Eine ungeheure Wut. Elena Landauer

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Название Eine ungeheure Wut
Автор произведения Elena Landauer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847619109



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wenn ich mit ihm verabredet war, empfing er mich an der Haustür. Eines Nachmittags, als ich vom Einkaufen nach Hause ging und gerade an seinem Haus vorbei kam, fiel mir ein, dass ich ihn noch fragen musste, wann wir uns zum Tennis treffen wollten. Sein Auto stand schon vor der Tür. Also klingelte ich bei ihm, statt ihn von zu Hause aus anzurufen. Julian ließ mich warten, dann rief er vom Wohnzimmer aus: „Einen Moment noch.“ Es war ein recht langer Moment. Nun gibt es sicher viele Gründe, weshalb jemand einen unerwarteten Besucher nicht jederzeit sofort ins Haus lassen kann. Ich war aber sicher, dass er irgendetwas vor mir verbergen musste, vor allem die Bilder über dem Klavier. Als er mich dann an der Haustür abholte, zeigte er sich erfreut über den spontanen Besuch und liebenswürdig wie immer. Wir tranken auch noch einen Kaffee zusammen, wobei wir allerdings vom Läuten des Telefons gestört wurden. Er ließ es nicht lange läuten, sondern nahm gleich ab. „Jetzt nicht“, sagte er, „ich rufe dich nachher an.“ So etwas erlebt man ja öfter und es ist ja eigentlich ein Gebot der Höflichkeit, kein Telefongespräch in Anwesenheit eines Gastes zu führen; aber die eindringliche Art, in der er das Gespräch abwürgte, machte den Eindruck, als dürfe auf keinen Fall ein verräterisches Wort laut werden. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich annehmen müssen, dass er eine heimliche Geliebte hatte; aber mir war klar, dass es nur seine geschiedene Frau sein konnte. Er entschuldigte sich kurz wegen der Störung, machte aber keine Anstalten, mich aufzuklären. Ich ließ ihm sein Geheimnis. Ich wollte nicht seine Therapeutin werden, sondern seine Freundin bleiben.

      Selbstaufopferung

      Im Frühsommer machten wir einen Spaziergang in der Holsteinischen Schweiz. Wir gingen gerade an einem der vielen Seen entlang, als eine Entenmutter mit ihren Küken im Schlepptau den Wanderweg überquerte. Plötzlich schoss ein laut kläffender kleiner Hund aus dem Wald und raste auf die Gruppe zu. Die Entenmutter stellte sich dem Angreifer schnatternd in den Weg, plusterte sich auf und schlug so heftig mit den Flügeln, dass sie sich schon vom Boden erhob. Julian rannte sofort schimpfend los, um den Hund zu vertreiben, was ihm aber erst gelang, als er nach dem Hund trat. Der Hund wich zurück, bellte aber aus sicherer Entfernung Julian an. Bald darauf hörten wir einen Pfiff. Der Eigentümer des Hundes wurde sichtbar und befahl den Hund zu sich, der sich daraufhin, indem er sich gelegentlich umdrehte und Julian ankläffte, zu seinem Besitzer zurückzog. Julian fuhr den Mann an, was er sich denn dabei denke, seine Töle im Naturschutzgebiet herumlaufen zu lassen. Der Hundebesitzer drohte Julian, er werde ihn anzeigen wegen Tierquälerei, erkundigte sich aber nicht nach Name und Adresse.

      „Tapferes Entchen“, sagte ich.

      „Ja“, meinte Julian, „todesmutig.“

      „Wie groß es sich machen konnte, als der Hund kam“, staunte ich. „Es sah fast so aus, als wolle es sich auf den Angreifer stürzen.“

      „Der Hund hätte sich trotzdem eins der Kleinen geschnappt. Die liefen ja vor Schreck durcheinander.“

      „Man sagt ja immer, so etwas sei Instinkt, aber eigentlich würdigt man damit die Tapferkeit der Ente herab.“

      „Die Tiere sind tapferer als die Menschen, weil sie nicht überlegen“, meinte Julian. „Vom Pelikan berichten ja alte Quellen, dass er sich selbst zerfleischt, um seine Jungen in der Not zu ernähren.“

      Ich widersprach: „Menschen handeln auch instinktiv. Noch bevor sie Zeit haben zu überlegen, werfen sie sich bei Gefahren schützend über ihre Kinder, bei Bombenangriffen zum Beispiel, und wenn sie Zeit haben zu überlegen, sind sie auch oft bereit, ihr Leben für ihre Kinder zu opfern, und das ist dann ein Opfer, das die Tiere nicht bringen können. Das Problem ist, dass sich die Kinder später dafür Vorwürfe machen.“

      „Wie meinst du das?“, fragte Julian.

