Ein Herz zu viel. Irene Dorfner

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Название Ein Herz zu viel
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044577



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Dieser neue Herzfund in der St. Nikolaus-Kirche hatte ihm ganz schön zugesetzt. Er wurde von dieser Information völlig überrannt. Aber das musste warten, jetzt musste er sich dringend ausruhen. Er spürte, wie er sich langsam entspannte und schließlich in einen ruhigen Schlaf fiel.

      Charlotte Deichberg war von den knappen Vorgaben des Chefs erschrocken. Wie sollte sie sich das alles merken? Sie hätte sich Notizen machen sollen!

      Die Polizisten machten sich sofort an die Arbeit und suchten nun auch nach weiblichen, älteren Verstorbenen vom 18. oder 19. August. Sie hatten mehrere Personen auf ihrer Liste, die es nun zu überprüfen galt.

      „Wo bleibt dieser Mitarbeiter der Seifenfabrik Ludwig? Müsste der nicht schon längst hier sein?“

      „Ich werde auch langsam ungeduldig. Er wird schon noch kommen, warten wir’s ab.“ Hans sah seit heute früh mehrfach aus dem Fenster und rechnete jeden Moment mit dem Erscheinen des Mannes. Er versprach sich viel von den Unterlagen. Vor allem, weil sie es nun mit zwei Toten zu tun hatten, die irgendwie in Bezug zu Ludwig-Seifen standen. Aber er musste Geduld haben und konnte nur warten.

      Inzwischen hatten die Polizisten mit den verstorbenen Frauen genug Arbeit. Die Gespräche mit den Hinterbliebenen waren sehr zeitaufwändig und gingen nicht spurlos an den Polizisten vorbei. Die Beerdigungen waren noch nicht lange her und die Trauer war somit noch sehr frisch. Bezüglich der Angehörigen hatten sie Glück, denn jede der Verstorbenen in ihrem Zuständigkeitsbereich hatte Angehörige. Mit dem DNA-Schnelltest war sofort klar, dass diese nicht passten. Viktoria veranlasste, dass auch die Suche nach der verstorbenen Frau ausgeweitet wurde, was abermals Mehrarbeit für Fuchs und seine Leute bedeutete. Aber was hätten sie sonst tun sollen? Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

      „Hier ist ein Matthias Beck. Er möchte mit Herrn Hiebler sprechen,“ hörte Frau Deichberg die Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie war erschrocken, als das Telefon klingelte. Bis zum frühen Nachmittag konnte sie in Ruhe arbeiten. Niemand wollte etwas von ihr und somit konnte sie sich auf die Dinge konzentrieren, die man ihr zugewiesen hatte. Sie stöhnte mehrmals auf, denn die Arbeit schien nicht auszugehen. Der Chef sah besser aus. Er kam zweimal zu ihr und legte ihr wortlos weitere Arbeit ins Fach. Und jetzt der Anruf kurz vor Feierabend! Ein Besucher war hier und es war ihre Aufgabe, diesen in Empfang zu nehmen. Wer war noch dieser Hiebler? Sie würde es schon irgendwie herausfinden. Sie brauchte lange, bis sie durch das Labyrinth des Gebäudes den Empfang gefunden hatte. Der dortige uniformierte Beamte sah sie vorwurfsvoll an und sah demonstrativ auf seine Uhr, als sie sich bei ihm vorstellte. Er wusste bereits, wer sie war. Dass sie der Ersatz für Frau Gutbrod war, hatte sich schnell herumgesprochen. Einer der Kollegen wusste, dass sie die Cousine des Staatsanwaltes war und wohl durch seine Verbindungen an den Job gekommen war. Ein Umstand, der sie den meisten von Anfang an nicht sympathisch machte.

      „Der Herr dort ist der Besuch für Herrn Hiebler.“

      „Kommen Sie mit,“ sagte Frau Deichberg und Matthias Beck folgte ihr. Wo war denn das Büro von Herrn Hiebler? Sie stoppte an jeder Tür und las das Türschild, bis sie endlich vor der richtigen Tür stand. Ohne zu klopfen trat sie ein.

      „Ein Herr Beck möchte zu Herrn Hiebler,“ sagte sie und bat Herrn Beck herein. Wie selbstverständlich blieb auch sie und holte abermals Block und Stift aus ihrer Jackentasche. Leo wollte protestieren, aber Viktoria hielt ihn zurück.

      „Lass sie, sie ist neu hier und übereifrig,“ flüsterte sie ihm zu. „Gib ihr eine Chance und sei fair.“

      „Beck mein Name. Ehemaliger Mitarbeiter der Firma Seifen-Ludwig. Wir haben gestern miteinander telefoniert?“, stellte sich der alte Mann vor.

      „Endlich! Wir wollten bereits eine Vermisstenanzeige aufgeben. Was ist passiert?“

      „Eine unvorhergesehene Autopanne, die sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Ich möchte mich in aller Form entschuldigen. Mich zu verspäten ist sonst nicht meine Art. Aber was hätte ich machen sollen? Ich besitze kein Handy, ich möchte mich nicht zum Sklaven der ständigen Erreichbarkeit machen. Zugegeben wäre ein Handy heute sehr von Vorteil gewesen. Vielleicht sollte ich meine Einstellung nochmals überdenken.“

      „Sie haben die Unterlagen dabei?“

      „Selbstverständlich, wie versprochen. Sie sind in meinem Kofferraum. Wenn Sie wollen, hole ich sie.“

      „Das übernehmen wir für Sie,“ sagte Werner und Matthias Beck gab ihm seinen Autoschlüssel.

