Haustiere. Claudia Gürtler

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Название Haustiere
Автор произведения Claudia Gürtler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742782144



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streichen müssen – weil Lis ihn nicht mitgenommen hatte, war Teds Tod eine Überraschung. Er nahm die bedeutungsvolle Stille erst wahr, als Lis mit den vollen Einkaufstaschen zurückkehrte und vergebens nach Ted rief.

      Lis und Trampel trauerten jeder für sich und jeder auf seine Art. Trampel tappte während der Tage und Nächte, in denen Ted im Hause aufgebahrt lag, in gleichmässiger Rastlosigkeit durchs Haus. Lis hingegen sass frierend und mit angezogenen Knien auf einem schäbigen Sessel in Teds Werkstatt, umgeben von Leim- und Farbtöpfen, Bohrern, Schrauben und Sägen und dem penetranten Geruch von frisch bearbeitetem Holz. Ihre Tränen flossen lautlos und sickerten in ihren dicken, grauen Pullover, ohne Spuren zu hinterlassen.

      Am heftigsten aber trauerte das Haus. Dachbalken ächzten, Türscharniere knirschten, Heizungsrohre gurgelten und unerklärliche Spannungen entluden sich hinter Mauern in knallenden Geräuschen.

      Lis’ Furcht und ihre Hilflosigkeit dem Haus gegenüber steigerten sich rasch in abgrundtiefes Grauen. Das Haus, um dessen Bedürfnisse sie sich nie ernsthaft gekümmert hatte – warum auch, Ted war ja da – würde ihr über den Kopf wachsen. Es würde endlos fordern und ihr Leben bestimmen, so wie es Forderungen an Ted gestellt und sein Leben bestimmt hatte.

      „Ich könnte gehen!“, sagte Lis mit dünner Stimme in das Dämmerdunkel der Werkstatt hinaus. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie nicht sagte: „Jetzt kann ich gehen. Ich kann es verlassen, dieses Haus, das nie meines war.“

      Nach Teds Beerdigung im einige Kilometer entfernten Dorf schlief Lis zum ersten Mal wieder tief und fest. Trotz ihrer Furcht vor dem Haus versank sie für ein paar Stunden im traumlosen Dunkel tiefster Erschöpfung. Sie erwachte erst nach neun, und sie fühlte sich ausgeruht und grundlos zuversichtlich. Sie fütterte Trampel, holte Heu für Max und Moritz und schnitt Brot für die Enten klein. Trampel war ausser sich vor Freude, dass seine geliebte Lis wieder auf den Beinen war. Mit begeistertem Hecheln folgte er ihr auf Schritt und Tritt.

      Gegen Mittag erwachte auch das Haus. Es klang, als gähne es und recke und strecke sich nach einem langen Schlaf. Putz bröckelte von den Wänden, ein Stück Täfer löste sich von der Esszimmerdecke und fiel krachend zu Boden, im Keller platzte der Waschmaschinenschlauch und ergoss seinen Inhalt gurgelnd in eine verstopfte Dohle, die sich mit heftigen Eruptionen wehrte.

      Lis strich Trampel über den zottigen Kopf und lächelte. Ted war immer pünktlich gewesen. Tag für Tag hatte er das Labor zur selben Zeit verlassen, war zur selben Zeit zu Hause eingetroffen und hatte seine Arbeit am Haus aufgenommen, nur unterbrochen von einem hastig verschlungenen Nachtessen.

      Ein Luftzug fuhr durch die Zimmer, als die Tür geöffnet wurde, um gleich darauf sorgfältig ins Schloss gedrückt zu werden. Lis warf einen Blick auf die Uhr. Sie horchte auf die gewohnten Geräusche und nickte.

      Ted würde sich um alles kümmern, wie immer. Er war da. Sein Haus brauchte ihn.

      Vom Hund, der sich nicht verschenken wollte

      Wer so struppig und mager war wie der Hund, der durch den Stadtpark trabte, hatte es schwer im Leben. Es ist entschieden ein Vorteil, wenn man niedlich ist oder wenigstens hübsch, aber davon konnte bei ihm nicht die Rede sein.

      In den warmen und trockenen Monaten des Jahres schlug sich ein kluger und erfahrener Hund wie er gut durch. Die Nächte unter Büschen, in Hauseingängen oder auf den noch warmen Kieseln am Fluss waren angenehm, und zu Fressen gab es genug. Menschen vergassen angebissene Schinkenbrote auf Parkbänken und warfen Apfelbutzen mit noch ordentlich Apfel dran und Tüten mit den letzten Pommes mit Ketchup in Papierkörbe. Kinder bröselten mit Keksen oder liessen ihr Eis fallen. Der magere Hund hielt den Park sauber. Nur an Regentagen dachte er ans Ende des Sommers.

