Ein Herz zu viel. Irene Dorfner

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Название Ein Herz zu viel
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044577



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sportlichen, attraktiven Mann umgab heute wieder ein heftiger Herrenduft, den Leo ausnahmsweise als sehr angenehm empfand. Zumindest viel angenehmer als dieser penetrante Schweißgeruch, der viele Menschen in den letzten Tagen umgab. Es war heiß, verdammt heiß. Dieser Sommer schien den Hitzesommer von 2003 noch zu toppen.

      „Das war Bruder Siegmund. Er faselte etwas von einem Herz in der Gnadenkapelle, das dort nicht hingehört und auf dem Boden liegt. Er sagt, dort sei ein Herz zu viel. Ich befürchte, dass der alte Mann völlig übergeschnappt ist.“

      Hans wurde blass und setzte sich.

      „Bruder Siegmund sprach von den Herzen, die in der Gnadenkapelle bestattet wurden. Wenn da eins zu viel ist, ist das eine Katastrophe. Lass uns gehen.“

      „Moment, nicht so schnell. Was faselst du da von Herzbestattungen? Davon habe ich noch nie gehört!“ Der 50-jährige Schwabe gehörte keiner Kirche an und hatte keinen Sinn dafür. Freiwillig würde er keine Kirche betreten, beruflich blieb ihm nichts anderes übrig.

      „Herzbestattungen gibt es schon seit vielen Jahrhunderten. Die Altöttinger Gnadenkapelle ist berühmt dafür, dass vor allem die Wittelsbacher ihre Herzen in kunstvoll verzierten Gefäßen, die Urnen oder auch Herzschalen genannt werden, dort bestattet haben. Eine alte Tradition, die bis in die heutige Zeit andauert. Wenn ich mich nicht irre, fand die letzte Herzbestattung in den 80er- oder 90er-Jahren statt.“

      „Du veräppelst mich doch!“

      „Keineswegs. Diese Tradition ist nicht nur bei uns in Bayern bekannt. Österreich ist eines der bekanntesten Länder, in denen das ebenfalls schon seit ewigen Zeiten gehandhabt wird. Die Habsburger praktizieren diese separaten Herzbestattungen bis in die heutige Zeit, obwohl das von der Kirche an sich nicht gern gesehen wird. Früher glaubte man, dass die Seele des Menschen im Herzen ruht und auch deshalb wurden die Herzen von Königen, Fürsten und sonstigen wichtigen Personen an einem geweihten Ort bestattet.“ Hans ging zur Tür. „Es ist kein Wittelsbacher gestorben und meines Wissens nach gab es am letzten Wochenende keine Herzbestattung in der Gnadenkapelle, das hätte ich mitbekommen. Können wir jetzt endlich fahren?“

      Bruder Siegmund wartete vor der Gnadenkapelle, vor der sich eine riesige Menschentraube gebildet hatte. Alle wollten ins Innere, aber Bruder Siegmund blieb unerbittlich. Die Wallfahrer und Touristen scheuten nicht davor zurück, den armen Kapuzinermönch zu beschimpfen, was Bruder Siegmund nicht störte. Er dachte nur an das menschliche Herz, das direkt vor dem Altar auf dem Boden lag. Diesen Anblick konnte er den Menschen nicht zumuten. Endlich erspähte er Leo und Hans. Heftig winkte er ihnen zu. Unmut machte sich in der Menschenmenge breit, denn diese vermutete, dass hier zwei Personen bevorzugt wurden. Hans zeigte seinen Ausweis.

      „Die Gnadenkapelle bleibt wegen einer Polizeiaktion leider für die Öffentlichkeit geschlossen. In Altötting gibt es noch viele andere, sehr interessante Sehenswürdigkeiten. Sehen Sie sich dort inzwischen um. Ich bin sicher, dass die Gnadenkapelle in wenigen Stunden wieder freigegeben wird.“

      Auf die vielen Fragen, die auf ihn hereinprasselten, ging er nicht ein. Er folgte Leo und Bruder Siegmund, der die Seitentür nach dem Eintreten sofort wieder verschloss. Bruder Siegmund eilte voraus und blieb vor dem Altar der Schwarzen Madonna stehen, wo er sich mehrfach bekreuzigte. Auf dem Boden lag eine silberfarbene Schatulle. Direkt daneben ein menschliches Herz. Leo wurde schlecht. Er hatte noch nicht gefrühstückt, da seine Lebensgefährtin und Kollegin Viktoria Untermaier die ganze Nacht über Zahnschmerzen geklagt hatte. Sofort nach dem Aufstehen fuhr sie zum Zahnarzt und ließ Leo allein zurück. Er saß am Frühstückstisch und hatte keine Lust darauf, allein zu frühstücken. Jetzt bekam er ein schlechtes Gewissen. Hätte er Viktoria begleiten sollen? Schwachsinn! Seine Viktoria war mit ihren 48 Jahren und ihrem großen Mundwerk in der Lage, das allein zu meistern. Er fuhr daher früh ins Büro und jetzt war ihm kotzübel. Lag es wirklich nur an diesem Herz oder war es diese weihrauchschwangere, düstere Umgebung? Leo wendete den Blick von dem Herz ab und sah sich um. Er war bereits mehrfach hier gewesen, aber diesmal erschien ihm das Innere der Gnadenkapelle besonders unangenehm und nahm ihm fast die Luft. Wie viele Menschen waren in den letzten Jahrhunderten hier gewesen um in ihrer Verzweiflung zu bitten oder in Freude zu danken?

