Haustiere. Claudia Gürtler

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Название Haustiere
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782144



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staunte. Was war dieses Mädchen doch hässlich! Es schielte, und seine Nase lief. Es ging ein bisschen schief, seine Kleider waren geflickt, und es roch nach Armut und Kohlsuppe.

      Der Hund dachte an seinen Armenier und das kalte und hungrige Jahr ohne ihn. Man soll Liebe nicht wegwerfen; hatte er das damals nicht gelernt?

      Der Hund zögerte kurz und verschmähte dann trotz der streichelnden Hände die Liebe dieses Kindes, das ihn lockte und rief. «Andy», rief es, «komm zu mir, Andy!» Der magere Hund schüttelte sich und trottete davon. Er konnte nicht anders. Er war sich zu gut, um ein Armeleutehund zu werden. Er hatte etwas Besseres verdient. Er konnte sich doch nicht einfach so wegwerfen.

      Wenn es etwas gibt, was am Stolz nagt, so ist es der Hunger. Der Hunger frisst alles, vor allem die Prinzipien im Leben. Zu allem Überfluss schneite und fror es nun wie schon lange nicht mehr. Der Kalender zeigte den 29. Dezember; Advents- und Weihnachtsstimmung waren verflogen, das Mitleid für fast ein Jahr auf Eis gelegt. Der magere Hund bezog Prügel von einem Restaurantbesitzer, den er zu bestehlen versuchte. Er suchte den ganzen Tag nach dem Armenier, den man ihm an einem 29. Dezember genommen hatte. Er würde ihn nicht finden, das wusste er, aber vielleicht war die Magie des Datums bereit, etwas für ihn zu tun. Er traf frühere Freunde des Armeniers, die vorgaben, ihn nicht zu kennen. Einer warf eine leere Bierflasche nach ihm.

      Der namenlose, magere Hund zog den Schwanz ein und machte, dass er wegkam. Wie hatte er nur so dumm sein können, nicht Andy werden zu wollen.

      Und dann sah er ihn, Andy. Er trug ein abgeschabtes rotes Lederhalsband, das bessere Zeiten gesehen hatte und eine aus lauter kleinen, gestrickten Vierecken zusammengenähte Decke. Der Hund, der nicht mehr Püppi war und keinen Armenier mehr zum Freund hatte, hätte viel darum gegeben, so eine Decke zu tragen. Aber es war Andy, der sie trug, Andy, der stolz neben seiner kleinen Besitzerin her trabte, die schrecklich schielte und so hässlich war, dass sie auf dem Pausenhof verprügelt und ausgelacht worden wäre, wenn sie nicht Andy gehabt hätte, der sie beschützte. Ja, da war sich der magere Hund ganz sicher!

      „Viel Glück, Andy“, rief der frierende Hund, der weder Püppi noch Andy war, hinter dem Kleinen her, und der Kleine wandte sich ganz kurz um, so als wüsste er nicht, ob er ein gutes Wort für den Mageren einlegen oder so tun sollte, als hätte er ihn nie gesehen.

      Der Magere trabte aus der Stadt hinaus. Die Tage am Jahresende sind nicht gut für magere Hunde. Aber vielleicht konnte jemand einen Hofhund gebrauchen. Der Hund war zwar mager und schon älter, aber er war klug und erfahren und hart im Nehmen, und auf dem Land liessen Familien ihre Christbäume bis zum Dreikönigstag in den Stuben stehen. Vielleicht war das ja ein Zeichen, ein gutes.

      Brunst

      Géraldine kam an diesem frühlingshaften Freitag später nach Hause. Ausnahmsweise. Sie war eine geborene Lerche, die mühelos früh in den Tag fand, manchmal schon um fünf, dafür aber auch früh schlafen ging, aber es war die allerletzte Vorstellung des Films mit Sylvester Stallone gewesen – und da lohnte es schon, zwei Stunden später als üblich zu Bett zu gehen, verkatert zu erwachen und einen nutzlosen Tag hinter sich zu bringen.

      Sie dachte sehnsuchtsvoll an ihr Bett, während sie die Treppe zu ihrem Haus hinunterstolperte, dachte an die anschmiegsame Bettdecke, das weiche Kissen, das den schweren Kopf aufnehmen würde. Sie würde augenblicklich einschlafen, nach einem letzten Gedanken an Sylvester. Es gab in ihrem Leben zurzeit keine andere starke Schulter, kein anderes markantes, verlässliches Gesicht ausser demjenigen von Sylvester.

      Abrupt blieb Géraldine stehen. Das Dunkel in der Mitte der langen Treppe hüllte sie ein. Es war halb zwölf und im oberen Haus lief der Fernseher – Irgendein Naturfilm. Sie hörte deutlich das Röhren von Hirschen, und sie sah sie ebenso deutlich vor sich: Im Dämmerdunkel einer einsamen Waldlichtung bedrohten sich zwei Bullen, während das einzige Weibchen geduldig wartend im Unterholz stand, um dem Sieger, sobald er feststand, ihre Gunst zu schenken.

      Géraldine schnaufte empört, denn nun war sie wieder ein ganzes Stück wacher. So leicht, wie sie gehofft hatte, würde das Einschlafen nicht werden, auch mit dem Gedanken an Sylvester Stallone, seine beeindruckenden Muskeln und seine starke Schulter nicht.

