Afrikanische Märchen auf 668 Seiten. T. von Held

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Название Afrikanische Märchen auf 668 Seiten
Автор произведения T. von Held
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742763129



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»O meine Kinder, warum seid ihr hierhergekommen?

       Wißt ihr denn nicht, daß eure Mutter eine Kannibalin

       ist? Sie wird euch töten, wenn sie euch hier

       findet.«

       Während er noch so redete, hörte man einen gewaltigen

       Lärm wie das Rollen von Donner; das war das

       Nahen der Menschenfresserin. Schnell nahm der

       Mann seine Kinder in einen entlegenen Winkel der

       Hütte, bedeckte sie mit Fellen und gebot ihnen, sich

       ganz still zu verhalten. Kaum hatte er sie auf diese

       Weise sorgfältig versteckt, als die Mutter eintrat; in

       der einen Hand hielt sie ein Tier, in der anderen den

       toten Körper eines Mannes. Plötzlich stand sie still,

       und mit rollenden Augen in dem Raume umherspähend,

       sprach sie:

       »Hier ist etwas, das gut riecht! Ich glaube, meine

       Kinder sind hier.«

       Doch der Mann antwortete:

       »Du träumst! Wie sollten deine Kinder hierherkommen!

       «

       Sie aber beruhigte sich nicht, sondern ging von

       Ecke zu Ecke, immer dem Geruche nach. Als sie zu

       den Fellen kam, hob sie dieselben hoch und fand die

       Kinder.

       »Es tut mir leid um euch, meine Kinder, euch hier

       zu sehen,« sagte sie traurig, »denn mein Gelüst nach

       Menschenfleisch ist zuzeiten so groß, daß ich meiner

       eigenen Kinder nicht schonen kann. Ihr hättet nicht

       herkommen sollen; denn ihr wußtet, daß ich eine

       Menschenfresserin bin.«

       Darauf bereitete sie für ihren Mann und die Kinder

       das Tier zum Essen, für sich aber den toten Mann.

       Als es nun Abend geworden war, legten sie alle sich

       schlafen. Der Vater aber nahm die Kinder schnell beiseite

       und sagte:

       »Gebt wohl acht, ihr werdet im Magen eurer Mutter

       Menschen tanzen, wilde Tiere brüllen und Hunde

       bellen hören. Dann wisset, daß sie schläft. Steht alsbald

       leise auf und geht eilends fort; denn wenn sie

       euch morgen früh sieht, wird sie euch verschlingen.«

       Es währte denn auch gar nicht lange, so hörten sie

       einen entsetzlichen Lärm in dem Magen ihrer Mutter,

       und hurtig standen sie auf und machten sich auf den

       Rückweg. Um Mitternacht erwachte das Weib und

       ward sehr zornig, als es fand, daß die Kinder fortgegangen

       waren. Schnell stand es auf, nahm eine Axt

       und folgte ihnen. Als die Kinder hinter sich sahen, gewahrten

       sie mit Schrecken ihre Mutter, die ihnen

       schon ganz nahe gekommen war. Sie waren zu müde,

       um schnell rennen zu können, und fürchteten sich

       sehr. Schließlich sagte der Knabe zu dem Mädchen:

       »Vielleicht werden unsere Tränen und Bitten unsere

       Mutter rühren. Laß uns stehen bleiben und sie erwarten.

       «

       Doch das Mädchen erwiderte:

       »Sie ist hungrig und wird weder unserer Tränen,

       noch unserer Bitten achten.«

       Doch der Knabe beharrte:

       »Laß es uns versuchen.«

       Bald war die Kannibalin ganz nahe gekommen; da

       fingen die Kinder an, laut zu klagen und um ihr Leben

       zu flehen. Und wirklich wurde die Frau gerührt davon

       und kehrte um. Als sie in ihre Hütte trat, ergriff sie

       ihren Mann, um ihn zu töten und zu essen; denn sie

       war sehr hungrig. Doch der wehrte sich und rief:

       »Ho, ho, wenn du mich tötest, wer ist denn dann

       dein Mann?«

       Da ließ sie ihm das Leben, machte sich aber sofort

       auf den Weg, um von nun an ihre Kinder zu verfolgen.

       Nahe bei dem Dorf ihres Großvaters holte sie sie

       ein und verschlang beide. Dann ging sie in das Dorf

       und verschlang Männer, Frauen und Kinder und

       schließlich auch alles Vieh, welches sich vorfand.

       Gegen Abend machte sie sich auf den Heimweg. Als

       sie durch ein tiefes Tal kam, sah sie von weitem einen

       schönen, bunten Vogel, der wuchs zusehends und war

       schließlich so groß wie ein Haus. Als die Frau ganz

       nahe gekommen war, fing der Vogel an mit lauter

       Stimme zu singen:

       »Ich bin der schönste Vogel dieses Tales; warum

       kommst du, mich zu stören?«

       Während er so sang, kam er langsam schrittweise

       näher und nahm schließlich der Frau ihre Axt fort;

       dabei sang er immerzu. Die Kannibalin fing an, sich

       zu fürchten, und sprach:

       »Vogel, gib mir meine Axt wieder, ich will dein

       Fleisch ja nicht!«

       Da riß der Vogel ihr einen Arm aus. Sie schrie laut

       auf vor Schmerz und sprach:

       »Vogel, gib mir, was mein; gib mir zurück, was du

       mir genommen hast; dann will ich weitergehen.«

       Doch der Vogel schien sie gar nicht zu hören, sondern

       sang immer denselben alten Sang:

       »Ich bin der schönste Vogel dieses Tales!«

       Da rief die Frau wieder mit lauter Stimme:

       »Vogel, gib mir wieder, was du mir genommen

       hast! Ich muß heimgehen zu meinem Mann und für

       ihn kochen!«

       Da riß ihr der Vogel ein Bein aus, daß sie zur Erde

       fiel. Der Vogel aber sang weiter und weiter die nämlichen

       Worte. Als die Frau sah, daß ihr Leben in Gefahr

       war, sann sie auf eine List, um zu entkommen.

       »Vogel,« sprach sie, »du kannst nicht gut singen.

       Ich will dich singen lehren, wenn du mir wiedergibst,

       was mein, und mich gehen läßt.«

       Da breitete der Vogel seine Flügel aus und riß ihr

       mit seinem Schnabel den Magen auf. Aus dem Magen

       aber kamen hervor alle Leute und alles Vieh, das die

       Frau in den letzten Tagen verschluckt hatte, und sie

       selber starb unter großen Schmerzen. Ihre eigenen

       Kinder kamen auch wieder zum Vorschein, und die

       anderen Leute machten sie zu Herren des Landes.