Schlussakt. Joana Goede

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Название Schlussakt
Автор произведения Joana Goede
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086560



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angeboten wurden. Selbst Historien-Filme standen in dem Ruf, mehr Unterhaltungswert als Informationswert zu besitzen, und dass sie nicht nur zu wenig historische Begebenheiten darstellten, sondern diese wenigen, die es dann doch in die Unterhaltungs-Branche schafften, auch noch völlig verfälscht und zum Teil schlicht und einfach historisch falsch wiedergaben.

      Das spiegelte selbstverständlich nicht die allgemeine Meinung wieder, aber zumindest meine, als ich mit zweifelndem Blick einige dieser Neuerscheinungen begutachtete und sie alle nacheinander verwarf, während sich Constanze mit leuchtenden Augen die Nase an der Scheibe vor den Action - und Horrorfilmen platt drückte, bei deren Anblick mir bereits die Haare zu Berge standen. Leider konnte ich ihr keine überzeugende Alternative bieten und so fand ich mich schließlich im Inneren des Kinos wieder mit einer Tüte Popcorn in der linken und einer Karte für den neusten und blutigsten Horrorfilm in der rechten Hand wieder, welcher eigentlich erst ab achtzehn war, den ich also eigentlich gar nicht hätte besuchen dürfen, was mich noch mehr abschreckte. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal im Kino gewesen war, vielleicht noch nie, vielleicht als kleines Kind, ich wusste es nicht. Wie so viele Erinnerungen aus den vergangenen Jahren war auch diese, sofern eine da gewesen war, einfach verschwunden. So als hätte jemand meine Geschichte umgeschrieben und unwichtige Ereignisse gelöscht um Platz für kommende, wichtigere zu schaffen. Nur dass dieser jemand mich nicht vorher um Erlaubnis gebeten hatte.

      Erschöpft von der langwierigen Eskapade des Einkaufens, wankte ich hinter Constanze die Treppe zu den Vorführräumen hinauf. Die Schwäche in meinem Körper übermannte mich fast. Meine Hand mit der Popcorntüte zitterte. Die rechte Hand formte ich zu einer Faust und als ich die oberste Treppenstufe erreicht hatte, blieb ich kurz stehen, schloss die Augen und holte tief Luft.

      Plötzlich schrak ich zusammen, als mich der Kartenkontrolleur von rechts anstieß und nach der Eintrittskarte verlangte. Ich schwankte einen halben Schritt zur Seite, währenddessen ich die Faust öffnete, wo ich die zerknitterte Karte fand. Der Kontrolleur verdrehte die Augen, nahm die Karte aber trotzdem entgegen und riss eine Ecke ab. Danach stieß er mich zur Seite um eine Gruppe kichernder Teenager mit einem breiten Lächeln zu empfangen. Ich taumelte ziellos weiter, bis ich in dem überschaubaren Gewühl meine Schwester ausmachte, die gelangweilt an der Wand lehnte und nach mir Ausschau hielt. Als sie mich sah, zog sie eine Augenbraue hoch und nahm mich zur Seite. „Du siehst total krank aus“, sagte sie, allerdings ohne mich beleidigen zu wollen. „Ist dir nicht gut?“

      Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Schließlich war ich mir selbst nicht sicher, ob es mir nun wirklich schlecht ging, oder ob ich vielleicht einfach nur Angst vor dem Film hatte. „Ich weiß nicht“, nuschelte ich und wendete mich dann ab, mich nach einer Toilette umblickend, die ich schließlich hinter einer langen Schlange von Kinobesuchern entdeckte. Keine Chance für mich, mir noch schnell etwas Wasser ins Gesicht zu klatschen, denn in diesem Moment wurden schon die Türen zu unserem Saal geöffnet, zu dem ich von Constanze gezerrt und zu unseren Plätzen gelotst wurde. Ich hätte nicht einmal gewusst, in welchen Raum ich musste, geschweige denn, welchen Platz ich besetzen durfte, denn ich hatte bis jetzt noch keinen Blick auf meine Karte geworfen. Es wurde mir auch schlagartig bewusst, dass ich auch nicht wusste, wie der Film hieß, vielleicht hatte ich es vergessen. Oder ich hatte wirklich gar keine Ahnung. Immerhin kannte ich das Genre und konnte mich auf Angst und Schrecken einstellen.

      Constanze hatte schon die halbe Tüte Popcorn geleert, bevor überhaupt die Werbung anfing. Das war übrigens das nächste Indiz, das dafür sprach, dass ich noch kein Kino von innen gesehen hatte. Ich dachte nämlich, dass es, sobald das Licht gelöscht würde, sofort mit dem Hauptfilm losginge, was aber nicht stimmte. Die halbe Stunde voll Werbespots für alles und jeden und haufenweise Filme, die ich fürchterlich fand, stempelte ich sofort als überflüssig ab und so nutzte ich die Zeit, doch noch die Toilette aufzusuchen.

