Das Kestel Psychogramm. Jürgen Ruhr

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Название Das Kestel Psychogramm
Автор произведения Jürgen Ruhr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708618



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sich den Namen der ‚Dame‘. Die Unterlagen würden als erste im Schredder verschwinden.

      Ohne wirklich darauf geachtet zu haben, schlug er die Strecke zu dem Stadtteil ein, in dem Mia mit ihrer Mutter wohnte. Es war ein ziemlicher Umweg, aber Tobias dachte einfach nicht darüber nach. Langsam fuhr er wieder die Straße am Spielplatz entlang. Um diese Zeit befanden sich nicht viele Menschen auf den Straßen. Wer hier überhaupt einer Arbeit nachging, der würde erst in gut einer Stunde nach Hause kommen.

      Und dann sah er sie!

      Die blonden Locken fielen ihm sofort auf. Mia trug eine rostrote Jacke und saß auf der Schaukel. Träge schwang sie hin und her. Tobias Herz begann zu klopfen und eine gewisse Unruhe bemächtigte sich seiner. Er dachte an die blauen Augen, die ihn in der Wohnung so unschuldig angesehen hatten. Die Zunge, blau gefärbt vom Dauerlutscher, die sie ihrer Mutter verschmitzt herausgestreckt hatte. Er sah sich um. Auf dem Spielplatz befanden sich momentan keine anderen Kinder, die Kleine war ganz alleine. Und sie schien sich zu langweilen.

      „Bald wird es dir bessergehen“, flüsterte er heiser und sein Mund wurde ganz trocken. „Dann hat das Elend hier ein Ende.“ Er ließ den Wagen noch ein Stück weiter rollen und parkte ihn dann am Straßenrand. Tobias Kestel holte tief Luft. Er war nicht vorbereitet, hatte nicht damit gerechnet, das Mädchen jetzt hier zu finden. Und dann auch noch alleine. Mit fahrigen Händen suchte er in seinen Taschen nach der Dose mit den Pillen. Aber er fand sie nicht auf Anhieb und stieg stattdessen aus dem Wagen. Vielleicht war das ja auch ein Zeichen, hatte etwas zu bedeuten, dass er die Pillen nicht fand.

      Tobias verschloss den Wagen sorgfältig. Er hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie er vorgehen würde, alles fand so spontan statt ... ‚Du sagst ihr, dass du eine Wohnung für die Beiden hast und ihre Mutter dort auf sie wartet‘, reifte ein Plan in seinen Gedanken. Sein Herz schlug immer noch wild und ein bisher in seiner Intensität unbekanntes Gefühl der Vorfreude bemächtigte sich seiner. Es konnte nichts schiefgehen, er war der Wohnungsmakler, die Kleine kannte ihn! Auf dem Weg zum Spielplatz beschleunigte er seine Schritte.

      Hinter einem niedrigen Busch, in sicherer Entfernung zum Spielplatz, beobachtete er das Mädchen. Mia war immer noch alleine und schaukelte hin und her. Sie trug zu der roten Jacke eine abgewetzte blaue Jeans, die deutliche Spuren ihres Spielens trug. Die Füßchen steckten in alten Turnschuhen. Tobias malte sich aus, wie die Kleine in einem weißen Kleid aussehen würde und nahm sich vor, so etwas in irgendeinem Gebrauchtwarenladen zu kaufen. Bestimmt gab es so etwas. Ein Kommunionskleid vielleicht. So eines, wie es seine Schwester einst getragen hatte.

      Er ließ seinen Blick noch einmal kreisen. Niemand befand sich in der Nähe, niemand würde ihn beobachten, wie er mit Mia sprach. Der Augenblick war perfekt! Es musste jetzt einfach sein, Vorbereitung hin oder her!

      Tobias Kestel trat hinter dem Busch hervor.

      In diesem Moment kam ein alter Mann zwischen mehreren Büschen auf einem kleinen Weg von der anderen Seite auf den Spielplatz. Er bewegte sich zielstrebig auf die blonde Mia zu, sagte etwas und beide lachten. Es musste sich um den Opa handeln, die Kleine war direkt ganz vertraut mit dem Mann. Tobias verschwand leise fluchend wieder hinter seinem Busch und beobachtet, wie Opa und Enkelin Hand in Hand verschwanden.

      Auf dem Weg zum Büro schalt sich Tobias für seine Unvorsichtigkeit. Er hatte, noch während er zum Wagen ging, drei seiner kleinen Tabletten geschluckt und allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Wie dumm er doch war! So etwas durfte ihm nicht wieder passieren. Völlig unvorbereitet! Und heute war erst Mittwoch. Bensmann hätte ihm nie und nimmer den morgigen Tag und Freitag frei gegeben. Doch die Gelegenheit war günstig gewesen und irgendwie hätte alles funktioniert. Irgendwie. Wäre nur dieser dämliche Opa nicht dazwischengekommen! Tobias nahm sich vor, seinen Chef zu bitten, ihm Freitag frei zu geben. An dem Tag hatte er sowieso keine Termine.

