verwunderte Tierchen, aus meinem Gesicht gewischt, und das dazu verwendete Papiertaschentuch in die nächste Pfütze geworfen, damit meine kleinen Freunde, sofern sie denn die Achterbahnfahrt von der Pfütze in mein Gesicht und von meinem Gesicht ins Taschentuch überlebt hatten, eine Chance hatten, sich ein neues Leben bei anderen Artgenossen aufzubauen, in einem ähnlichen Lebensraum. Schließlich hatte ich diese Chance auch erhalten, dann wollte ich sie auch anderen ermöglichen. Auch wenn es bei mir bis jetzt noch nicht so gut geklappt hatte mit der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ich machte mir keine Illusionen, dass diese Tat, so christlich sie auch sein mochte, irgendeinen Sinn hatte, zumal ich durch das weggeworfene Taschentuch schließlich auch noch die Umwelt verschmutzt hatte, aber ich fühlte mich doch wie ein guter Mensch, als ich an den folgenden Pfützen vorbeiging und mir die Mütze noch tiefer ins Gesicht zog. Der eisige Wind machte mir das Denken fast unmöglich. Wenn es jetzt noch regnete, was die dunklen Wolken leider Gottes zu verkünden schienen, dann wäre es um mich geschehen, oder zumindest um meine Gesundheit. Denn dann könnte ich den Erkältungstee wirklich gebrauchen und ich könnte mich trotz der neu gewonnenen Energie gleich wieder ins Bett legen, wenn ich nach Hause käme. Natürlich erschien es mir viel kälter, als es eigentlich war, denn sonst wären die Pfützen sicherlich gefroren und statt Regen würde höchstens Schnee fallen, wenn überhaupt. Aber ich neigte ja zu einem Frostbeulen-Dasein, das ich nicht so einfach überwinden und abstellen konnte, auch nicht durch einen ungläubigen Blick auf das Thermometer.

      Aus Angst vor dem Regen beschleunigte ich also meine Schritte und eilte, so schnell, wie es der rutschige Bürgersteig erlaubte, in Richtung Kirche. Dabei schickte ich ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass die Tür nicht verschlossen sein möge, denn auch Kirchen wurden manchmal verschlossen, um sie vor Dieben oder Randalierern zu schützen, obwohl sie den Gläubigen eigentlich immer offen stehen sollten, wie ich fand. Eine Kirche mit geschlossenen Türen war für mich ein Widerspruch in sich, aber wahrscheinlich musste es so sein. Es fehlte den Menschen einfach am Respekt für die Religion.

      Ich kürzte den Weg ab, indem ich über einen voll geparkten Parkplatz rannte und dann schnell einen relativ hohen Maschendrahtzaun überqueren wollte, was mir aber nicht ohne weiteres gelang. Nachdem ich nämlich an der einen Seite hochgeklettert war und hinüber stieg, rutschte ich mit meinen nassen Gummisohlen auf dem glitschigen Draht aus, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Bürgersteig auf der anderen Seite, gegenüber der Kirche. Vermutlich waren nicht nur die Gummisohlen schuld, sondern auch meine strikte Vernachlässigung sportlicher Betätigung, die mich ungeschickter denn je machte. Ganz zu schweigen davon, dass ich mit dem Überklettern von Zäunen nicht viel Erfahrung hatte, ja ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, einen Zaun dieser Größenordnung erklommen zu haben. Das konnte ja nicht gut gehen. Eine Weile blieb ich verwundert liegen und hielt die Augen geschlossen. Ich war auf meinen linken Arm gefallen, Schmerz spürte ich allerdings nicht. Als ich die Augen öffnete und mich aufrappelte, registrierte ich mehrere interessierte Beobachter, die mich von einer gewissen Distanz her observierten, als wäre ich eine dreiköpfige Heuschrecke. Helft mir bloß nicht, dachte ich und bedachte die Gaffer mit einem vorwurfsvollen Blick, die daraufhin weitergingen, und sich nicht mehr umschauten. Ich stützte mich auf den rechten Arm und setzte mich hin. So etwas Unhöfliches! Es gingen einfach alle vorbei, ohne dass sich einer nach meinem Befinden erkundigt hatte. Ich war enttäuscht und wirklich in meinen Grundwerten erschüttert. Wer hatte noch gleich gesagt, die Welt sei ein großes Irrenhaus? Auf jeden Fall stimmte ich ihm zu. Während ich meine aufgeratschte linke Handfläche genau studierte, zog ich mit der rechten ein sauberes Taschentuch aus meiner Jackentasche und tupfte damit vorsichtig das Blut ab. Der Schmerz, den ich soeben vermisst hatte, war nun da, allerdings nicht sehr stark. Es hätte schlimmer sein können. Vielleicht war der Arm aber auch nur betäubt. Im Sportunterricht hatte ich einmal einen Hockey-Schläger ins Gesicht bekommen, und obwohl meine Lippe aufgeplatzt war und