Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr

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Название Das Kestel Psychogramm
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708618



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kauften sie auch als Alibifunktion zwischendurch noch die ein oder andere Bluse, das war’s dann aber auch. Tobias hasste Alkohol, seitdem sein Vater ihn im Alter von sechzehn Jahren zum ‚Mann‘ machen wollte. Er hatte seitdem nie wieder einen Tropfen angerührt. Die einzige Ausnahme bildete reiner Alkohol, den er aber zum Reinigen benutzte. Reiner Alkohol und vielleicht auch verdünnte Salzsäure, wenn es ganz besonders sauber werden musste.

      Das Schlafzimmer stank nach Kneipe und billigem Fusel, als Tobias erwachte. Angelika war kurz vor fünf Uhr morgens nach Hause gekommen und stellte damit einen neuen Rekord auf. Er wurde wach, als sie sich auf das Bett fallen ließ und sofort in tiefen Schlaf fiel. Seine Frau hatte es nicht einmal mehr geschafft, sich auszuziehen, lediglich von den Schuhen konnte sie sich befreien. Ihre Kleidung stank nach Alkohol und Zigarettenrauch und Tobias drehte sich angewidert um. Morgens wunderte er sich, wie er überhaupt noch einmal hatte einschlafen können.

      Jetzt betrachtete er Angelika in der beginnenden Dämmerung. Der Lippenstift war um den Mund herum verschmiert und sie sah ein wenig wie ein Clown aus. Schwarze Streifen von verlaufener Wimperntusche schmückten ihre Wangen von den Augen herunter. Sie lag auf dem Rücken und Tobias erkannte Schmutzflecken auf ihren Knien und am Kleid. Angelika musste hingefallen sein, aber offensichtlich war sie nicht verletzt. Wie lange waren sie jetzt verheiratet? Er brauchte nicht lange zu rechnen, denn der Grund ihrer Ehe lag im Zimmer nebenan: Laura mit ihren sechzehn Jahren. Die ganze Sache lief von Anfang an so richtig schief. Es war niemals sein Plan gewesen, eine Frau kennenzulernen, geschweige denn zu heiraten. Doch Angelika wusste genau, was sie wollte und Tobias überlegte oft, ob sie nicht mit Berechnung gehandelt hatte. Manchmal zweifelte er sogar daran, dass Laura überhaupt sein Kind war. Jedenfalls schaffte sie es, dass sie heirateten und das war wirklich ein Fehler gewesen.

      Eine Zeit lang hatte der Sex mit ihr auf ihn ablenkend gewirkt und seine innere Unruhe gelindert. Doch der Reiz verflog schnell und besonders nach Finns Geburt war er mit seinen Gefühlen und Problemen wieder alleine. Die Geburt des Jungen stürzte seine Frau in eine Depression, die sie anfänglich gar nicht als solche erkannten. Immer häufiger griff sie zum Alkohol, bis ihr ein Arzt schließlich Antidepressiva verschrieb. Bis zur Geburt ihres Sohnes hatte sie ihre Probleme einigermaßen im Griff gehabt, doch danach wurde es schlimmer und schlimmer. Angelika fühlte sich durch die beiden Kinder einfach überfordert, obwohl sie keiner Arbeit nachging und den ganzen Tag zu Hause blieb. Bald schon kombinierte sie die Tabletten mit Alkohol und es kam schließlich der Tag, als Tobias einfach nur noch wegschaute. Er hatte die ewigen Streitereien satt, die jedes Mal aufkamen, wenn er ihren Alkoholkonsum kritisierte. Einmal mehr dachte er über die Scheidung nach, doch so richtig konnte er sich dazu nicht durchringen.

      Nach ihrer Hochzeit häuften sich seine Probleme ebenfalls und während einer Routineuntersuchung durch seinen Hausarzt, kam es mit dem Mediziner zu einem umfangreichen Gespräch. Der verschrieb ihm schließlich die Orap, als temporäre Lösung und legte Tobias nahe, eine Psychotherapie zu machen. Bei dem Gedanken an seine kleinen, weißen Pillen, seufzte er laut auf und kramte in der Schublade seines Nachttischchens herum. Den Blister mit den Tabletten fand er auf Anhieb und rasch nahm er eine davon. Er müsste sich in absehbarer Zeit neue Medikamente verschreiben lassen, sein Vorrat neigte sich allmählich gefährlich dem Ende entgegen. Heute würde jedenfalls er dafür sorgen müssen, dass die Kinder zur Schule kamen und Tobias blickte auf die Küchenuhr. Es wurde Zeit, die Kleinen zu wecken.

      „Aufwachen mein Schatz.“ Tobias rüttelte seine Tochter vorsichtig an der Schulter, bis die ihn verschlafen ansah. „Papa. Guten Morgen. Wo ist Mama?“

      „Guten Morgen, Kleines. Mama schläft noch, sie hatte gestern einen schweren Tag“, die Wahrheit würden seine Kinder noch früh genug erfahren. „Heute habe ich euch Frühstück gemacht. Also, raus aus den Federn, gewaschen und ab in die Küche. Ich muss Finn wecken.“

      Sein Sohn wurde zwei Jahre nach Laura geboren. Eigentlich hatten Angelika und er sich darauf geeinigt, keine weiteren Kinder zu bekommen, doch nach einer ihrer ‚Shoppingnächte‘ war es ihr so schlecht gegangen, dass sie sich ständig übergeben musste. Vermutlich hatte sie an dem Tag ihre Verhütungspille wieder ausgekotzt oder sie einfach vergessen. Jedenfalls war das Ergebnis dieses Versäumnisses Finn, der exakt neun Monate später auf die Welt kam. Tobias war glücklich und dankbar, dass der Junge ohne Behinderung geboren wurde, was bei dem Tabletten- und Alkoholkonsum seiner Frau keine Selbstverständlichkeit war.

