Eine ungeheure Wut. Elena Landauer

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Название Eine ungeheure Wut
Автор произведения Elena Landauer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847619109



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      „Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich.

      „Du beschäftigst dich mit den Tätern, ich mit den Opfern“, sagte er.

      Ich empfand diese Antwort als Provokation.

      „Da liegst du falsch“, sagte ich. „Ich beschäftige mich mit psychisch Kranken, unabhängig davon ob sie Täter oder Opfer sind.“

      „Man muss doch nur die Zeitung aufschlagen. Die Gutachter beschäftigen sich doch immer nur mit den Tätern. Deren Seelenleben muss ungeheuer interessant sein, im Gegensatz zu dem der Opfer.“

      „Gut, die Gerichte schicken einem die Täter zur Begutachtung; die Opfer kommen freiwillig.“

      „Oder auch nicht. Über die Täter kann man seitenlange Abhandlungen lesen, die Opfer werden nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Und dann müssen sie sehen, wie sie mit dem Rest ihres Lebens zurecht kommen.“

      Ich lenkte ein: „Ich finde das wichtig, was der Weiße Ring tut. Ich wollte von dir nur wissen, wie du dazu gekommen bist, da mitzumachen.“

      „Ich habe vor einigen Tagen einen Bericht gelesen über das Verfahren gegen die zwei Jugendlichen, die einen Kioskbetreiber vor einem halben Jahr zusammengeschlagen haben. Du erinnerst dich?“

      „Ja; ich habe auch darüber gelesen.“

      „Der Artikel hat sich überwiegend mit dem Seelenleben der beiden Täter befasst, ihren Familienverhältnissen und ihrem bisherigen Lebenslauf, der im Wesentlichen aus Straftaten und Bewährungsstrafen bestand. Nebenbei wurde erwähnt, dass das Opfer ein Auge verloren hat und auf Krücken angewiesen ist. Dabei war der Mann erst fünfunddreißig. Er muss jetzt sehen, wie er als Krüppel seine zwei Kinder durchbringt. Von der Rente wird er kaum leben können. Die Täter haben natürlich eine Jugendstrafe bekommen. Die Armen“, sagte er ironisch, „ müssen jetzt auf Staatskosten eine Ausbildung machen, damit sie nach der Haft gut leben können.“

      Julian bewertete den Bericht mit hörbarer Verbitterung. Ich hatte die Vermutung, dass ihm irgendetwas passiert sein musste, das sein besonderes Interesse an den Opfern erklärte. Wenn das so war, konnte sein Engagement beim Weißen Ring kaum schaden. Man sagt allgemein, dass der am besten trösten kann, der selbst in einer ähnlichen Situation war wie der Trostbedürftige. Auch uns Psychiatern wird ja unterstellt, dass wir besonderes Interesse an psychisch Kranken hätten, weil wir selbst unter deren Problemen litten. Und in der Tat glaube ich, dass jemand, der wenig gelitten hat in seinem Leben, kaum ein guter Psychiater sein kann. Andererseits sollte man die Probleme aber auch hinter sich haben, bevor man sich auf Patienten stürzt, weil man sonst die eigenen Probleme auf den Patienten projiziert. Und bei Julian bestand meiner Meinung nach auch die Gefahr, dass er seine eigenen Erlebnisse nicht verarbeitet hatte. Ich war mir also in der Bewertung seines Engagements nicht ganz sicher, dachte aber an die anonymen Alkoholiker, die erfolgreicher waren als die meisten Therapeuten, gerade weil selbst Betroffene mit den Alkoholikern sprachen und nicht Besserwisser, die die Probleme nicht kannten.

      Die Wochenendkurse zogen sich über mehrere Monate hin. Danach stand Julian dem Weißen Ring am Abend und an den Wochenenden zur Verfügung, meist am Telefon. Es ging um Ermunterung der Opfer, um Hinweise auf Ansprüche gegenüber Versicherungen oder den Tätern, um zuständige staatliche Stellen und therapeutische Einrichtungen. Manchmal machte er auch Besuche, wenn Telefongespräche nicht zur Ermunterung ausreichten. Wegen seiner Berufstätigkeit stand er aber für Behördengänge während der Woche nicht zur Verfügung, was er sehr bedauerte. Da musste er sich auf Verweise an andere Mitarbeiter des Weißen Rings beschränken.

      An einem Samstag im Oktober rief ich bei ihm an, um ihn zu fragen, ob ich Kuchen mitbringen solle. Wir hatten uns am Morgen beim Joggen zum Kaffee verabredet.

      „Ja, bitte, bring etwas Kuchen mit. Für drei Personen. Ich habe Besuch.“

      „Störe ich?“

      „Im Gegenteil.“

      Als ich mitsamt Kuchen erschien, stand eine etwa 40jährige Frau vom Sofa auf und stellte sich selbst vor: „Fabienne Schwertfeger.“

      Frau Schwertfeger war eine durchaus aparte Erscheinung, vielleicht etwas zu schlank, aber auffällig teuer gekleidet. Sie musterte mich mit kritischem Blick.

