Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr

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Название Das Kestel Psychogramm
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708618



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dieses klägliche Miauen. Bevor sie ihm noch davonlaufen konnte, nahm Tobias das kleine Wesen in die linke Hand. Jetzt hielt er es mit festem Griff und das Tier fing an sich unter seinen Fingern zu winden. Doch es war zu schwach, um ihm zu entkommen. Kleine, noch nicht wirklich gefährliche Krallen, fügten seinem Handgelenk leicht blutende Kratzer zu.

      Tobias spürte eine plötzliche Ruhe und Entspanntheit in sich, die er seit Jahren irgendwie vermisst hatte. Beim Betrachten des hilflosen Tieres stellte sich dieses wohlige Gefühl ein und eine leichte Gänsehaut kletterte seinen Rücken hinab. Er genoss diesen Moment, so wie er vorhin die Minuten genossen hatte, als Stefanie ihm beim Auspacken der Schultüte zusehen musste und diese dämliche ‚Kindergartentüte‘ noch nicht besaß. Das Kätzchen wand sich jetzt stärker und miaute kläglich. Tobias hielt es eisern fest, so dass es den Kopf nicht bewegen konnte. Das alles war anstrengend, doch der Junge spürte keinen Schmerz mehr, keine Pein, sondern nur das herrliche Gefühl der Macht, das ihn erfüllte.

      Endlich wusste er, wozu der Gegenstand an dem Schweizer Messer gut war und er bohrte den Korkenzieher geschickt in ein Auge des Tieres. Das kreischte jetzt vor Schmerzen so laut es mit ihrem schwachen Stimmchen konnte und Tobias genoss jeden einzelnen Laut. Vergessen war die kitschige Schultüte, vergessen die dumme Lehrerin und vergessen all die Schmach und Demütigung. Es gab nur das Hier und Jetzt und das herrliche Gefühl, das seinen Körper durchströmte. Als die Bewegungen der Katze erlahmten und Blut über seine linke Hand tropfte, bohrte er den Korkenzieher auch in das andere Auge des Kätzchens. Diesmal drückte und drehte er so lange, bis die spitze Spirale bis zum Anschlag im Kopf des Tieres verschwunden war. Das Kätzchen bewegte sich nicht mehr, sondern lag schlaff in seiner Hand. Tobias wechselte zu der Messerklinge und schnitt den Brustkorb des Tieres auf. Und wirklich: Das Herz, das er erkennen konnte, pulsierte noch schwach und erstarb erst, als er es aus dem kleinen Körper schnitt.

      Tobias fühle sich großartig.

      5. Der Spielplatz

      Tobias Kestel saß an seinem Schreibtisch und sortierte die Bewerbungsunterlagen für die Mietwohnung in Köln Ehrenfeld. Er teilte die Bögen in zwei Stapel. Einmal diejenigen, die für eine Anmietung in Frage kämen und einmal die, die die zweite Wahl darstellten und dann in Frage kämen, wenn niemand anderes mehr Interesse zeigen würde. Einen dritten Stapel gab es nicht, denn wer es auf keinen Fall in die Auswahl schaffte, verschwand direkt im Papierhäcksler. So wie der Bogen, auf dem ein dickes Kreuz hinter dem Namen stand. Ein einzelner junger Mann, mit vielleicht wechselnden Bekanntschaften und entsprechenden Feierbedarf, kam auf keinen Fall in Frage. Mochte er auch noch so viel Geld in einen Umschlag stecken. Auch der Bogen des Mannes, der ihn noch vor dem Haus so angeranzt hatte, verschwand im Schredder.

      Tobias Hand fuhr einmal mehr zur Innentasche seines Jacketts, in der der Bewerbungsbogen der Mutter mit ihrer Tochter Mia steckte. Die Frau war achtundzwanzig Jahre alt, wie er den Eintragungen entnahm und seit einem Vierteljahr geschieden. Ihre Wohnadresse befand sich in einer Hochhaussiedlung in Köln Lindweiler. Tobias sah sich die Gegend im Computer an und entdeckte den kleinen Spielplatz, den Mia erwähnt hatte, ebenfalls. Wenn die Frau dort wirklich mit ihrem Vater, also Mias Opa, zusammenlebte, so bestimmt unter äußerst beengten Bedingungen. Tobias fand auch heraus, dass die Mutter wohl ihren Mädchennamen wieder angenommen haben musste, da ihr Vater ebenfalls Hensenbrugger hieß. Doch ehrlich gesagt interessierte ihn das herzlich wenig.

