Lost in Privilege. Markus Gammersbach

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Название Lost in Privilege
Автор произведения Markus Gammersbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754132159



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nahm wieder aktiv am Leben teil.

      Das Bachelorstudium

      Wahrscheinlich geprägt durch die zahlreichen Urlaube auf Bornholm hatten mich Transportmittel und insbesondere Schiffe schon immer begeistert. Auch mangels sinnvoller Alternativen folgte ich nach dem Abitur erneut meinem Bruder und begann ein duales Studium mit Schwerpunkt Logistikmanagement in meiner Heimatstadt. Für die dreimonatigen Praxisphasen pendelte ich entweder zu meiner Arbeit in der Nähe von Düsseldorf oder zog dort in eine möblierte Wohnung. Da ich meinen Lebensmittelpunkt nicht von zuhause entfernen wollte, verbrachte ich jedes Wochenende bei meinen Eltern.

      Der Schritt ins Arbeitsleben traf mich Ende 2013 mit voller Wucht und ich hatte große Probleme mit dem neuen Alltag. Der Tagesablauf, die Verantwortung eines Jobs und die deutlich verringerte Freizeit machten mir schwer zu schaffen. Es dauerte mehrere Monate, bis ich mich an dieses neue Leben gewöhnt hatte. Dann allerdings konnte ich mich voll und ganz auf meine Ausbildung konzentrieren und erste Erfolge im Job verzeichnen. Die interessanteren Geschichten wurden aber verständlicherweise in den Theoriephasen an der Fachhochschule geschrieben. Auch wenn ein duales Studium kein klassisches Studentenleben bietet, holte ich in diesen drei Jahren einiges nach, was ich unter anderem in meiner Jugendzeit versäumt hatte. Speziell in den Sommersemestern gab es Phasen, in denen ich mit meinem Kurs mehrmals die Woche in Köln feiern war und in denen ich merkte, dass ein Singleleben ohne Verpflichtungen und Termine auch Vorteile mit sich bringen kann.

      Gleichzeitig merkte ich, wie gut es tat, mein Sozialleben wieder in Gang zu bringen, neue Leute kennenzulernen und enge Freundschaften aufzubauen. Mit der Zeit wurde ich selbstbewusster und taute zunehmend auf. Ein Kommilitone sagte mir am Ende des zweiten Studienjahres, dass ich deutlich aktiver in der Gruppe geworden sei. Zwar agiere ich bis heute in ungewohntem Umfeld zunächst unauffällig, doch war diese Bemerkung für mich ein Zeichen dafür, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand.

      Später war ich so aufgetaut, dass ich für das obligatorische Auslandssemester von meiner ursprünglichen Idee, an eine renommierte Uni in Schweden zu gehen, absah und stattdessen mit drei Kommilitonen im Frühjahr 2016 nach Riverside in Kalifornien reiste. Ich könnte jetzt berichten, wie faszinierend es war, eine amerikanische Universität zu besuchen und wie sehr ich mich fachlich weiterbilden konnte. Doch ehrlich gesagt standen die dreieinhalb Monate eher im Zeichen persönlicher Entwicklung und einmaliger Erfahrungen. Die Vorlesungen begannen erst vier Wochen nach unserer Ankunft und fanden hauptsächlich abends statt. Zudem hatten wir uns am sogenannten Extension Center eingeschrieben, bei dem die Kurse an maximal drei Tagen in der Woche angeboten wurden. Wir hatten also ausreichend Freizeit, in der wir das Land, die Menschen und die Kultur von Amerika kennenlernen konnten.

      Da wir uns zu viert ein Auto gemietet hatten, machten wir unzählige Ausflüge und Roadtrips. Besonders die zahlreichen Nationalparks wie der Yosemite National Park, der Grand Canyon oder das Monument Valley waren beeindruckende Anblicke. In unserem Alltag tauchten wir in den kalifornischen Lifestyle von Los Angeles ein, genossen unser Leben am Pool oder den bekannten Pazifik-Stränden und feierten Partys, wie man sie aus College-Filmen kennt. Es war alles in allem eine aufregende Zeit, an die ich mich für immer gerne zurück erinnern werde.

      Zurück in Deutschland musste ich noch ein Semester absolvieren, bis ich im Oktober 2016 in das Vollzeit-Arbeitsleben einsteigen konnte. Meine Bachelorarbeit hatte ich bereits vor dem Auslandssemester abgegeben und bestanden, sodass ich im Grunde »nur« noch ein paar Kurse absitzen musste. Von meinem Dekan wurde mir zum Abschluss des Studiums vermittelt, dass ich Teil der hoffnungsvollen Arbeitnehmer von morgen sei und möglichst zügig eine erfolgreiche Karriere einschlagen sollte.

      Genau deshalb hatte ich möglicherweise ein großes Problem damit, nach meinem Studium zunächst als Sachbearbeiter einzusteigen. Ich redete mir ein, ich sei für deutlich mehr berufen und wollte am besten direkt die Assistenz der Niederlassungsleitung werden. Heute weiß ich, dass dieser Schritt für mich sehr sinnvoll war. Zum einen hatte ich das Glück, in ein aufgeschlossenes und hilfsbereites Team zu kommen, mit dem ich auch außerhalb der Arbeit etwas unternehmen konnte. Zum anderen schaffte ich dadurch notwendige Grundlagen für meine weitere berufliche Laufbahn.

