Der Nagel. Rainer Homburger

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Название Der Nagel
Автор произведения Rainer Homburger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738043747



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Stück Papier zusammengefaltet wurde. Der Schlag wurde begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm, dann plötzlich war alles ruhig.

      Die Schmerzen waren unerträglich. Carl lag auf den Resten der Rückbank und konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Er war eingeklemmt, eine warme Flüssigkeit lief ihm ins rechte Auge. Er wollte sich mit der Hand über das Gesicht wischen, doch er konnte seinen Arm nicht bewegen. Er wusste nicht einmal, wo sein Arm überhaupt war. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase und er spürte trotz der unsäglichen Schmerzen am ganzen Körper, wie es an seiner rechten Hüfte immer wärmer wurde. Dann verlor er das Bewusstsein.

      Lorient, Donnerstag, 1. Juni 1944, 8:10 Uhr

      Das Gesicht des Mädchens war komplett von Ruß bedeckt. Wiederholt rieb sie sich in den Augen und verschmierte die schwarze Schicht. Tränenspuren auf beiden Wangen brachten den ganzen Schmerz zum Ausdruck, den sie hatte erfahren müssen. Kraftlos und mit vorgebeugtem Oberkörper saß sie auf dem Boden vor einem Ziegelhaufen und starrte Hans mit verquollenen Augen an. Hinter ihr stiegen noch immer dunkle Rauchschwaden aus den Trümmern auf und verdüsterten die Zukunft des Kindes, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte. Ihr Körper zuckte mehrfach, als wolle er sich gegen den Qualm wehren, der mehr Giftstoffe als Sauerstoff enthielt. Ein Wimmern kämpfte sich aus der Kehle der Kleinen, immer und immer wieder.

      Hans blieb stehen und sah ihr in die Augen. Der Rauch in der Luft stank erbärmlich und er spürte sofort die giftige Wirkung, die den Sauerstoff umklammerte und nicht mehr freigeben wollte. Er hustete und hielt sich die Hand schützend vor Mund und Nase. Er war wie gelähmt, wusste nicht, was er tun sollte. Sein Blick fiel auf die Hände des Mädchens. Ihre Finger klammerten sich krampfhaft an etwas fest. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass die roten Fingernägel nicht zu dem Kind gehörten. Sondern zu dem Arm, der aus dem Trümmerhaufen hinter ihr hervorschaute.

      »Komm weiter, Hans«, tönte es von der Seite, aber er reagierte nicht. Bis ihn jemand am Ärmel packte und weiterzog.

      »Das Kind«, stammelte er und stolperte über seine eigenen Füße.

      »Komm aus dem Gestank raus.« Dieter zog ihn unaufhaltsam weiter und schon einige Meter weiter ließ der stechende Geruch nach.

      »Die Mutter liegt ...« Hans war noch immer fassungslos, wandte sich um und sah zurück. Dunkler Rauch hatte jetzt die Stelle eingenommen, an der das Kind gesessen hatte. Er konnte es nicht mehr erkennen, der Rauch war zu dicht.

      »Hans, wir können nichts tun. Komm jetzt, wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen.«

      »Hast du das Mädchen nicht gesehen? Was soll denn aus ihr werden?«

      »Wir können ihr nicht helfen.«

      Hans blieb einen Moment fassungslos stehen, dann setzte er Dieter nach.

      »Und wenn das dein Kind wäre?«

      Jetzt blieb Dieter stehen. Hans schloss auf und sah seinem Freund ins Gesicht. Seine Augen waren gerötet und feucht.

      Lag es am Rauch oder war es wegen des Mädchens? Hans wartete auf eine Reaktion. Dieter atmete tief ein und aus. Es vergingen noch ein paar Sekunden, ehe er antwortete.

      »Wir sind schon spät dran«, wich er der Situation aus, dann folgte er dem Soldaten, der sie zum Hafen bringen sollte und bereits weit vor ihnen lief. Hans sah ihm nach und schüttelt nur den Kopf. Noch einmal drehte er sich um. Der Rauch hatte sich gelichtet, das Mädchen war verschwunden. Er suchte vergeblich die Umgebung ab. Nichts.

      Unsicher wandte er sich um und folgte Dieter in Richtung Hafen.

      Die Bunkeranlagen waren bereits von weitem zu erkennen.

      Ein riesiger Klotz mit einer Länge von 170 Metern und einer Breite von bis zu 140 Metern erhob sich vor ihnen. Überall im Hafengebiet stiegen von Maschinen, Fahrzeugen und Schiffen Rauchwolken auf. Lastwagen fuhren umher. Sie brachten Ersatzteile und Lebensmittel zu den Bunkern, in denen die schmalen Bootskörper vor dem Auslaufen vollgestopft wurden. Wie in einem Ameisenhaufen wuselten Arbeiter und Soldaten umher.