      „Ich habe gerade eine junge Patientin, die sich Vorwürfe macht, weil ihr Vater durch ihre Schuld gestorben ist. Als er sie gerettet hat, ist er zu Tode gekommen.“

      Julian schaute mich fragend an. Er wollte mehr wissen.

      „Diese Patientin, sie ist jetzt zweiundzwanzig, hat sich als achtjähriges Mädchen von der Hand ihres Vaters losgerissen und ist auf die Straße gerannt, wo sie beinah von einem heranbrausenden Auto überfahren wurde. Als sie das Auto auf sich zukommen sah, ist sie vor Schreck erstarrt statt zurückzulaufen. Der Vater ist auf die Straße gesprungen, hat sein Kind von der Fahrbahn geschleudert und ist dann selbst überfahren worden.“

      „Und sie macht sich jetzt Vorwürfe? Sie war doch noch ein Kind.“

      „Sie hat sich einen Mann gesucht, der ihrem Vater ähnlich ist, kann aber nicht mehr mit ihm schlafen.“

      „Sie konnte also vorher mit ihm schlafen?“

      „Es ging wohl jahrelang gut; aber es ist dann immer schwieriger geworden. Sie hat Probleme, ihren Vater mit seinem Ebenbild zu betrügen. Aber sie hat noch weitere Probleme: Inzwischen ist sie auch kaum noch in der Lage, auf die Straße zu gehen. Sie sieht auch auf dem Bürgersteig Autos von jeder Seite auf sich zukommen. Dabei hat sie sich, so scheint es, jahrelang ganz normal entwickelt, Abi gemacht und eine Banklehre abgeschlossen.“

      „Wie kommt es, dass es nach Jahren aufbricht?“

      „Das weiß ich auch nicht. Ich nehme an, man hat das Kind schonen wollen und die Sache nicht angesprochen. Es gab ja auch keinen vernünftigen Grund, ihr Vorwürfe zu machen. Wie du schon gesagt hast, sie war ja noch ein Kind. Aber sie wird die Erinnerung behalten haben und irgendwann muss das Erlebnis mal verarbeitet werden. Ich weiß nicht, was der Auslöser war. Sie auch nicht.“

      „Sie wird in ihrem toten Vater einen Helden sehen.“

      „Das könnte man denken. Sie redet aber durchaus sachlich über ihrem Vater. Sie glorifiziert ihn nicht. Er war wohl recht streng und sie hing eigentlich mehr an ihrer Mutter.“

      „Vielleicht sollte sie ihn glorifizieren.“

      „Ich halte mehr von der Wahrheit.“

      „Aber er war doch ein Held!“

      „Vielleicht sollte sie stolz auf ihn sein.“

      Julian schwieg. Wir gingen eine Zeitlang nebeneinander her, ohne ein Wort zu reden. Ich war mit meinen Gedanken schon abgeschweift zur nächsten Therapiesitzung, als Julian unvermittelt sagte:

      „Eigentlich war es ein schöner Tod.“

      Einige Tage später überraschte mich Julian mit der Information: „Herr Lehmann war auch Ingenieur“

      „Welcher Herr Lehmann?“, fragte ich.

      „Der seine Tochter gerettet hat und dann selbst überfahren wurde. - Über den wir vor einer Woche gesprochen haben.“

      Ich schaute ihn mit offenem Mund an.

      „Woher weißt du das, und woher hast du seinen Namen? Ich habe ganz bestimmt keinen Namen genannt. Ich weiß ja noch nicht einmal selbst, wie der Mann hieß, weil die Tochter doch geheiratet hat und nicht Lehmann heißt.“

      „Beruhige dich, du hast keinen Namen genannt; aber es war nicht schwer, den Namen herauszufinden. Du hast gesagt, das Mädchen war acht, als der Unfall passierte und jetzt ist sie zweiundzwanzig. Die Sache ist also vierzehn Jahre her, und es gibt gute Zeitungsarchive.“

      „Das glaube ich nicht“, sagte ich. „Warum hast du das getan?“

      „Ich wollte wissen, was das für ein Mann war.“

      „Und? Was hast du herausgefunden?“

      „Weniger, als ich von dir erfahren habe. Nur in zwei Boulevard-Zeitungen habe ich etwas gefunden. Danach war er ein Held. Das hatte ich mir aber schon gedacht. Über seinen Charakter hat man sonst nichts erfahren.“

      „Versprich mir, dass du nie mehr Nachforschungen anstellst über Patienten, von denen ich dir erzähle, oder deren Angehörige. Sonst werde ich dir nichts mehr aus der Praxis berichten.“

      „Ist