      Tobias Kestel warf einen Blick auf seine Lacroix Armbanduhr und spürte einen gewissen Stolz, dass er sich dieses gute Stück geleistet hatte. In Gedanken ging er die volle Bezeichnung der Uhr durch und sprach sie schließlich leise vor sich hin: „Maurice Lacroix Masterpiece Squelette.“ Er ließ das letzte Wort noch ein wenig nachschwingen, als sein Kollege Walther Warsers seine Gedanken unterbrach: „Betest du, Tobbi?“ Er lachte leise. „Brauchst du aber nicht, die Wohnungen vermieten sich quasi von alleine. Wie ich sehe, hast du ja auch schon eine ganz ansehnliche Sammlung von Interessenten. So einfach möchte ich es auch einmal haben ...“

      „Walther, was willst du? Ich habe zu arbeiten, du störst.“

      „Oh, Tobbi, warum so schlechte Laune? Der Regen hat doch aufgehört und mit ein wenig Glück bricht irgendwann auch die Sonne durch die Wolken.“

      „Was willst du? Mir vom Wetter erzählen? Ich sehe selbst, dass es nicht mehr regnet. Also schleich dich.“

      „Kannst du mir einen Tipp geben? Es geht um eine Wohnung in der Innenstadt.“

      Tobias seufzte. Handelte es sich um die Wohnung, für die er seit gut einem halben Jahr versuchte, die Vermittlung zu übernehmen? Der Besitzer konnte sich einfach nicht für einen Makler entscheiden, aber die Chancen standen gut, dass sie den Zuschlag bekommen würden. Die Wohnung ließ sich seiner Meinung nach gut verkaufen und eine hohe Provision war ihrer Firma gewiss. Und damit auch die Anerkennung des Chefs für den ausführenden Makler. „Geht es um die Eigentumswohnung Hohe Straße?“

      Warsers nickte heftig: „Der Verkäufer hat sich endlich für einen Makler entschieden. Zum Glück für uns.“

      „Ja, zum Glück.“ Tobias versuchte sich seine Resignation nicht anmerken zu lassen. „Und was wolltest du mich jetzt fragen?“

      „Glaubst du, dass ich den Chef um eine Gehaltserhöhung bitten kann, wenn ich die Wohnung verkaufe? Die Provision wird der Firma einen Batzen Geld einbringen und be...“

      „Ja, mach das Walther“, unterbrach ihn Tobias, der sich plötzlich nach einer seiner kleinen weißen Pillen sehnte. „Nach dem Verkauf der Wohnung wird er wohl kaum ‚nein‘ sagen.“ Eigentlich sollte dies seine Chance sein. Und das nach all der Vorarbeit, die er geleistet hatte! Er machte die Drecksarbeit und dieser Idiot Warsers erntete die Lorbeeren.

      Kaum, dass sein Kollege wieder fort war, schluckte Tobias zwei der Pillen. Sehnsüchtig wartete er auf die Wirkung.

      Entgegen der euphorischen Vorhersage seines Kollegen fing es im Laufe des Nachmittags doch wieder an zu regnen. Nicht mehr so stark wie gestern, aber genug, um Tobias die Laune endgültig zu vermiesen. Sein Chef hatte ihm für die Formulare nur mit einem Kopfnicken gedankt und mit dem Finger auf den freien Platz gewiesen, wo er sie hinlegen sollte.

      Jetzt quälte Tobias Kestel sich durch den Feierabendverkehr. Aber noch befand er sich nicht auf dem Weg nach Hause. Zunächst plante er einen Abstecher nach Köln Lindweiler zu machen und sich die Wohnsituation von Mutter und Tochter Hensenbrugger anzusehen. Zumindest von außen. Er hatte die Fahrstrecke im Kopf und fand die Adresse auf Anhieb. Triste Hochhäuser reihten sich aneinander und Kestel fuhr ohne anzuhalten durch die Straßen. Er hielt sich strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, da er auf keinen Fall auffallen wollte. Den Spielplatz erkannte er schon aus einiger Entfernung. Alte, teilweise verrostete Spielgeräte zeugten von besseren Zeiten und luden nicht unbedingt zum Spielen ein. In einer Ecke entdeckte er einige Jugendliche, die sich trotz des Nieselregens um eine Sitzbank gruppierten. Alle trugen Kapuzen auf dem Kopf und Tobias entdeckte einige Flaschen Bier und sogar eine halbleere Flasche Wodka. ‚Die Zukunft unseres Landes‘, dachte er und fuhr zügig weiter. Niemand beachtete ihn. Um nicht doch noch aufzufallen, verzichtete er auf eine zweite Runde um die Wohnblöcke herum und fuhr schließlich nach Hause.

      „Du bist spät dran“, empfing ihn seine Frau Angelika mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du weißt doch, dass ich mit den Mädels zum Shoppen will. Heute ist mein Tag!“

      Tobias nickte automatisch. Natürlich hatte er vergessen, dass heute ‚ihr Tag‘ war. Dafür fiel ihm der Geruch nach Rotwein an ihr auf. „Hast du getrunken?“

      „Nur ein Gläschen zum Vorglühen“, lächelte sie. „Du hast mich ja zu lange warten lassen. Das Essen ist übrigens in der Mikrowelle und die Kinder sind auf ihren Zimmern. Nur falls dich das überhaupt interessiert.“

      Tobias war froh, dass seiner Frau jetzt keine Zeit blieb, mit ihm Streit anzufangen. Vor der Tür hupte das Taxi, während im Hintergrund ein Feuerwehrwagen mit ohrenbetäubender Sirene aus der Halle schoss. Angelika hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu und rannte ohne ein weiteres Wort aus dem Haus. Sie würde erst spät in der Nacht ziemlich betrunken nach