      Der Saal war nicht einmal halb voll, wohl deswegen, weil einige Filme parallel liefen und es an einem Mittwochabend nicht allzu viele ins Kino zog (wie mir Constanze erklärte). Trotzdem bereitete es mir gewisse Schwierigkeiten, mich bis zum Ausgang durchzukämpfen, da meine Reihe fast bis auf den letzten Platz besetzt war. Mir wurde von den ständig wechselnden, riesigen Bildern sehr schnell schummerig, obwohl sich mein Zustand während des Sitzens ein bisschen gebessert hatte. Jetzt erhielt ich auf jeden Fall einen Rückschlag, was mich völlig aus der Bahn warf, allerdings erst, nachdem ich durch die Tür nach draußen gewankt war und mich das grelle Licht der Deckenleuchten vollends schikanierte. Mich an der Wand entlang tastend, suchte ich meinen Weg zur Toilette, die nun verlassen dalag. Ich musste mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, um sie zu öffnen, denn sie erschien mir schwer wie ein riesiger Stein.

      Als erstes stützte ich mich auf das Waschbecken und holte tief Luft, die Augen geschlossen haltend, um Kraft zu sammeln. Ich ging tief in mich und suchte nach Reserven, da ich fürchtete, den Weg sonst nicht mehr zurück zu schaffen und hier nach zwei Stunden von einer völlig verstörten Constanze aufgefunden zu werden, was mir sicherlich viel mehr Aufmerksamkeit eingebracht hätte, als ich an diesem Abend gebrauchen konnte. Leider fand ich keine Kraftreserven mehr in mir, die ich hätte herausholen und zur Verarbeitung frei geben können. Als ich die Augen öffnete, erkannte ich mich nicht mehr wieder. Ich starrte mir selbst ungläubig aus geröteten, geschwollenen Augen entgegen. Mein Gesicht war bleich und fahl, meine Lippen blutleer und farblos. Hätte ich mich in einen Kanal gelegt, die Ähnlichkeit mit einer Wasserleiche wäre verblüffend gewesen. Eine ganze Weile stand ich da und starrte nur, ohne zu wissen, wie ich in ein paar Tagen so krank und hilflos hatte werden können. Ich fühlte mich matt, als ich den Arm hob und den Wasserhahn aufdrehte, aus dem das kühle Nass herausströmte und gleich darauf im Abfluss verschwand. Dabei stellte ich mir vor, dass es genauso mit meiner Kraft sein müsste. Irgendwer musste einen Hahn aufgedreht und vergessen haben in zu schließen, durch den nun all meine Kraft langsam abfloss und auf Nimmerwiedersehen im Nichts verschwand, wo ich keinen Zugriff mehr auf sie hatte. Vielleicht eine Meuterei meines eigenen Körpers.

      Meine Hände waren eiskalt und zitterten, als ich Wasser in ihnen auffing und es mir ins Gesicht spritzte. Ein eisiger Schauer überlief mich und zwang mich fast in die Knie, so dass ich mich an die Wand lehnen und mich sehr auf meine Muskeln konzentrieren musste, damit sie mich aufrecht hielten. Fast wäre ich wie ein Gerüst aus morschem Holz einfach zusammengekracht. Das dröhnende Rauschen des Wassers verstummte kurze Zeit später von selbst und Stille umgab mich, die allerdings durch das Summen der Elektrischen Spannungen einiges an Intensität verlor. Das künstliche Licht surrte unangenehm, so als wäre eine kleine Fliege in meinem Kopf, die immer im Kreis flog und keinen Ausweg fand, so wie ich in diesem Moment. Es fiel mir schwer zu denken. Obwohl ich mir dieser Tatsache bewusst war, war mir auch klar, dass ich das nicht ändern konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir zutraute den Weg zurück in den Saal zu gehen und meinen Platz zu finden. Ich hoffte, dass es so hell sein würde, dass ich Constanze würde sehen können, um zu wissen, wo ich hin musste, doch ich bezweifelte, dass ich irgendetwas in diesem unsteten Licht würde erkennen können. Außerdem sah ich momentan sowieso sehr schlecht, denn die Kontraste zwischen den einzelnen Gegenständen erschienen mir so unscharf, so dass alles zu einer blubbernden Brühe verschwamm. Ich blinzelte ein paar Mal und wankte dann in Richtung Tür, die wieder ein fast unüberwindbares Hindernis bot. Es erschien mir wie eine halbe Ewigkeit, bis ich sie endlich geöffnet hatte und draußen im großen Flur stand, von dem die Türen zu den Sälen abgingen. Gerade, als ich unsicheren Schrittes meine Tür erreichte, wollte ein Mann sie schließen. Schnell schob ich mich noch vorbei und stand dann in erschlagender Finsternis da, jeglichem Orientierungssinn beraubt. Als ich meine Sehkraft Stück für Stück zurückerhielt, bis ich immerhin vage Umrisse wahrnehmen konnte, sah ich auch eine leuchtende Schrift auf der Leinwand, die wohl den Titel des Films darstellen sollte. Ich konnte zwar die meisten Buchstaben erahnen, schaffte es aber nicht, das Wort, das sich daraus ergeben hätte, zusammenzufügen. Nach mehreren Versuchen verwarf ich das Vornehmen, auf diese Art den Titel zu erfahren und wankte unentschlossen eine Treppe hinunter, mich suchend umblickend und nach einem Hinweis suchend, in welche Reihe ich mich einordnen sollte. Vermutlich war ich so müde, weil ich nachts einfach nicht richtig schlafen konnte, dass meine Wahrnehmung Schaden davon getragen hatte. Die Geräusche erschienen mir wie ein unerträgliches Getöse, die Dunkelheit war beängstigend schwarz und das Licht so beißend hell, dass ich am