      Besondere Erfahrungen

      Ich glaube, es ist nichts Besonderes, dass ich mit Mitte 20 meinen Einstieg ins Arbeits- bzw. Studentenleben gefeiert habe, neue Leute kennengelernt habe, viele neue Eindrücke gesammelt und gleichzeitig auch persönliche Rückschläge erlitten habe. All diese Erfahrungen zählen meiner Meinung nach zu normalen Umständen, die wir alle wahrscheinlich so oder so ähnlich schon erlebt haben und aus denen wir unsere ganz eigenen Erkenntnisse gewonnen haben. Abgesehen davon trägt jeder Mensch allerdings noch ganz persönliche Erfahrungen mit sich, die in dieser Form nur wenige andere erlebt haben. Das können normale Alltagssituationen sein oder aber Gefahrensituationen, die besonders prägend waren.

      Auch ich habe solche Erfahrungen gemacht, von denen ich im Folgenden kurz berichten möchte. Das mache ich nicht nur, weil ich so gerne erzähle, sondern vor allem, weil sie einen nachhaltigen Einfluss auf mich hatten. Die drei kleinen Geschichten spielten sich dabei alle im Zeitraum von 2016 bis 2017 ab.

      Die erste Erfahrung war der Besuch von Ground Zero in New York, wo wir auf der Rückreise aus Kalifornien für ein paar Tage stoppten. Eventuell kennen viele das Memorial aus Dokumentationen oder waren selbst schon einmal dort. Für alle anderen möchte ich eine kurze Beschreibung geben. Neben dem 2015 neu eröffneten One World Trade Center sind zwei riesige quadratische Brunnen in den Boden eingelassen, die den Grundrissen der ehemaligen Twin Towers entsprechen. In den Rand der Brunnen sind die Namen der über 2.700 Todesopfer der Anschläge vom 11. September 2001 graviert.

      Ich erinnere mich noch genau, wie erdrückend der Anblick dieser Gedenkstätte war. Die Stimmung in unserer Gruppe war über das gesamte Auslandssemester hinweg fröhlich bis albern. Als wir von der Greenwich Street auf das Gelände des Memorials einbogen, war davon schlagartig nichts mehr zu spüren. Mit einem Mal hatte es uns die Stimme verschlagen und wir standen mehrere Minuten einfach nur wie angewurzelt vor einem der Brunnen. Je mehr Eindrücke wir aufnahmen, umso erdrückender wurde die Atmosphäre. Wir blickten auf die riesigen Brunnen, die die Dimensionen der Twin Towers verdeutlichten. Das benachbarte One World Trade Center diente als Höhenvergleich zu den Türmen, die innerhalb kürzester Zeit in sich zusammengestürzt waren. Und dann waren da noch weinende Angehörige, die eine weiße Rose in einen der eingravierten Namen steckten und damit den Terroranschlag auf einmal personalisierten.

      Bis heute habe ich keinen Ort auf dieser Welt besucht, der mich so sehr hat erstarren lassen wie das 9/11-Memorial. Natürlich war ich mit acht Jahren nicht in der Lage, die Tragweite des Ereignisses entsprechend einzuordnen, und habe den 11. September 2001 nicht so intensiv erlebt wie beispielsweise meine Eltern. Dennoch gibt es genügend Dokumentationen, Bilder und Videos von den Anschlägen, um das Ausmaß zu kennen. Und diese Bilder im Kopf wurden plötzlich unglaublich real, als ich knapp 15 Jahre nach den Anschlägen direkt am Ort des Geschehens stand.

      Für die zweite Erfahrung war eine solche Transformation von Gedanken in die Realität hingegen nicht notwendig, da ich sie zum Zeitpunkt des Geschehens aus nächster Nähe miterlebte. Im August 2017 lag ich gerade mit drei Freunden an der Playa de Bogatell in Barcelona, als uns die Eilmeldung zu einem Anschlag auf der beliebten Einkaufsstraße La Rambla erreichte.

      Am Strand wurde es unruhig, da sich die Nachricht schnell unter den Badegästen verbreitete. Einige brachen sofort hektisch auf, andere – so auch wir – blieben zunächst am Strand. Nicht aber als Zeichen der Ignoranz, sondern aus purer Verunsicherung. Die Anschläge in Paris hatten zwei Jahre zuvor gezeigt, dass es auch mehrere Ziele geben könnte. Dennoch fühlten wir uns am Strand sicherer, als mit der U-Bahn oder mit dem Taxi zurück zu unserer Unterkunft zu fahren. Nach etwa zwei Stunden entschieden wir uns, in einem benachbarten Imbiss essen zu gehen, um anschließend ein Taxi zu rufen. Es herrschte eine bedrückende Stimmung und wir redeten kaum miteinander. Gespannt blickten wir auf die Nachrichten, die im Fernseher hinter dem Tresen liefen. Innerlich waren wir alle schwer mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Noch am Montag hatten wir uns unbeschwert in das faszinierende Nachtleben von Barcelona gestürzt. Nun saßen wir hier und wollten eigentlich