Ein Herz zu viel. Irene Dorfner

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Название Ein Herz zu viel
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044577



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und die Besatzung des Notarztwagens starrten auf Leos Rücken.

      „Auf deinem Rücken ist eine riesige Zunge abgebildet.“

      „Das weiß ich. Geil, was?“

      „Meinst du wirklich, dass das hier her passt? Die Leute tuscheln schon.“

      „Das ist mir doch egal. Mir gefällt auch vieles nicht.“ Leo war beleidigt, denn er war stolz auf seine ausgefallenen T-Shirts. Gerade das Heutige hatte er von seiner alten Freundin und früheren Ulmer Kollegin Christine Künstle geschenkt bekommen. Das T-Shirt war sehr selten und sie hatte es auf ihrer letzten Urlaubsreise in den USA für viel Geld gekauft. Was fiel Hans eigentlich ein? Am liebsten hätte er mit seinem Kollegen darüber diskutiert, aber sie wurden von Fuchs unterbrochen.

      „Wir sind fertig. Die Gnadenkapelle ist wieder freigegeben,“ sagte Fuchs.

      „Irgendetwas, das Sie uns jetzt schon sagen können?“

      „Nein.“

      „Wann können wir mit Ihrem Bericht rechnen?“

      „Sobald ich fertig bin.“ Fuchs hasste diese Fragerei, er konnte schließlich auch nicht zaubern. Die Auswertungen der Spuren konnten seine Mitarbeiter übernehmen, während er mit dem Herz so schnell wie möglich nach München in die Pathologie fuhr. Von den Spuren in der Gnadenkapelle versprach er sich nicht viel, denn es waren täglich Tausende in der Kapelle und alle Spuren zuzuordnen war unmöglich. Er legte den Fokus nicht nur auf das Herz selbst, sondern auf die silberfarbene Schatulle. Er hatte sofort gesehen, dass es sich dabei nicht um eine Antiquität handelte. Aber vielleicht konnten sie darauf verwertbare Spuren finden? Die Schatulle wollte er selbst übernehmen und hatte für eine genauere Untersuchung alles bei sich. Das konnte er in München machen, während er auf die Untersuchungsergebnisse des Herzens wartete. Er hatte keine Lust darauf, all das den Kripobeamten mitzuteilen. Wo war eigentlich diese nervige Viktoria Untermaier, die ihn und seine Arbeit immer kritisierte?

      Als der kleine Bruder Siegmund endlich die beiden Türen der Gnadenkapelle aufsperrte, drängten die Wartenden ins Innere. Schnell füllte sich die winzige Kapelle und viele sahen sich um. Was war hier passiert? Warum waren die Polizei und die Spurensicherung hier? Es musste etwas Schreckliches passiert sein und die Gerüchteküche brodelte. Kaum jemand achtete auf die Schwarze Madonna, den Altar oder die vielen Kostbarkeiten der Gnadenkapelle. Die Suche nach Spuren stand bei allen im Fokus. Aber Fuchs hatte gute Arbeit geleistet, es war nicht der kleinste Hinweis übrig geblieben.

      Viktoria Untermaier war zurück von ihrem Zahnarztbesuch und strahlte übers ganze Gesicht. Ihr wurde der Zahn gezogen und sie war endlich wieder schmerzfrei. Dass eine Zahnbehandlung folgte, sobald die Schwellung abgeklungen war, interessierte sie jetzt nicht. Auch Werner Grössert, der 40-jährige, frischgebackene Vater war längst an seinem Platz. Er kam heute eine Stunde später zur Arbeit, da er gerne bei der Impfung seiner Tochter dabei sein wollte.

      „Wo sind Leo und Hans?“, wollte Viktoria schmerzfrei und gutgelaunt wissen.

      „Soweit ich den Chef verstanden habe, sind sie in Altötting in der Gnadenkapelle. Dort wurde ein Herz gefunden.“

      Viktoria verzog angewidert das Gesicht.

      „Ein Herz? Dann haben wir ja nichts verpasst.“

      Leo und Hans kamen zurück und berichteten ausführlich. Hans beschrieb in schillernden Farben, wie das Herz auf dem Boden der Gnadenkapelle gelegen hatte, und untermauerte seine Schilderungen mit den Fotos, die ihm die neue Mitarbeiterin der Spurensicherung vorhin in die Hand gedrückt hatte. Leo und Viktoria waren nicht besonders scharf auf die Sichtung der vielen Fotos, eins hätte auch gereicht. Nur Werner war fasziniert und ließ sich alles nochmals ausführlich erzählen. Er ärgerte sich, dass er diesen Fund verpasst hatte.

      „Was hat es mit dem Herz in der Gnadenkapelle auf sich?“ Rudolf Krohmer, der 58-jährige Leiter der Mühldorfer Polizei war neugierig. Hans schilderte zu Leo und Viktorias Leidwesen nochmals alles ausführlich und legte auch hier ein Foto nach dem anderen auf den Tisch. Krohmer hörte sich alles ohne Regung an. Die Schilderung konnte ihn nicht schocken, dafür hatte er während seiner beruflichen Laufbahn schon viel zu viel gesehen.

