Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr

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Название Das Kestel Psychogramm
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708618



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ist, weiß ich nicht.“

      „So so, der Herr entscheidet jetzt, ob man in der Schule einen Ranzen braucht oder nicht“, stieß seine Mutter mit rotem Kopf hervor und Tobias senkte den Blick. Sie war nahe davor, die Geduld zu verlieren und das bedeutete mindestens eine Ohrfeige für ihn. „Du holst jetzt sofort deinen Ranzen und die Schultüte liegt in der Küche. Wärst du nicht so trödelig, wüsstest du das alles!“

      Tobias drehte sich rasch um, um den drohenden Schlägen zu entgehen. So schnell ihn seine kleinen Beine trugen, holte er den Ranzen und die Schultüte. Darin klapperte es verführerisch und vor seinen Augen erschienen Schokoladen, Bonbons und andere Süßigkeiten. Leider hatte seine Mutter keine Zeit erübrigen können und war nicht zum gemeinsamen Basteln in die Schule gekommen, wie all die anderen Mütter. Irgendwann brachte sie diese fertige Tüte von einem Einkauf mit nach Hause. Tobias gefiel sie nicht sonderlich, denn es handelte sich eindeutig um eine Mädchenschultüte. Auf einem rosafarbenen Untergrund mit goldenen Sternen tanzte irgendeine Märchenfigur in einem scheußlichen Ballettkostüm. Doch es kam schließlich auf den Inhalt an und außerdem blieb ihm ja keine Wahl.

      Die Kirche betraten sie als einige der Letzten und das brachte Tobias einen bösen Blick seiner Mutter ein. Die Messe begann gerade und alle Bänke waren belegt. Seine Mutter quetschte sich mit Mühe auf einen Platz und nötigte ihre Sitznachbarn dadurch enger zusammenzurücken. Dann nahm sie seine Schwester auf den Schoß. Tobias stand im Gang neben ihnen und ließ seinen Blick über die zukünftigen Mitschüler und ihre Familien schweifen. Viele berufstätige Väter und Mütter hatten sich diesen Tag frei genommen, um bei ihren Sprösslingen zu sein. Sein Vater wollte ‚für diesen Quatsch‘, wie er es ausdrückte, keinen freien Tag opfern und erstickte jede von Tobias Bitten sofort im Keim. Wenn Mutter dabei wäre, würde das schließlich reichen. Alle lauschten aufmerksam den Worten des Pfarrers und während Tobias sich so umschaute, konnte er kein einziges Kind mit einem Ranzen entdecken. Und keinen Jungen, der eine rosafarbene Schultüte auf dem Arm hielt.

      Nach der Messe folgten sie dem Pulk zur Schule hinüber. Tobias taten die Beine vom langen Stehen weh und er hatte Mühe seiner Mutter zu folgen. Die ermahnte ihn ständig, nicht so langsam zu gehen, sie würden doch seinetwegen den Anschluss verpassen. Tobias bemühte sich schneller zu laufen und stolperte über einen Stein, wobei ihm die Schultüte aus der Hand fiel. Rasch bückte er sich danach, noch gingen Schwester und Mutter vor ihm und hatten nichts bemerkt. Irgendjemand stieß von hinten gegen ihn und brachte ihn endgültig ins Straucheln. Tobias fing sich mit einer Hand ab, wobei er sich auf die Schultüte stützte. Genau an der Stelle, an der die Tänzerin einen Fuß auf eine blassblaue Wolke setzte, verunstaltete plötzlich ein tiefer Knick die Tüte.

      Ein Mann half ihm auf. „Junge, du musst aber besser aufpassen. Bist wohl eine kleiner Hans-guck-in-die-Luft, was?“ Die zerbeulte Schultüte landete wieder in seinen Händen und der Junge bemühte sich, seine Mutter einzuholen. Zum Glück hatten weder sie, noch die Schwester etwas gemerkt.

      Auf dem Schulhof standen mehrere Lehrer und Lehrerinnen, die sich um die neuen Schüler und deren Eltern kümmerten. Sie hielten Listen in den Händen. Tobias‘ Mutter nannte einer kleingewachsenen Frau mit grellroten Haaren ihren Namen. Die zeigte auf eine Baracke am Rande des Schulhofes: „Klasse 1D, Frau Kestel. Gehen sie dort hinüber, Tobias‘ Klassenlehrerin sagt ihnen dann, wie es weitergeht.“

      „Siehst du, Tobias, jetzt bist du schon fast ein Schüler“, meinte seine Mutter und betrachtete ihn. Den Fleck auf der Hose ignorierte sie geflissentlich, dann verharrte ihr Blick auf der demolierten Schultüte. „Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, grollte sie böse. „Kannst du mit deinen Sachen nicht vernünftig umgehen? Es ist eine Schande, man muss sich ja für dich schämen!“

      Während des gesamten Weges bis zu der kleinen Baracke, die in zwei Schulräume unterteilt war, hielt sich seine Mutter mit der Strafpredigt dran. Stefanie sah sich derweil mit großen Augen um. „Darf ich auch bald in die Schule?“, fragte sie und stoppte damit den Redefluss ihrer Mutter.