      „Ich habe mir erlaubt, direkt vor dem Eingang zu parken. Sie können mein knallrotes Schätzchen nicht übersehen. Es ist weit und breit das schönste Fahrzeug.“

      Werner staunte nicht schlecht, als er vor dem Oldtimer stand, der tadellos in Schuss war. Er brauchte einen Moment, bis sich das alte Schloss des Kofferraumes öffnen ließ und nahm die beiden Kartons heraus, die randvoll mit Ordnern gefüllt waren. Er bat einen Kollegen um Hilfe und sie trugen die schweren Kartons nach oben.

      „Donnerwetter,“ staunte Hans. „Das sind ja locker zwanzig Ordner!“

      „Ich schwöre, dass das alle sind, die ich bei mir hatte. Ich konnte sie retten, bevor sie im Container gelandet sind. Das ist nicht nur ein Stück Firmengeschichte, sondern auch Teil meines Lebens. Es hätte mir im Herzen wehgetan, wenn das einfach alles im Müll gelandet wäre. Der damalige Geschäftsführer Dr. Bruhnke wollte alles so schnell wie möglich weghaben. Ich bin mir sicher, dass er die Firma damals mit Absicht an die Wand gefahren hat, die Geschäfte liefen hervorragend. Das war auch kein Kunststück, denn unsere Produkte waren von exzellenter Qualität. Vor dem Konkurs hat Dr. Bruhnke noch kräftig abgesahnt. Man munkelte, dass er mit dem Großteil seiner Verwandten mit Seifen-Ludwig reich geworden ist. Warum sonst wohnen die alle heute in chicen Wohngegenden mit riesigen Häusern? Aber Dr. Bruhnke hatte nicht lange Freude an seinen miesen Geschäften. Drei Jahre nach dem Konkurs ist er durch einen tragischen Bootsunfall im Mittelmeer ums Leben gekommen. Das ist zwar ein Tod in traumhafter Umgebung, aber was nützt das? Tot ist tot!“

      „Sie waren Vorabeiter in der Seifenfabrik?“

      „Ja, aber nur die letzten zwei Jahre bis zur Schließung der Fabrik. Das war einer der traurigsten Momente meines Lebens, als endgültig die Tore geschlossen wurden. Die Ludwigs waren immer Teil meines Lebens, schon mein Vater und dessen Vater haben dort gearbeitet.“ Beck trank einen Schluck Kaffee, während er immer wieder zu Frau Deichberg blickte. „Ich war bei der Schließung der Fabrik 38 Jahre alt. Ich habe zwar gleich wieder Arbeit gefunden, aber die war nicht vergleichbar mit der bei Ludwig. Alle Ludwig-Angestellten waren wie eine große Familie, jeder kannte jeden. Man hatte privaten Kontakt und regelmäßig fanden gemeinsame Freizeitaktivitäten statt, an denen auch immer die Familie Ludwig teilgenommen hat. Es gab sogar eine Ludwig-Band, in der ich Gitarre gespielt habe. Ja, das waren noch goldene Zeiten, so etwas gibt es heute kaum mehr! Alles war prima und die Welt bei den Ludwigs war in Ordnung. Bis zum 15. Januar 1968, da starb der letzte Nachkomme der Familie Ludwig durch eine heimtückische Krankheit mit nur 54 Jahren. Kurz darauf kam seine junge Frau und deren einziges Kind und Firmenerbe durch einen Verkehrsunfall ums Leben. So spielt das Leben! Die Fabrik hat eine entfernte Verwandte in Amerika geerbt, die keinen Bezug zu München und zur Fabrik hatte und sie daher verkaufte. Käufer waren Investoren, die diesen dämlichen Geschäftsführer Dr. Bruhnke eingesetzt haben. Abgesehen davon, dass von da ab alles gestrichen und verboten wurde, was auch nur annähernd mit gemeinsamen Aktionen zu tun hatte, ging es mit der Firma immer weiter bergab. Langgediente Mitarbeiter wurden entlassen, dafür wurden billige Leiharbeiter eingestellt, die mit großen Versprechungen gelockt und dann doch auch wieder entlassen wurden. Bei den wenigen Betriebsversammlungen wurde uns immer wieder mitgeteilt, dass es um die Firma sehr schlecht stehe und daher weitere Einsparungen unumgänglich seien. Zuerst hat man uns das Weihnachtsgeld und dann das Urlaubsgeld gestrichen. Auch die Pensionskasse, in die wir viele Jahre eingezahlt haben, wurde eingefroren. Man konnte zusehen, wie die Firma systematisch zugrunde gerichtet wurde. Schließlich war der Konkurs nicht mehr aufzuhalten. Noch bevor wir offiziell von Dr. Bruhnke davon unterrichtet wurden, war uns das allen klar. Eine Schande, sage ich Ihnen. Ich gab dem damaligen Konkursverwalter einen Tipp, aber der Trottel hat sich nicht dafür interessiert.“ Immer