      „Finn, wach auf. Es wird Zeit für die Schule.“ Der Kleine lag auf der Seite, wandte ihm das Gesicht zu und nuckelte im Schlaf an seinem Daumen. Tobias hatte oft mit Angela gesprochen, dass sie dem Jungen das doch abgewöhnen solle, doch auch hier musste er bald einsehen, dass seine Predigten lediglich zu Streitereien mit ihr führten. Nun, Finn würde sich das Daumenlutschen schon mit zunehmendem Alter selber abgewöhnen. Ebenso, wie sich das leichte Stottern mit der Zeit ja auswachsen sollte.

      Er warf einen Blick auf seine Uhr. Wie immer, wenn er sich morgens um die Kinder kümmern musste, würde er auch heute wieder zu spät ins Büro kommen. Bensmann dürfte darüber nicht erfreut sein, aber vielleicht merkte er es auch gar nicht.

      „W... w... wo ist M... ama?“, fragte Finn und stopfte sich ein Weißbrot mit Schokoladenaufstrich in den Mund. Finn liebte Süßigkeiten, süßes Essen und gezuckerte Getränke und das sah man ihm auch an. Der Junge vermied darüber hinaus alle übermäßigen Aktivitäten und konzentrierte sich lieber auf das Spielen am Computer. Mit seinen vierzehn Jahren hatte er schon einmal eine Schulklasse wiederholen müssen. Tobias fragte sich, ob sein Sohn einfach nur faul war oder wirklich nicht über die notwendige Intelligenz verfügte. Laura war da ganz anders. Das Mädchen war schlank, sportlich und eine durchschnittliche bis gute Schülerin.

      „Mama schläft noch“, erklärte Tobias. „Sie hatte gestern einen schweren Tag.“ Er übersah geflissentlich, wie sich seine Kinder einen wissenden Blick zuwarfen.

      Tobias Kestel schlich sich in das Großraumbüro und hoffte, dass sein Chef ihn noch nicht vermisst hatte. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht, denn Bensmann stand neben seinem Arbeitsplatz und sah ihm verärgert entgegen. „Kestel, sie sind schon wieder zu spät. Das wievielte Mal ist es das jetzt schon in diesem Monat?“ Bensmann wollte keine Antwort, sondern fuhr direkt fort: „Ich werde ihnen die ständigen Fehlzeiten vom Gehalt abziehen! Sehen sie zu, dass sie in Zukunft pünktlicher sind.“ Der Chef blickte auf seine Armbanduhr. Es handelte sich um eine einfache, schmucklose Uhr irgendeines unbekannten Herstellers. Tobias dachte an seine Lacroix und ihn überkam ein kurzes Gefühl der Überlegenheit.

      „Sie sollten um halb Zehn wegen der Wohnungsvermietung in Troisdorf sein, schon vergessen? Mensch, Kestel, sie werden immer unzuverlässiger. Jetzt musste ich Warsers hinschicken und der hat weiß Gott andere Aufgaben. Sie wollen doch nicht, dass ich mich nach einem neuen Mitarbeiter umsehen muss?“ Bensmann wandte sich um, und rief ihm im Gehen noch zu: „Und vergessen sie den Termin um vierzehn Uhr nicht!“

      Tobias schlich wie ein geprügelter Hund an seinen Schreibtisch. Rasch nahm er eine Pille, dann widmete er sich seinen Aufgaben. Vielleicht müsste er ja doch noch einmal mit seiner Frau sprechen, denn so konnte es nicht weitergehen!

      Der Dauerregen der letzten Tage hatte endlich aufgehört und manchmal drang die Sonne schon durch die Wolkendecke. Es war zwar noch ungemütlich kalt, doch der Frühling nahte mit Riesenschritten. Wenigstens blieb es jetzt trocken. Den Besichtigungstermin spulte Tobias mit ruhiger Professionalität ab, die Fragen der Interessenten blieben sich immer gleich und schließlich verstaute er den obligatorischen Stapel mit den ausgefüllten Bewerbungsbögen in seiner Aktentasche. Die Besichtigung hatte im Stadtteil Ossendorf stattgefunden, eine schäbige Dreizimmerwohnung, für die es aber wieder zahlreiche Interessenten gab. Tobias sehnte sich nach der Vermittlung der Eigentumswohnungen zurück. Die potentiellen Käufer einer Wohnung waren doch eine ganz andere Klientel, als diese profanen Mieter!

      Es war noch relativ früh und er würde die Formulare im Büro schon einmal vorsortieren können. Diesmal befand sich kein Umschlag mit Bargeld dabei, dafür hatte ihm eine blondierte, dickbusige Frau Mitte Zwanzig eindeutige Angebote gemacht. Sie bot sich sogar an, zu warten, bis alle anderen Interessenten die Wohnung verließen. Die Frau sprach leise und hastig und sparte nicht mit bildreichen Erklärungen,