Название | Schlussakt |
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Автор произведения | Joana Goede |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738086560 |
Erst auf der zweiten Treppenstufe fiel mir ein, dass ich mein Buch auf dem Fußboden vergessen haben musste. Es war wohl heruntergefallen, als ich eingeschlafen war. Ich verwarf den Gedanken, noch einmal zurück zu gehen und es zu holen, da ich die Gesellschaft dieser Clique, die sich wahrscheinlich schon im Wohnzimmer breit gemacht hatte, möglichst vermeiden wollte.
Aber ich wünschte mir, dass Constanze doch endlich einmal einen festen Freund bekommen solle, damit diese äußert nervigen Trinkgelage im Wohnzimmer, wenn Bernhard und Madeleine nicht da waren, endlich ein Ende hatten. Sicher hätte ich sie beenden können. Ein Wort von mir zu meinen Pflegeeltern und die Sache wäre erledigt gewesen, doch es war nicht meine Art, andere zu verpetzen. Natürlich störte es mich selbst, dass mir die Durchsetzungskraft und der Mut dazu fehlte, Constanze mal eins auszuwischen, doch meinen Charakter konnte ich nicht ändern. Stattdessen hatte ich gelernt, damit zu leben und mich nur innerlich aufzuregen, darauf hoffend, dass Constanze eines Tages erwischt würde. Was brachte es mir schon, wenn sie mir nicht nur gleichgültig, sondern auch noch feindlich gesonnen war? Außerdem war es mir egal, wie sie mich behandelte, bald war ich sie ohnehin los. Sobald sie Geld genug für eine eigene Wohnung verdiente, war sie weg vom Fenster und ich hatte meine Ruhe. Ein wundervoller Traum.
Als ich das dunkle Treppenhaus verlassen hatte und oben den Flur in Richtung meines Zimmers entlang ging, begann der Boden unter meinen Füßen leicht zu vibrieren. Constanze hatte unten die Stereo-Anlage aufgedreht und die Bässe auf die höchst mögliche Stufe gestellt. Das war an sich nichts Neues, doch es war immer wieder nervig. Aber schlafen hätte ich sowieso nicht gekonnt, denn ich war hellwach. Jedenfalls mein Geist. Mein Köper dagegen fühlte sich so schlaff an wie eine leere Hülle. Der Schlaf vorhin hatte wohl versäumt, mich zu erfrischen und zu kräftigen. Doch was konnte man von so einem Schlaf auch erwarten, der einem wirre Träume brachte?
Die Kätzchen protestierten, als ich sie in mein Bett legte, denn sie hatten es unten auf dem Sofa gemütlich gehabt und wollten dort auch gern weiterschlafen. Da ich mein Buch ja unten vergessen hatte, starrte ich eine Weile unschlüssig aus dem Fenster.
Der Morgen war dunkel, es zeichnete sich noch keine Morgenröte am Himmel ab. Wie spät mochte es sein? Ich wandte mich um zu meinem Bücherregal und überflog die Titel derer, die ich schon gelesen hatte. Doch im Augenblick verlangte es mich nach einer neuen Geschichte, deren Verlauf ich noch nicht kannte, und die mich erschrecken, erstaunen und erfreuen konnte. Der Roman, der unten im Wohnzimmer lag, erfüllte diese Kriterien leider nicht. Es war sicherlich ein gutes Buch, doch die Geschichte berührte mich nicht. Sie war so unpersönlich und widersprüchlich. Überhaupt wusste ich nicht so richtig, worauf die Geschichte eigentlich hinaus laufen sollte. Ich stellte fest, dass mich der Inhalt in keiner Form mehr reizte und ich nicht an dem Ende des Buches interessiert war. Das kam vor, war aber immer wieder etwas merkwürdig, weil ich mir sonst immer Gedanken um das machte, was ich gerade las, und die Geschichte nicht in dem Moment aus meinem Kopf verbannte, in dem ich das Buch zur Seite legte. Doch dieses Mal war genau das eingetreten. Das Buch war mir egal.
Ich warf einen Blick auf meine Kätzchen, die sich eng zusammengekuschelt hatten. Auch ich hätte gern geschlafen, aber mein Geist war zu wach und die Musik war zu laut. Ich beschloss, doch nach unten zu gehen und mein Buch zu holen. Es war nicht meine Art, ein Buch abzubrechen, auch wenn es mir nicht gefiel. Nur deshalb war es schließlich nicht schlecht. Außerdem wollte ich ihm noch eine letzte Chance geben, bevor ich es ungelesen in die Tiefen meines Schrankes verbannte. Es sollte noch die Möglichkeit haben zu beweisen, dass etwas Gutes in ihm steckte, so wie es auf seiner Rückseite behauptet wurde.