      „Ich war heute gegen 6.30 Uhr in der Gnadenkapelle, um die Kerzen anzuzünden und ein Gebet zu sprechen,“ riss ihn Bruder Siegmund aus seinen Gedanken. „Noch während meines Gebetes habe ich diese Schatulle zwischen den anderen Herzen bemerkt. Genau dort oben war sie. Ich habe sofort gesehen: Die gehörte nicht hier her. Ich kenne jede einzelne Herzschale, dieses billige, schäbige Behältnis gehört nicht dazu. Ich dachte an einen dummen Streich. Natürlich musste dieses Behältnis umgehend beseitigt werden, schließlich haben die Wallfahrer ein Anrecht auf einen ungestörten Aufenthalt an diesem heiligen Ort. Hier hat Schabernack nichts zu suchen, dafür habe ich kein Verständnis. Also habe ich eine Leiter geholt. Und nachdem ich das Behältnis in Händen hatte, überkam mich die Neugier. Schimpfen Sie bitte nicht mit mir. Sie wissen, dass die Neugier mich ständig plagt.“ Bruder Siegmund wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, er schwitzte stark. „Ich habe mich bei dem Anblick des Inhalts so erschrocken, dass mir das Behältnis aus den Händen geglitten und direkt vor den Altar gefallen ist. Ich habe alles so gelassen und Sie sofort angerufen.“ Die Worte sprudelten aus Bruder Sigmund heraus. Obwohl er vollkommen geschockt war, hatte er absolut richtig gehandelt. Leo entschied, einen Arzt hinzuzuziehen, nachdem er die Spurensicherung informiert hatte.

      „Das Herz sieht nicht frisch aus,“ sagte Hans, nachdem er sich den Fund näher ansah. „Nicht den Hauch von Blut zu sehen. Außerdem riecht es seltsam.“ Hans kniete auf dem Boden und roch daran. Leo wurde noch schlechter.

      „Steh auf und überlass das der Spurensicherung,“ sagte Leo und setzte sich in eine Bank neben Bruder Siegmund. Er sprach so lange beruhigend auf ihn ein, bis der Notarzt endlich eintraf und sich um ihn kümmerte. Endlich war auch die Spurensicherung vor Ort, Leo und Hans konnten an die frische Luft gehen und versuchen, irgendwelche Zeugen zu finden.

      Der 41-jährige Friedrich Fuchs, Leiter der Mühldorfer Spurensicherung, hatte heute besonders schlechte Laune. Er grüßte nicht, sondern ging mit seinen Leuten durch die riesige Menschenmenge direkt in die Gnadenkapelle und gab dort knappe Anweisungen. Leo beobachtete ihn und musste sich ein Lachen verkneifen, denn er verglich den Mann immer mit einem hektischen Wiesel. Schnell hatte Fuchs alles abgesperrt und seine Mitarbeiter gingen rasch und stumm an die Arbeit. Fuchs führte ein hartes Regiment in seiner Abteilung, trotzdem waren die Jobs bei ihm aufgrund seiner Arbeit und seines umfangreichen Wissens sehr gefragt. Eine Mitarbeit in seinem Team machte sich im Lebenslauf sehr gut.

      Leos Magen ging es besser, nachdem er einen Kaffee getrunken hatte. Obwohl sie viele Passanten befragten, fand sich nicht ein Zeuge, der etwas gesehen, gehört oder bemerkt hatte. Die Menschentraube hinter den Absperrbändern wurde immer größer. Alle wollten wissen, was hier vor sich ging, und die ersten Gerüchte machten ihre Runde. Leo und Hans hatten sich zurückgezogen. Einer der Uniformierten überreichten ihnen Kaffee. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Vielleicht bekamen sie von Fuchs einen wertvollen Hinweis für die weiteren Ermittlungen vor Ort.

      Für Leo als konfessionslosen Menschen waren diese Herzbestattungen nicht nachvollziehbar. Wer kam nur auf diese abstrusen Ideen? Leo war nun seit über zwei Jahren bei der Kripo Mühldorf, nachdem er von Ulm hierher strafversetzt wurde. Er fühlte sich zwar wohl hier, trotzdem kam er mit der hiesigen Mentalität nicht immer zurecht. Die Schwaben waren ihm vertrauter und aus seiner Sicht auch einfacher zu handhaben. Er vermisste seine alte Heimat und nahm sich fest vor, in den nächsten Wochen einen Abstecher nach Ulm zu seinen alten Freunden und Kollegen zu unternehmen, denn dort hatte er sich lange nicht mehr sehen lassen. Hans Hiebler beobachtete seinen schwäbischen Kollegen, wie er in Gedanken in seinen Kaffeebecher starrte. Er hatte sich inzwischen an den kauzigen Typen gewöhnt und schätzte ihn sehr. Auch heute trug Leo wieder eins dieser fürchterlich bunten T-Shirts mit grellbuntem Aufdruck. Hans hatte gehofft, dass Leo nach seinem 50. Geburtstag in der Beziehung endlich normal werden würde, aber der 1,90 m große Schwabe dachte nicht daran, sich irgendwie zu ändern. Leo zog seine Lederjacke aus, die er jeden Tag trug. Besaß er überhaupt eine andere Jacke? Und diese schrecklichen Cowboystiefel! Leo drehte sich mit dem Rücken zu ihm und