Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr

Читать онлайн.
Название Das Kestel Psychogramm
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708618



Скачать книгу

Mann nickte wohlwollend, sagte aber nichts. Der Junge, der vor ihm auf dem Tisch dermaßen an Händen, Beinen und Kopf festgeschnallt lag, dass er sich nicht rühren konnte, ließ jetzt ein Schluchzen vernehmen. Er hieß Timor und erst vor einer Woche hatte er seinen zehnten Geburtstag gefeiert. Der Mann wusste dies aus den Unterlagen in dessen Schulranzen. Auch dass Timor ein schlechter Rechenschüler war, hatte er herausgefunden.

      „Bald ist alles gut, Timor“, krächzte der Mann. Vor lauter Vorfreude wollte seine Stimme versagen. Die tränennassen, blauen Augen sahen ihn unverwandt an. „Schließe die Augen, Timor.“

      Doch der Junge sah ihn nur an. Statt die Augen zu schließen, flossen nun ganze Tränenbäche und der Weinkrampf schüttelte den kleinen Körper.

      „Du schließt jetzt sofort die Augen!“, befahl der Mann. Die ihn klagend anstarrenden Augen nahmen der Situation einen Teil ihres Reizes. „Sofort!“, fügte er fast schreiend hinzu.

      Timor starrte ihn weiter an. „Bitte lassen sie mich gehen, ich sage auch niemandem etwas!“ Die Worte waren vor Schluchzen kaum zu verstehen. Die blauen Augen schlossen sich nicht.

      Der Mann wendete sich um und blickte sinnend auf seine Instrumente. Dann nahm er das Skalpell und wog es in der Hand. Wieder lief ihm dieses genüssliche Frösteln den Rücken herunter, während er sich langsam über den Jungen beugte. Das Skalpell zielte auf das linke blaue Auge und der Junge begann wie wild an seinen Fesseln zu zerren. Aber er schloss einfach nicht die Augen. Als sich das Skalpell in den Augapfel bohrte, begann Timor zu schreien. Der Mann hielt kurz inne, nickte und genoss für einen Moment das Gefühl, das sich in solchen Augenblicken immer einstellte. Das Schreien, untermalt von der volltönenden Musik, hinterließ in ihm eine große Zufriedenheit.

      Dann stieß er das Skalpell noch ein wenig tiefer in die Augenhöhle.

      Plötzlich erlahmten die Bewegungen des Kindes und das Schreien erstarb abrupt. Der Mann legte zwei Finger auf die Halsschlagader des Jungen und stellte beruhigt fest, dass Timor noch lebte. Sorgfältig reinigte er das Skalpell. Aus einer kleinen Sprühflasche benetzte er es sogar mit Desinfektionsmittel, wobei er mehr versprühte, als unbedingt erforderlich. Aber der Geruch erregte ihn und erneut kroch eine Gänsehaut seinen Rücken herunter. Zufrieden betrachtete der Mann das silberne Messer im Licht der Leuchtstoffröhren. Es war makellos rein.

      Aus einem kleinen Gefäß goss er etwas Wasser in das Gesicht des Jungen. Leise wimmernd erwachte der und versuchte sich aus seinen Fesseln herauszuwinden. „Mama, Mama, bitte Mama hilf mir ...“, ließ er sich schluchzend und jammernd vernehmen.

      Der Mann zögerte nicht lange. Jetzt war der vollkommene Augenblick gekommen! Mit einem gekonnten Schnitt öffnete er die Bauchdecke Timors. Gedärme quollen heraus und ein entsetzliches Kreischen entrang sich der Kehle des Kindes. Der Mann lächelte zufrieden und genoss den Anblick. Der vor Schmerz und Angst aufgerissene Mund, das Gurgeln, das aus der Kehle drang und die unnützen Versuche die Fesseln abzustreifen.

      Schließlich erstarben die Schreie und der Mann nickte zufrieden. Mit einem weiteren, raschen Schnitt öffnete er den Brustkorb. Jetzt musste es schnell gehen und fast ein wenig angewidert langte er zu dem profanen Instrument, das ihm aber stets gute Dienste leistete. Mit einer silbrig glänzenden Hähnchenschere durchtrennte er einige Rippen und warf sie achtlos in eine bereitstehende Schale. Das Herz schlug noch, zwar unregelmäßig aber es schlug. Mit festem Griff legte er seine Hand um das warme, pulsierende Organ. Dann schnitt er es mit einem zufriedenen Seufzer heraus.

      1. Ein Arbeitstag

      Das schlechte Wetter konnte ihm seine gute Laune nicht vermiesen. Es goss in Strömen als er das Haus verließ und die kurze Strecke bis zu seinem Fahrzeug wäre er ohne seinen Regenschirm bis auf die Haut nass geworden. Mit heulender Sirene verließ ein Feuerwehrwagen die Betriebshalle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er warf nur einen kurzen, uninteressierten Blick auf das rote Auto mit den blinkenden Lichtern. Mittlerweile hatten sie sich an die Fahrzeuge gewöhnt, die sie auch oft nachts aus dem Schlaf rissen. Seine Frau war von Anfang an dagegen gewesen, das Haus hier zu kaufen, aber letztlich entschied der günstige Preis und sie konnten sich damals ohnehin nichts anderes leisten. Die Alternative wäre eine Mietwohnung gewesen.