Während ich die Treppe hinunter schlich, was eigentlich völlig überflüssig war, da die Musik sowieso alles übertönte, hörte ich ein Klirren aus der Küche und aus dem Wohnzimmer drang lautes Gelächter. Ich setzte meinen Weg unbeirrt fort zum Wohnzimmer und warf einen Blick um die Ecke. Dort saß Constanze mit drei Freunden auf dem Sofa. Sie kicherten und lachten und schütteten immer mehr Alkohol in sich hinein. Es stank penetrant nach Bier und Parfum, eine für meinen Geschmack widerliche Mixtur. Leider konnte ich meine Nase nicht verschließen. Dort auf dem Boden vor dem Sofa, lag mein Buch. Ich hielt die Luft an. Constanze würde sicherlich böse, wenn ich sie störte. Vielleicht sollte ich lieber schnell nach oben zurückgehen. Meine Feigheit stand meiner Leselust gegenüber und fletschte die Zähne. Das konnte ja noch spannend werden. Vermutlich würde dieser Kampf in einem entschiedenen Unentschieden enden und in zehn Minuten würde ich immer noch hier stehen. Doch bevor die Feigheit zum Angriff übergehen konnte, wurde der Kampf abgeblasen.
Die Entscheidung, das Wohnzimmer zu betreten oder nicht, wurde mir abgenommen, denn jemand stieß mich von hinten einfach hinein. Ich schloss kurz die Augen, vergaß das Atmen wieder aufzunehmen und starrte auf den Boden. Natürlich half das kein bisschen.
Das Gelächter derer, die mein Wohnzimmer invadiert hatten, verstummte augenblicklich und Constanze drehte die Musik leiser. „Was willst du?“, fragte sie sofort und setzte diesen Blick auf, der signalisierte, ich solle verschwinden. Hinter mir stand einer ihrer Freunde, wohl der, der in der Küche gewesen war. „Ich wollte nur mein Buch holen. Dort auf dem Boden.“ Ich deutete auf es und machte einen Schritt vorwärts. „Nimm es dir!“, forderte sie mich auf und fügte hinzu, dann solle ich nach oben verschwinden und dort bleiben. Das war wieder einmal typisch. Als wenn ich ihr größter Feind wäre, so behandelte sie mich immer. Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, dabei mitzuspielen und immer nur der Dumme zu sein.
Mein Blick viel auf die illustre Ansammlung verschiedener Alkoholsorten auf dem Wohnzimmertisch. Augenblicklich wünschte ich mir, ich wäre oben geblieben, doch nun war es zu spät. Ich hatte meine Schwester bei dem ertappt, was ihr eigentlich von unseren Eltern verboten worden war. Doch trotzdem fühlte ich mich ihr keinesfalls überlegen. Die inferiore Stellung war mir quasi auf den Leib geschrieben. Anstatt etwas zu sagen, griff ich nach meinem Buch, drehte mich herum und wollte gehen. Doch der Kerl hinter mir hielt mich auf. Er sah so aus, als würde er die eine Hälfte seines Tages im Sonnenstudio verbringen und die andere Hälfte in einem Fitness-Center. Und nachts ersäufte er vermutlich die wenigen seiner Gehirnzellen, die bis jetzt noch geschafft hatten zu überleben, in Bier. „Du sagst kein Wort!“, zischte er mir zu und stieß mich dann in Richtung Tür. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, etwas zu sagen. Trotz meiner Wut auf Constanze wäre es mir nie eingefallen, sie zu verraten. Das würde nur Unheil nach sich ziehen. Meine Pflegeeltern wären sehr traurig und enttäuscht, wenn sie von der üblen Trunklust ihrer Tochter erfahren hatten. Das wollte ich ihnen gern ersparen. Soviel Mensch war ich immerhin, dass mir zumindest ihr Glück am Herzen lag. Abgesehen davon hätte Bernhard seine Wut über Constanze nie im Leben an ihr selbst ausgelassen. Für diese Dinge hatte ich immer gerade stehen müssen, weil ich die ewige Rolle des Sündenbocks inne hatte. Selbstverständlich ungewollt.
Ich machte einen Umweg in die Küche und holte mir von dort eine Flasche Wasser. Dabei musste ich gehörig aufpassen, dass ich nicht in die Scherben trat, denn auf dem Boden lagen sehr viele davon in einer Bierlache. Seufzend sammelte ich die Scherben auf und warf sie in den Mülleimer. Meine Hände klebten von dem Bier und mir wurde übel. Wie konnte man sich das nur literweise hinein kippen? Vielleicht war ich auch völlig verweichlicht.
Nachdem ich auch das Bier aufgewischt und meine Hände intensiv mit drei verschiedenen Seifensorten gereinigt hatte, setzte ich meinen Weg nach oben fort. Ich musste schon wirklich verrückt sein, dass ich so ein Biest wie Constanze schützte. Ich sollte sie auflaufen lassen, sie und ihre dämlichen Freunde. Das würde ihnen recht geschehen. Leider war ich nicht der Typ für einen wohlorganisierten Racheakt. Ich war noch nicht einmal der Typ für einen planlosen, zum Scheitern verurteilten Racheakt. Mühsam stapfte ich die Treppe hinauf, das Buch in der einen, die Wasserflasche in der anderen Hand. Das dumpfe Klopfen aus dem