Belladonnas Schweigen. Irene Dorfner

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Название Belladonnas Schweigen
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044560



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nahm, konnte sie nicht anders und willigte ein. Voller Scham und vor allem voller Sorgen ging sie nach Hause in die Trostberger Straße, die nur wenige Gehminuten vom Kapellplatz entfernt war.

      Als der Notarztwagen wegfuhr und die Menschenmenge sich auflöste, konnten nun auch die Verkäuferinnen des Devotionaliengeschäfts endlich aufatmen.

      Während sich Martin mit großen Augen im Spielzeugladen umsah, hielt ihm Leo dabei den Rücken frei. Ausnahmslos alle Erwachsenen starrten Martin an und zogen ängstlich ihre Kinder zur Seite. Auf den einen oder anderen Spruch reagierte Leo sehr empfindlich und wies die jeweilige Person deutlich zurecht. Nur die Kinder hatten kein Problem mit Martin und behandelten ihn ganz normal. Martin stand unschlüssig vor dem Regal mit seinen geliebten Actionfiguren und konnte sich nicht entscheiden. Seine Augen wanderten von einer zur anderen Figur und wieder zurück. Leo hatte großen Spaß an Martins kindlicher Freude und drängte ihn nicht, er hatte jede Zeit der Welt. Endlich griff Martin zu und sah Leo fragend an.

      „Diese willst du haben?“ Martin nickte. „Bist du dir ganz sicher?“

      „Die will ich. Hast du so viel Geld?“

      Statt einer Antwort nickte Leo und sie gingen zur Kasse, wo Martin nur ungern die Figur aus der Hand gab. Sobald der Preis eingetippt war, nahm er die Figur sofort wieder an sich. Die 50 € reichten nicht ganz, aber Leo legte gerne den Differenzbetrag drauf. Nach wenigen Minuten standen sie vor Martins Elternhaus in der Trostberger Straße. Das Haus war aus den 50er-Jahren und wirkte sehr farblos. Man sah, dass schon lange nichts mehr am Haus gemacht wurde. Aber der kleine Vorgarten war sehr hübsch angelegt und gefiel Leo ausnehmend gut. Er sah sogar noch besser aus als der von Tante Gerda, was er ihr aber nie sagen würde.

      Frau Mahnstein sah aus dem Fenster im ersten Stock. Sie hatte nach ihrem Sohn Ausschau gehalten und war nun beruhigt, als sie ihn und den freundlichen Polizisten erblickte.

      „Schau mal Mama, was mir Leo gekauft hat,“ rief Martin und hielt dabei seine Actionfigur in die Luft.

      „Sehr schön Martin. Kommt rauf, ich habe Kakao gemacht.“

      Martin ging durch die Gartentür ums Haus und stieg die Kellertreppe nach unten. Sie passierten dabei einen kleinen Garten, in dem ein Sandkasten, ein Fußballtor und viele Spielsachen lagen. In diesem Garten führte eindeutig Martin das Regiment, denn Leo bemerkte nicht eine Blume oder einen Zierstrauch, von denen es im Vorgarten nur so wimmelte. An der Kellertür hing eine künstliche Pflanze, hinter der Martin einen Schlüssel hervorzog.

      „Du darfst niemandem sagen, dass hier der Schlüssel ist, das hat die Mama verboten. Aber die Polizei darf das natürlich wissen.“

      Leo folgte Martin die Treppe nach oben. Das Treppenhaus war schon älter, die Wände waren schon viele Jahre nicht mehr gestrichen worden und auch die Möbel waren sehr abgewohnt. Nicht nur das äußere Erscheinungsbild, sondern auch das Innere des Hauses bestätigte Leo, dass es an finanziellen Mitteln fehlte.

      Frau Mahnstein hatte den Tisch hübsch gedeckt und hatte für den Besuch extra Kuchen gekauft. Martin wusch sich die Hände und Leo tat es ihm gleich. Der junge Mann trank seinen Kakao, aß seinen Kuchen und spielte dann mit seiner Actionfigur.