      „Herzbestattungen waren nur dem Hochadel oder herausragenden Persönlichkeiten vorbehalten. Was soll dieser Mist? Gibt es irgendwelche Spuren? Zeugen? Kameraaufzeichnungen?“

      „Nein. Keine Spuren, keine Zeugen. Auf dem Kapellplatz gibt es zwei Kameras, deren Aufzeichnungen wir vorhin gesichtet haben. Nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches. Das Herz könnte theoretisch jeder in der Gnadenkapelle deponiert haben. Fuchs ist mit dem Herz und dem Behältnis in München. Sobald er zurück ist, meldet er sich bei uns.“

      Fuchs berichtete am späten Nachmittag ausführlich über die Ergebnisse der Pathologie.

      „Das eindeutig menschliche Herz gehört einer älteren, männlichen Person, deren DNA nicht in unserer Kartei ist. Das Herz wurde in Formaldehyd eingelegt und dann in der Gnadenkapelle deponiert.“

      „Du großer Gott! Dann suchen wir die Nadel im Heuhaufen! Wie soll man da den genauen Todeszeitpunkt herausfinden?“ Krohmer war außer sich.

      „Die Pathologen machen einige Tests, das kann aber noch dauern. Sie arbeiten mit Hochdruck an der Feststellung des Todeszeitpunkts. Ich bezweifle, dass ein positives Ergebnis herauskommt. Wenn das Herz vorher in Formaldehyd eingelegt war, ist eine Todeszeitbestimmung schier unmöglich.“

      „Wissen wir wenigstens, wann dieses Herz in die Gnadenkapelle gebracht wurde? Gab es Einbruchspuren?“

      „Keine Einbruchspuren. Die Gnadenkapelle ist nicht immer gut besucht. Besonders sehr früh am Morgen oder spät am Abend gibt es Zeiten, in denen sich niemand oder nur sehr wenige Besucher dort einfinden. Das Herz unbemerkt zu deponieren, dürfte kein größeres Problem darstellen.“

      „Bruder Siegmund ist sich ganz sicher, dass das Herz am Morgen des vorherigen Tages, also gestern am 03. August, noch nicht in der Gnadenkapelle war, das schloss er kategorisch aus. Er selbst und zwei Putzfrauen waren von 5.30 Uhr bis 6.30 Uhr in der Gnadenkapelle; zu der Zeit war noch alles in Ordnung,“ las Leo von seinen Aufzeichnungen ab.

      „Bruder Siegmund hat eine Leiter gebraucht, um dort hinzugelangen, wo das Herz deponiert wurde. Zugegeben, der Mann ist sehr klein. Selbst ich würde mit meiner stattlichen Größe nicht ohne Hilfe das Herz so weit oben deponieren können. Wie soll es ohne Leiter dort raufgekommen sein?“ Hans hatte es versucht und sich gestreckt, ihm fehlten bestimmt dreißig Zentimeter.

      „Da gibt es viele Möglichkeiten. Die einfachste Möglichkeit wäre die Hilfe einer zweiten Person. Mit einer Räuberleiter ist das in Nullkommanichts erledigt. Auch eine Gehhilfe wäre eine Option. Auch eine Tasche, ein kleiner Koffer oder etwas Ähnliches würde einem normal gewachsenen Menschen ausreichen, um dort hinzugelangen. Wenn ich jetzt auf die Schatulle kommen dürfte? Bei der reich verzierten Schatulle handelt es sich um ein altes Objekt aus Blech, das aber aufgrund des billigen Materials und der nicht sehr hochwertigen Verarbeitung keinen großen Wert darstellt. Meine Recherchen haben ergeben, dass in dieser Art Schatulle ab 1952 bis 1974 Uhren und Modeschmuck der Münchner Manufaktur Schneck & Sohn verkauft wurden. Danach wurden die Verpackungen auf Plastik umgestellt, was ich persönlich sehr schade finde. Die Firma Schneck & Sohn gibt es seit über zwanzig Jahren nicht mehr.“

      „Schneck & Sohn kenne ich aus meiner Kindheit und Jugend. Die Artikel dieser Firma waren damals bei den Damen sehr beliebt. Auch meine Mutter und meine Schwester besaßen diese Dosen, die mein Vater zur Aufbewahrung von Schrauben und Muttern zweckentfremdet hat. Von diesen Dosen dürften auch heute noch tausende in Umlauf sein. Haben Sie wenigstens irgendwelche Spuren gefunden?“

      Fuchs ärgerte sich über die abfällige Bezeichnung dieser doch sehr ansprechenden Schatulle. Sie als einfache Dose zu bezeichnen, war ein Frevel. Die opulente Verzierung und die Verarbeitung der Dose, die zwar Massenware war, war doch weit ansprechender als irgendeine Dose. Die Firma hatte sich mit den Verpackungen ihrer Artikel zur damaligen Zeit noch richtig Mühe gegeben; nicht so wie heute, wo alles nur lieblos in Plastikbeuteln verpackt wird.