      Die Deutschen hatte sich viel Mühe gegeben, einen großen und autarken U-Boot-Stützpunkt in Lorient zu errichten. Die Infrastruktur war stark ausgebaut worden, Torpedo- und Treibstoffbunker existierten genauso wie eine starke Flak, die alles gegen die Luftangriffe der Alliierten verteidigen sollte.

      Mit seinen sieben Boxen enthielt der 23.000 Quadratmeter große Bunker KEROMAN III Platz für dreizehn U-Boote. Er war im Januar 1943 fertig gestellt worden und der Einzige, der das Einlaufen der Boote in die Boxen ohne Aufschleppanlage ermöglichte. Die Boxen waren länger als die der beiden älteren Bunker KEROMAN I und II und somit auch für größere Boote geeignet.

      Mit jedem Schritt baute sich die mächtige Bunkerwand weiter bedrohlich vor ihnen auf. Hans war überwältigt von der Größe des Bauwerks. Durch seine wachsende Bewunderung und das vielfältige Treiben vergaß er sogar die Zerstörungen, die er vorhin gesehen hatte. Und verdrängte das Erlebnis mit dem Mädchen.

      Kurze Zeit später erreichten sie den Bunkerbereich und folgten dem Schild KEROMAN III Eingang. Eine leichte Brise wehte durch den Hafen, aber erst jetzt bemerkte Hans den Geruch der feuchten, salzhaltigen Meeresluft in der Nase. Erinnerungen an Peenemünde wurden wach. Durch die Nähe zur Ostsee begleitete ihn der typische Meeresgeruch dort bei seiner täglichen Arbeit und er genoss dies ungemein.

      Sie betraten den Bunker und die Meeresbrise schlug sofort um in eine Mischung aus Benzingeruch, Schmierstoffe, Gestank von Schweißarbeiten und den Ausdünstungen verschwitzter Körper. Hans rümpfte die Nase.

      »Puh, das stinkt ja gewaltig.«

      »Wenn man erst mal eine Zeit lang drin ist, gewöhnt man sich daran. Hier geht‘s lang.« Der Soldat deutete mit einer Handbewegung die Richtung und führte sie weiter in das Innere der Anlage.

      Der Bunker KEROMAN III hatte in der Mitte eine große Box, die für drei U-Boote ausgelegt war. Sie war komplett für diesen Sonderauftrag reserviert worden. Seit Tagen liefen die Vorbereitungen.

      Hans und Dieter waren verantwortlich dafür, dass die auszuführenden Arbeiten den termingerechten Einsatz sicherstellten. Bereits vor einer Woche war ein Trupp ihrer Mitarbeiter nach Lorient geflogen, um alles vorzubereiten. Eine weitere Woche früher war die für diesen Einsatz vorgesehene A4-Rakete verladen und per Eisenbahn auf den Weg nach Frankreich gebracht worden. Die starken Luftangriffe der vergangenen Monate hatten viele der Bahnstrecken und Straßen zerstört. Für die letzten Kilometer nach Lorient musste die Rakete auf Lastwagen verladen werden, da die Eisenbahnlinie kurzfristig nicht mehr repariert werden konnte. Unter massiven Sicherheitsvorkehrungen hatte sie aber noch rechtzeitig den Hafen erreicht, sodass der eng gesetzte Terminplan bisher gehalten wurde.

      Die Luft im hinteren Teil des Bunkers war wirklich schlecht. Was durch die großen Öffnungen am gegenüberliegenden Ende hereinströmte, reichte nicht aus, um gegen den vorherrschenden Mief anzukommen.

      Sie gingen an drei Boxen vorbei, die mit U-Booten belegt waren. Von den Seitenwänden strahlten starke Scheinwerfer die stählernen Körper an, doch das dunkle Grau des Metalls, das Schwarz des Wassers und die Betonwände schluckten einen Großteil des Lichts. Vor den hellen Bunkeröffnungen in 140 Metern Entfernung hoben sich die Bootstürme gespenstisch in die Höhe. Überall wurde intensiv gearbeitet, auf mehreren Arbeitsbühnen standen Arbeiter, die die teilweise stark beschädigten Boote reparierten. Zu Hans Überraschung hatten einige der Männer für die Schweißarbeiten nicht einmal Schutzbrillen angezogen. Stimmen und Befehle versuchten, sich über die vielfältigen Arbeitsgeräusche hinwegzusetzen. An jeder Ecke standen SS-Soldaten, die die Anwesenden im Auge behielten.

      Die vierte Box war ihre. Sie war deutlich breiter, der Platz für die U-Boote war hier mit fast einhundert Metern aber nur geringfügig länger, als in den anderen.

      »Höchste Zeit, dass ihr kommt.«

      Oberingenieur Fritz kam ihnen entgegen. Er trug einen verdreckten Blaumann und dicke Schuhe mit glänzenden Stahlkappen. Sein Gesicht war verschmiert, die Augen zierten