      „Da musst du noch ein wenig warten, mein Schatz. Zwei Jahre. Aber die vergehen schnell und bis dahin gehst du schön weiter in den Kindergarten. Dort lernst du ja auch etwas.“

      Steffi nickte: „Ich kann auch schon rechnen. Zwei mal zwei ist fünf.“

      „Vier“, korrigierte Tobias, der zwar noch nicht gut rechnen konnte, doch so leichte Aufgaben bereiteten ihm keine Probleme.

      „Sei nicht so vorlaut, Tobias“, rügte ihn seine Mutter. „Das wirst du dir in der Schule ganz schnell abgewöhnen müssen. Bevor du etwas sagst, musst du dich nämlich melden!“

      Die Klassenlehrerin, eine ältere, magere Frau, nahm sie an der Tür in Empfang. Diesmal musste Tobias seinen Namen nennen. „Du hast aber eine schöne Schultüte“, lobte sie und Tobias wusste, dass die Frau log. „So ... so ... speziell. Und einen Ranzen hast du auch schon mitgebracht. Du bist ja ein ganz eifriger, was?“ Sie zeigte auf einen Tisch, hinter dem zwei Stühle standen. Auf dem einen saß ein dicker Junge mit roten Haaren. „Das ist dein Platz. Setz dich dort hin, der Unterricht beginnt gleich.“

      „Hallo, ich bin Tobias.“ Er ließ sich auf dem Stuhl nieder, was wegen des Ranzens auf dem Rücken sehr unbequem war. Tobias saß vornübergebeugt und hielt seinem Tischnachbarn die Hand hin.

      „Marvin“, erwiderte der kurz angebunden, ergriff aber nicht die dargebotene Hand. Dann blickte er ostentativ zur Tafel vorne. Tobias spürte, dass sie keine Freunde werden würden.

      Irgendwann befanden sich alle Schüler im Klassenraum. Mütter und Väter standen an den Seiten des Raumes und betrachteten ihre Kinder stolz. Tobias warf einen Blick zu seiner Mutter, bemerkte aber, dass die sich mit seiner Schwester beschäftigte. Fotos wurden gemacht und als schließlich etwas Ruhe eintrat, begann die Lehrerin lustlos mit dem ‚Unterricht‘. Dabei handelte es sich aber mehr um Hinweise zum Schulalltag, Informationen über Bestimmungen und Verbote und schließlich erhielten sie eine Liste mit den Dingen, die sie in den nächsten Tagen mitzubringen hatten. Tobias langweilte sich schon nach kurzer Zeit, da er nur die Hälfte von dem verstand, was die magere Frau erzählte. Seine Gedanken schweiften ab und erst als der rothaarige Junge neben ihm, gegen seine Schulter schlug, blickte er auf.

      „Hallo, da haben wir ja einen kleinen Träumer“, ließ sich die Lehrerin vernehmen und einige der Eltern lachten leise. Tobias spürte, wie er rot im Gesicht wurde. „Also Junge?“

      Tobias blickte die Lehrerin fragend an. Dann schweifte sein Blick hilfesuchend zu seiner Mutter, die ihn aber lediglich böse ansah.

      „Aufstehen, du bist an der Reihe“, zischte der Dicke neben ihm und Tobias erhob sich unsicher. Da er nicht aufgepasst hatte, wusste er auch nicht, was man von ihm erwartete.

      „Nun, Träumer?“, hörte er die Lehrerin ungeduldig sagen. „Wie heißt du und was sind deine Hobbies?“

      „Tobias“, stotterte er und überlegte, was für Hobbies er hatte. Eigentlich keine, aber das konnte er doch hier jetzt nicht sagen.

      „Und weiter? Du musst schon deinen vollständigen Namen nennen!“ Die Lehrerin hielt in der Hand ein Holzlineal und ließ es nun auf ihre linke, offene Handfläche klatschen. Tobias fühlte sich an den Lederriemen seines Vaters erinnert und ein ungutes Angstgefühl breitete sich in seinem Körper aus.

      „Tobias Kestel“, stammelte er schließlich, wurde aber von der Lehrerin sofort unterbrochen: „Wir bemühen uns hier um ganze Sätze, Tobias. Wir sind ja schließlich nicht im Kindergarten. Beginn noch einmal von vorne, Junge: Ich heiße ...“ Wieder lachten einige Eltern und Tobias spürte eine nie dagewesene Wärme im Gesicht und eine zunehmende Hilflosigkeit.

      „Ich heiße Tobias Kestel.“

      Es trat ein Augenblick der Stille ein. Schließlich schüttelte die Lehrerin den Kopf: „Ja und? Welche Hobbies hast du?“

      Tobias fiel nichts ein und er überlegte angestrengt. Dann dachte er an das Planschbecken im Garten. „Schwimmen.“

      „Mein Hobby ist Schwimmen“, wandelte die Lehrerin seine Aussage in einen ganzen