      Tobias Kestel warf den nassen Schirm auf den Boden der Beifahrerseite und rutschte rasch hinter das Steuer. Es goss wie aus Eimern und erneut bereute er, nicht wenigstens in einen Carport investiert zu haben. Auch ein neuer Wagen wäre schön, doch momentan reichte das Geld vorne und hinten kaum. Er konnte sich jetzt keine weiteren Schulden leisten und es war überhaupt fraglich, ob die Bank ihm einen weiteren Kredit geben würde. Also musste es der kleine rote Peugeot mit dem Baujahr Neunzehnhundertachtundneunzig noch eine Weile tun. Die Kinder kamen mittlerweile in ein Alter, in dem sie anfingen, Ansprüche zu stellen und auch seine Frau war eher nicht der Typ, der jeden Cent zweimal umdrehte. Tobias wollte schon seit einer geraumen Weile seinen Chef um eine Gehaltserhöhung bitten, doch - ehrlich gesagt - hatte er bisher nicht den Mut dazu aufbringen können. Er arbeitete nunmehr seit fünfzehn Jahren bei Bensmann Immobilien und trat mehr oder weniger auf der Stelle. Und seit es die neuen, restriktiven, Bestimmungen mit Sachkundenachweis und Fortbildungszwang gab, war der Job auch nicht einfacher geworden. Tobias musste damals noch die alte, harte Schule des ‚Learning by Doing‘ mitmachen und er war der Meinung, dass es ihm nicht geschadet hatte. Er schüttelte den Kopf und startete den Wagen. Eile war geboten, denn sein Chef legte größten Wert auf Pünktlichkeit und Tobias konnte sich jetzt keine Rüge mehr leisten. Nicht, wenn er auch noch die Gehaltserhöhung ansprechen wollte.

      Während er sich durch den Berufsverkehr quälte, kreisten seine Gedanken noch einmal um das vergangene Wochenende. Lächelnd dachte er an den Samstag zurück, bevor seine Gedanken sich ein wenig verdüsterten und zum Sonntag sprangen. Wieder einmal ließ seine Frau Angelika ihre ständig schlechte Laune an ihm aus, indem sie alles, was er tat, kritisierte. Vorsorglich war er am Samstag, oder besser am Sonntag, spät in der Nacht heimgekehrt, so dass sie schon tief und fest schlief. Der säuerliche Geruch nach Rotwein und die drei leeren Flaschen im Wohnzimmer zeigten ihm, dass sie wieder einmal den Kampf gegen ihre Depressionen verloren hatte.

      Am Sonntagvormittag dann stand sie erst gegen halb Zwölf auf und ihr erster Weg führte sie in den Keller, wo die Rotweinflaschen lagerten. Doch an diesem Wochenende konnte nichts und niemand Tobias die Laune verderben. Er ignorierte die Ausfälle seiner Frau und widmete sich größtenteils seinen Kindern. Die jedoch empfanden seine Nähe offensichtlich eher störend und schließlich hatte er sich achselzuckend vor den Fernseher zurückgezogen. Bei der momentanen Wetterlage blieb einem ja auch kaum etwas anderes übrig.

      Tobias stoppte den Wagen mit kreischenden Bremsen an einer Ampel, die gerade auf Rot umsprang. Fluchend blickte er in den Rückspiegel, doch sein Hintermann hatte zum Glück rechtzeitig auf sein plötzliches Bremsmanöver reagiert. Ein Auffahrunfall wäre das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen könnte. Wie meistens, nahm er die Route über die Autobahn einundfünfzig am Rhein entlang, um zu dem Büro in Köln Bayenthal zu gelangen. Die Suche nach einem Parkplatz nahm noch einmal fünf Minuten in Anspruch, doch er hatte Glück, diesmal müsste er nicht allzu weit laufen.

      Leichtfüßig stieg er die Treppen zum zweiten Obergeschoss hinauf. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er noch ziemlich beweglich. Und das, obwohl Tobias niemals Sport trieb. Dafür verzichtete er aber größtenteils darauf, einen Aufzug zu benutzen. Zumindest, wenn es nicht höher als in den dritten Stock hinaufging. Während er seine ein Meter neunundsiebzig über die Stufen bewegte, wanderten seine Gedanken wieder zurück zum vergangenen Wochenende. Lächelnd trat er durch die Glastür mit der Aufschrift ‚Bensmann Immobilien‘, die zu den Büros führte. Sein Chef, Herr Bensmann, hatte in dem Bürogebäude eine komplette Etage gemietet und neben dem Großraumbüro und dem Büro des Chefs befanden sich dort auch eine kleine Teeküche, sowie ein Konferenzraum, den sie auch für Kundengespräche nutzten.

      Im Flur kam ihm sein Kollege Walther Warsers mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht entgegen. Der Zweiundfünfzigjährige hielt in der Hand einen Becher mit Tee, er kam offensichtlich gerade aus der Küche. Tobias konnte den Mann nicht leiden, er fand den kaum ein Meter siebenundsechzig großen Mann