      6. Vor 28 Jahren

      Tobias Kestel lag im Bett und hielt die Augen fest geschlossen. Aufgeregtes Stimmengewirr drang aus den unteren Räumen zu ihm hoch. Er hasste diesen Tag, bevor der überhaupt begonnen hatte.

      Heute ging seine Schwester zur Erstkommunion. Ein Fest, auf das die gesamte Familie nun schon seit Monaten gespannt wartete. Na ja, fast die gesamte Familie. Denn er, Tobias, wartete keineswegs auf diesen Tag. Und er freute sich auch nicht.

      Der ganze Monat April war regnerisch und kalt gewesen. Nur ausgerechnet heute drangen die ersten Strahlen einer frühen Sonne durch sein Fenster und kitzelten ihn an der Nase. Tobias zog sich die Bettdecke über das Gesicht. Vielleicht könnte er einfach so liegenbleiben, sich nicht rühren und vom Rest der Familie vergessen werden.

      Im März war er zehn Jahre alt geworden und niemand nahm wirklich Notiz davon. Seine Mutter gratulierte ihm an dem Tag, es war ein Donnerstag und somit ein ganz gewöhnlicher Schultag gewesen, beim Frühstück kurz und überreichte ihm dann recht lieblos sein Geschenk. Seine Schwester erinnerte sich erst daran, ihm zu gratulieren, als sie das Geschenk sah. Als Tobias mittags aus der Schule kam, war von seinem Geburtstag keine Rede mehr und es wurde ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Ohne Kuchen, ohne Feier und ohne Gäste. Nachdem er seine Schulaufgaben gemacht hatte, nahm sich Tobias seinen Fußball und ging auf einen nahegelegenen Bolzplatz, um mit einigen Mitschülern zu kicken. Aber er wurde in keine Mannschaft gewählt und schließlich spielte er am Rand des Platzes alleine vor sich hin. Erst als er den kleinen Vogel entdeckte, der nicht mehr so recht fliegen konnte, wurde es doch noch ein entspannter und schöner Nachmittag. Er hatte zuvor noch nie einem lebenden Vogel die Federn ausgerissen ...

      Heute aber fand der große Tag seiner Schwester statt, der auch gebührend gefeiert werden sollte. Vor zwei Jahren ging Tobias zu seiner ersten Heiligen Kommunion und es war ein mäßig schöner Tag mit vielen Verwandten gewesen. Doch so einen Aufwand, wie bei seiner Schwester heute, hatten die Eltern nicht betrieben. Das Mittagessen gab es damals zu Hause und die Verwandten erschienen lediglich zum Kaffeetrinken und Kuchenessen. Und um ihn, Tobias, kümmerte sich ja dann auch niemand mehr ...

      Heute aber würden sie nach der Kirche alle zusammen in ein piekfeines Restaurant gehen und anschließend mit all den Gästen daheim noch bei Kaffee und Kuchen weiterfeiern. Seine Eltern scheuten keine Kosten und Mühen.

      Tobias drehte sich auf den Bauch und zog die Decke noch ein wenig weiter über seinen Kopf, als er seinen Namen hörte. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe?

      Die Bettdecke wurde fortgerissen und eine Hand klatschte auf seinen Po. „Verdammt, wirst du endlich aufstehen?“, hörte er seine Mutter brüllen. „Deinetwegen werden wir auf keinen Fall zu spät kommen. Du ziehst dich jetzt sofort an, sonst schicke ich dir den Papa!“

      Darauf wollte der Junge es auf keinen Fall ankommen lassen, denn das bedeutete wieder Schläge mit dem Lederriemen. Und dann könnte er den ganzen Tag nicht sitzen vor Schmerzen. Missmutig kletterte er aus dem Bett. An diesem Tag sollte er seinen Anzug anziehen, den einzigen, den er besaß, und er hasste ihn wie die Pest. Mutter hatte den Anzug aus Cord im Spätsommer vergangenen Jahres günstig in einem Second-Hand Laden erstanden. Tobias sollte ihn damals zu der Beerdigung seiner Großmutter tragen. Leider bekamen sie keinen Anzug in blau, sondern lediglich in grün, doch seine Mutter nickte zufrieden, als die Größe stimmte. Inzwischen war Tobias wieder etwas gewachsen und die Hosenbeine, sowie die Ärmel waren zu kurz. Und zuknöpfen ließ sich die Jacke auch nicht mehr. Tobias kam sich in der Kleidung lächerlich und dumm vor.

      Er betrat die Küche, als seine Mutter gerade sein Frühstück forträumte. „Tobias, Tobias“, tadelte sie, „jetzt ist es zu spät, noch etwas zu essen. Du musst einfach aufhören so zu trödeln. Vater holt schon den Wagen, er wird in wenigen Minuten hier sein.“

      „Wo sind denn alle?“, fragte Tobias und schaute, ob nicht wenigsten noch etwas Obst in der Schale lag. Doch da war nichts mehr. Ob er ein Stück Brot haben könnte?

      „Wer alle?“

      „Na, Papa und Mia. Und die Gäste.“

      Seine Mutter haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Hörst du eigentlich