      Und sie sollte recht behalten. Obwohl ihr Schlafzimmer auf der ruhigen, dem Nachbarhaus abgewandten Seite lag, konnte sie es noch immer hören, das Röhren von Hirschen, sehnsüchtig und fremd, werbend und gewalttätig. Sie versuchte, den mittlerweile schmerzenden Kopf bequem hinzulegen und das Bild der Waldlichtung in den Hintergrund und Sylvesters markant männliches Gesicht in den Vordergrund zu schieben, aber da Sylvester, im Gegensatz zu den Hirschen, im Augenblick stumm war, gelang es ihr nicht. Das Röhren steigerte sich einem furchterregenden Höhepunkt entgegen und brach unvermittelt ab. Die Stille kam zu plötzlich, als dass sie eine Erlösung gewesen wäre. Géraldine stand auf, um Milch warm zu machen und mit Honig zu süssen – Grossmutters Rezept gegen Schlaflosigkeit. Es zeigte erst zwei Stunden später Wirkung, sodass sie am Samstagmorgen mit einem noch grösseren Kater als erwartet und befürchtet erwachte. Sie brachte missmutig einen vollkommen nutzlosen Tag herum und konnte sich nicht entscheiden, ob sie auf sich selbst, auf Sylvester, die Nachbarn oder die brünstigen Hirsche böse sein sollte.

      Sehr unzufrieden mit sich und dem Tag wärmte Géraldine eine Tasse Milch, fügte das Doppelte der üblichen Portion Honig hinzu und setzte sich vor den Fernseher, um pflichtbewusst die Nachrichten zu sehen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, und sie fragte sich, während sie beim abschliessenden Wetterbericht den letzten Schluck Milch trank, ob die Sendung irgendwelche wichtigen Mitteilungen enthalten hatte. Immerhin hatten sie das reglose Sitzen und das passive Konsumieren müde gemacht, auch wenn es nicht die angenehme Müdigkeit nach einem ausgefüllten Arbeitstag war. Es war zwanzig nach acht, als sie unter die Decke kroch, und sie schlief, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte.

      Mitten in der Nacht erwachte sie aus einem überraschend sinnlichen Traum, der von Sylvester handelte, von einem kühlen, dunkeln Wald und den schwer zu deutenden Geräuschen, die er aussandte. Die Zeichen, die der auf Knopfdruck erleuchtete Wecker ihr sandte, waren ihr in ihrem Dämmerzustand unverständlich. Sie drehte sich auf die andere Seite und schlief tief und traumlos bis zum frühen Morgen. Sie erwachte mit der vagen Erinnerung an aussergewöhnliche Träume und fühlte sich ausgeruht und voller Tatendrang.

      Die Arbeit, die sie verpasst zu haben glaubte, holte sie an diesem Sonntag schwungvoll nach, und als eine Woche später im oberen Haus dieselbe Natursendung am Fernseher lief, wurde ihr bewusst, dass sie das frühere Erlebnis verdrängt oder ganz einfach gründlich vergessen hatte. Die Nachbarin, die das obere Haus bewohnte, hatte sie von allem Anfang an nicht ausstehen können. Sie war ein ganzes Stück älter als Géraldine, und sie mochte alles, was Géraldine nicht mochte – Markenparfums, die in Überdosis wie Narkosemittel wirkten, geblümte Kleider, die für ihre Grösse zwei Nummern zu klein waren, auffälligen Goldschmuck und Kreuzfahrten in Begleitung wesentlich jüngerer Herren.

      Dass sie sich dieselbe Dokumentation zum Paarungsverhalten von Hirschen zehn Mal ansah, passte zu ihr, fand Géraldine. Abend für Abend tönten, sobald die Dämmerung sich über die Stadtrandstille stülpte, dieselben Geräusche herüber. Géraldine versuchte die Geräusche auszublenden, was ihr ansatzweise gelang, wenn sie die Zeitung oder ein Buch las. Mit der frischen Nachtluft drangen nach neun aber auch die Brunstgeräusche überdeutlich ins Zimmer, und an Schlaf war nicht zu denken. Géraldine dachte sich bitterböse, verletzende Kommentare aus, die sie nicht erleichterten, wusste sie doch, dass sie sich scheu wegducken würde, sollte es zu einer direkten Begegnung mit der Nachbarin kommen.

      Es war ein Sonntag, der dritte schlaflose Sonntag in Folge. Géraldine lehnte müde im Fensterrahmen, starrte hinaus auf die Wiese. Und dann sah sie sie. Zwei Hirsche, Hirsch und Hirschkuh, spielten im spärlichen Licht der Mondsichel ein uraltes Spiel; er umwarb sie und sie zierte sich, um sich am Ende seinen Wünschen zu fügen.

      Besänftigt, wenn auch ohne Ruhe, verzichtete Géraldine am Montagabend darauf, das Licht anzuzünden. Sie öffnete stattdessen das Fenster, genoss die Kühle des hereinbrechenden Abends und wartete.

      Leise wurde im oberen Haus die Tür ins Schloss gedrückt, Hand in