      Im Oktober riefen die ersten richtig kalten Nächte den Ernst des Lebens in Erinnerung, der in Kürze anbrechen würde, aber noch war kein Feuer im Dach. Eine Gnadenfrist von rund drei Monaten war mageren Hunden noch vergönnt, denn nichts mögen Menschen lieber, als wenn man sich an nebelgrauen, traurigen Novemberabenden auf ihre Füsse legt. Nur kurz halten sie auf Parkbänken inne, denken nach und seufzen ein bisschen. Der magere Hund zögert nicht. Er setzt sich zu ihnen. Tröstliche Wärme kriecht die Schienbeine hinauf bis ins Herz, und der Mensch lässt sich erweichen, den armen Hund mitzunehmen nach Hause, für eine Nacht oder auch für zwei. Man füttert den mageren Hund, wundert und freut sich über seine Gier beim Fressen. Dann lässt man ihn im Flur auf einem alten Pullover schlafen. Auch der Dezember hat etwas Weiches. Es schneit in grossen Flocken aus dem schwarzen Himmel. Erwartung liegt in der Luft. Und plötzlich sind die Menschen selber weich wie Lebkuchen und in einer seltsamen Willenlosigkeit leicht zu beeinflussen. Der Urhundeblick, traurig hängende Ohren, eine anmutig und bittend erhobene Pfote und ein kurzes gepeinigtes, aber keinesfalls nervendes Winseln genügen, um dem Hund ein Heim auf Zeit zu verschaffen.

      Zumindest bis Weihnachten war ausgesorgt, denn ob man nun an das Kind in der Krippe glaubte oder nicht, es rief zu Mitmenschlichkeit und Mittierigkeit auf und übernahm für vier- oder fünfundzwanzig Tage die Rolle eines Anwalts für die Schwächsten und die Ewighungrigen. Der magere Hund fuhr mit der Zunge über die feuchte Schnauze. An den vollen Futternäpfen und den warmen Schlafplätzen änderten die Beweggründe, die solche Almosen Wirklichkeit werden liessen, nichts.

      Kurz vor Weihnachten jagte niemand einen Hund vor die Tür. An die Tage nach Weihnachten wollte der Hund vorläufig nicht denken, denn da werden ganz andere Kapitel im einen oder anderen Hundeleben geschrieben.

      Ältere Damen passten eigentlich nicht zu einem stolzen Hund wie ihm, aber wer eiskalte Pfoten und einen leeren Magen hat, ist nicht wählerisch. Er erinnerte sich genau an den Nikolaustag vor einem Jahr, als aus einem stolzen Streuner wie ihm Püppi geworden war. Er nannte plötzlich eine Sofahälfte sein eigen, und sein Napf war immer gut gefüllt. Er wurde gestreichelt und hörte ihn tausend Mal jeden Tag, den Namen «Püppi». Er trug in diesem Winter ein rotes Halsband mit goldenen Knöpfen. Seine wunden Pfoten heilten und er wurde seine Flöhe los. Im Frühling riss er die alte Dame um, als sie ihn an der Leine spazieren führte, ohne Mitleid und ohne Dankbarkeit. Die Steine am Fluss waren warm. Er konnte wieder für sich selber sorgen.

      Es wurde ein guter Sommer voller Überfluss. Anfang November war der Hund, der einmal Püppi gewesen war, noch immer gut genährt und kerngesund. Unten am Fluss traf er einen Obdachlosen, der ihn an sein Feuer einlud und sein Mahl mit ihm teilte. Er hatte nur ein Bein und eine oft geflickte Krücke, und er sprach eine Sprache, die der Hund noch nie gehört hatte. Albanisch? – oder vielleicht armenisch? Der einbeinige Armenier mochte den Hund auf Anhieb. Er war gut zu Hunden, aber er war diesem Hund zu wenig. Nein danke, schien der Hund zu sagen, mit einem wie dir will ich nicht, da bleibe ich lieber allein.

      Und er blieb allein, ein ganzes Jahr lang. Er fror und er hatte Hunger. Bald hatte er die Kälte und den Hunger satt, so satt, und als er den einbeinigen Armenier wieder traf, legte er sich auf seine Füsse. Er schloss die Augen und hoffte, dass der Armenier gutmütig und nicht nachtragend war, und das war er.

      Der Hund hatte es gut, so gut wie noch nie, denn sie passten zusammen, der Hund und der Einbeinige. Es wurde Frühling, Sommer und wieder Winter, und beide wurden älter, der Hund und der Mann, und dann starb der Armenier. Als der Hund von einem Streifzug durch den Stadtpark zurückkehrte, lag sein Freund tot auf den kalten Kieseln. Was für ein Treuebruch.

      Der Hund, der inzwischen ein magerer alter Hund war, war verzweifelt. Er trabte durch die Strassen der Stadt. Ihm wurde warm, aber die Pfoten blieben kalt, und Weihnachten war gerade vorbei. Einem kleineren Hund, der sich zu ihm unter einen Busch gesetzt und ihn gewärmt hatte, nahm er am nächsten Morgen den Knochen weg. Gesetz der Strasse.

      Der Hund, der einmal Püppi gewesen war und danach die beste Zeit seines Lebens mit einem einbeinigen Armenier verbrachte hatte, der Hund, der sich im Namenniemandsland befand und kein Feuer hatte, an dem er schlafen konnte, kehrte um, um den Knochen zurück zu geben.

      Das Hündchen fand er nicht mehr. Dafür aber begegnet ihm ein Kind, das ihn Andy nannte. Es war klein, aber es hatte keine Angst vor grossen, mageren, struppigen Hunden. Ganz kurz dachte der Magere an die wenigen Zärtlichkeiten in seinem