      Julian erklärte mir, dass Fabienne, so nannte er sie, vor etwa einem Jahr von einem Radfahrer angefahren worden sei und einen Beckenbruch erlitten habe. Infolge der Verletzung habe sie längere Zeit ihrem Beruf als Lehrerin nicht nachgehen können und habe sich an den Weißen Ring gewandt, weil sie von dem Radfahrer, der sie angefahren habe, einem polnischen Saisonarbeiter, kein Schmerzensgeld erwarten könne, auch von keiner Versicherung, da der Mann keine Haftpflichtversicherung habe.

      „Aber der Weiße Ring kann mir auch nicht helfen“, fiel Frau Schwertfeger ein. „Das Pech bleibt mir treu. Sehen Sie, eigentlich müsste der polnische Staat, wenn er seine Bürger schon auf uns los lässt, wenigstens dafür sorgen, dass sie auch eine Haftpflichtversicherung haben. Und wenn er nicht dafür sorgt, muss er eben selbst in Haftung genommen werden. Aber keiner will mir den Prozess gegen den polnischen Staat bezahlen. Und selbst kann ich das Risiko nicht eingehen. Ich bin ein gebranntes Kind. Was meinen Sie, wie die Polizei darauf reagiert hat, dass ich von dem Polen zum Krüppel gefahren wurde?“

      Ich zuckte mit den Schultern. Frau Schwertfeger schaute mich triumphierend an.

      „Man hat mir ein Strafmandat über dreißig Euro aufgebrummt“, stellte sie empört fest.

      Ich war ehrlich überrascht, kam aber gar nicht dazu, nach dem Grund zu fragen, weil Frau Schwertfeger empört fortfuhr:

      „Angeblich, ich betone „angeblich“, bin ich blind auf den Fahrradweg gelaufen, direkt vor das Fahrrad des Polen. Ich habe natürlich sofort meinen Anwalt eingeschaltet. Ich liege halbtot im Krankenhaus und bekomme ein Knöllchen über dreißig Euro.Und jetzt kommt das Tolle: Der bescheuerte Richter hat das Strafmandat bestätigt. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich dem Polen sein altes Fahrrad ersetzen und Schmerzensgeld für den Rippenbruch hätte bezahlen müssen. Immerhin war der Richter der Meinung, der Pole müsse seinen Schaden selbst zahlen, weil er zu schnell gefahren sei. Der Pole ist dann auch jenseits der Oder verschwunden.“

      Julian schaltete sich ein. „Verschwunden ist vielleicht der falsche Ausdruck. Der Pole war ja hier zur Spargelernte, und mit der gebrochenen Rippe konnte er sich nicht mehr bücken.“

      Frau Schwertfeger ging darauf nicht näher ein, sondern setzte ihren Bericht fort:

      „Ich wollte natürlich dagegen in Berufung gehen. Aber was macht meine Rechtsschutzversicherung? Sie weigert sich, die Prozesskosten zu tragen. Die schreiben mir doch glatt, eine Berufung sei aussichtslos. Da frage ich Sie: Wozu zahlt man die Beiträge? Wenn es darauf ankommt, reden sie sich heraus. Und gegen den polnischen Staat gehen sie natürlich erst recht nicht vor. Das hat man nun davon.“

      Ich wollte gerade den Redeschwall der armen Frau Schwertfeger unterbrechen und von der Weigerung einer Versicherung, einer Freundin ihr gestohlenes Fahrrad zu ersetzen, berichten, als Frau Schwertfeger schon fortfuhr:

      „Ich habe eine Petition an das Europäische Parlament in Straßburg gerichtet und meinem Europaabgeordneten Beine gemacht. Der hat aber nur mitgeteilt, er werde alles versuchen, mir zu meinem Recht zu verhelfen, was bis heute nicht geschehen ist, und das Europäische Parlament hat erst gar nicht geantwortet. Wahrscheinlich debattieren die gerade mal wieder über den zulässigen Krümmungsgrad von Bananen. Aber ich langweile Sie nur mit meiner Leidensgeschichte“, unterbrach sich Frau Schwertfeger selbst und wandte sich an mich: „Vielleicht lande ich demnächst noch bei Ihnen als Patientin, wenn mein Glaube an die Gerechtigkeit weiter erschüttert wird. Julian hat mir ja erzählt, dass Sie Therapeutin sind.“

      Ich fragte mich, wann diese Frau endlich einmal Luft holen würde, und bedauerte die armen Kinder, die bei dieser Frau Unterricht hatten. Sie hatte noch einige Klagen mehr vorzubringen, über die Steuerpolitik, die Mineralölpreise, die Unverschämtheiten der heutigen Jugend, die Geistlosigkeit der Pop-Musik und besonders über die Männer, mit Ausnahme von Julian selbstverständlich,