      „Vielen Dank Herr Schwartz, Sie sind sehr freundlich. Es ist für Martin nicht die Normalität, dass man offen und freundlich auf ihn zugeht. Normalerweise macht jeder einen großen Bogen um ihn. Ich beichte lieber gleich, dass ich vorhin geschwindelt habe. Martin ist in der Vergangenheit mehrfach ausgebüchst, das wollte ich vor den ganzen Leuten nicht zugeben. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie angelogen habe.“ Leo war überrascht von der Offenheit der Frau. Wie alt mochte sie sein? Über 60? Oder sogar 70? Ihre ganze Erscheinung war altmodisch und zweckmäßig. Die Kleidung und die fast weißen Haare, die sie zu einem dünnen Zopf gebunden hatte, machten sie älter, als sie war. Wenn er nicht gewusst hätte, dass die Frau Martins Mutter war, hätte sie auch locker die Großmutter sein können. Frau Mahnstein ahnte von diesen Gedanken nichts und wenn, wäre es für sie nicht wichtig gewesen. Das waren für sie nur Äußerlichkeiten, die für sie nicht im Vordergrund standen. Für sie gab es nur ihren Martin und die Sorge um ihn. Josefa Mahnstein war erleichtert, als Leo sie anlächelte, sie hatte sich wegen ihrer Lügen einem Polizisten gegenüber schon Sorgen gemacht. „Mein Junge kam viel zu früh zur Welt und die Ärzte haben falsch reagiert. Aber so spielt das Leben nun mal. Körperlich ist bei Martin zum Glück alles in Ordnung. Mein Martin ist ein herzensguter Mensch, der immer nur das Gute in allem und jedem sieht. Ich muss ihn vor den anderen, vermeintlich gesunden Menschen schützen, die meinen Jungen immer nur auslachen und ärgern. Trotz allem ist Martin ein Gottesgeschenk und um nichts in der Welt würde ich ihn hergeben.“ Die Frau sprach mit so einer Liebe, was Leo sehr ans Herz ging. „Martin ist jetzt 28 Jahre alt und seit seiner Geburt spare ich jeden Pfennig für seine Zukunft. Deshalb lasse ich auch im und ums Haus nichts herrichten, das kostet nur viel Geld und bringt später beim Verkauf auch nicht viel mehr. Wir bekommen nur sehr wenig Besuch und ich muss zugeben, dass ich mich für mein Haus vor Ihnen schäme Herr Schwartz. Aber ich muss sparen, und zwar so viel wie möglich. Wenn ich mal nicht mehr bin, soll mein Martin so viel Geld haben, dass er in einer sehr guten Einrichtung untergebracht werden kann, in der man sich perfekt um ihn kümmert.“

      „Was ist mit Martins Vater?“

      „Er ist abgehauen, als klar war, dass Martin nicht gesund wird und Zeit seines Lebens auf Hilfe angewiesen ist. Er zahlte nie Unterhalt, angeblich hatte er nicht genug Geld.“

      „Andere Familienmitglieder, die Sie unterstützen?“

      „Die können Sie vergessen, auch die wollen mit uns nichts zu tun haben. Außer klugen Ratschlägen kam da nie etwas. Sie schämen sich oder sind überfordert. Was auch immer, das Ergebnis ist dasselbe. Ich war schon immer allein für meinen Jungen da. Die Vorstellung, dass mir etwas passieren könnte, lässt mir nachts oft keine Ruhe. Aber noch bin ich da und wir führen ein perfektes Leben.“

      „Wenn Sie erlauben, dann würde ich Martin ab und zu gerne besuchen.“

      Martin sah Leo an. Er schien vertieft in sein neues Spielzeug, aber er hatte offenbar verstanden, was gesprochen wurde.

      „Du willst mein Freund sein?“

      „Ich bin dein Freund. Darf ich dich besuchen kommen?“

      Statt einer Antwort sprang Martin auf und umarmte Leo.

      „Machen Sie dem Jungen bitte keine Versprechungen, die Sie nicht halten können. Jede Enttäuschung setzt ihm sehr zu, er versteht das nicht.“

      „Ich pflege meine Versprechen einzuhalten. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wir sehen uns wieder.“

      Auf dem Nachhauseweg dachte Leo über Martin nach. Der Junge war ihm sofort ans Herz gewachsen. Die Begegnung mit ihm und das Gespräch mit der Mutter zogen ihn ganz schön runter. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich über das heiße Wetter beschwert, was ihm jetzt echt idiotisch vorkam. Frau Mahnstein hätte allen Grund dazu, sich zu beschweren und mit ihrem Schicksal zu hadern, war aber trotzdem zufrieden. An ihr sollte man sich ein Beispiel nehmen. Er nahm sich fest vor, ihr zu helfen. Wie, wusste er jetzt noch nicht.

      Er hatte noch keine Lust darauf, nach Hause zu fahren, wo Tante Gerda doch nur rotierte und sich für ihren morgigen Besuch kaputt schuftete. Heute wäre der perfekte Tag für einen ersten Biergartenbesuch in diesem Jahr. Der Himmel zog sich zwar zu, aber es war noch warm genug. Fast 18.00 Uhr, seine Viktoria müsste eigentlich Feierabend haben. Er wählte ihre Handynummer und war bester Laune.

      „Biergarten hört sich verlockend an, aber daraus wird leider nichts. Wir haben einen neuen Mordfall.“

      „Um was geht es?“

      „Irgend so ein Spinner hat sich bei einem Streit eingemischt und sich als Retter aufgespielt. Die Sache ist eskaliert und der vermeintliche Rächer hat zugestochen. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort.“

      Leo hatte angehalten, denn ihm wurde übel. Vor der nächsten Frage grauste ihm.

      „Wo ist der Tatort?“

      „Altötting in der Marienstraße,