Belladonnas Schweigen. Irene Dorfner

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Название Belladonnas Schweigen
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738044560



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heute wieder viele Blicke auf sich, denn neben den üblichen Jeans und Cowboystiefeln trug er ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband aus den 80er-Jahren, die außer ihm keiner mehr kannte. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn die Abbildung auf dem T-Shirt nicht mit einem riesigen Totenkopf in neongelb umrandet gewesen wäre; und dieser auffällige Totenkopf passte für viele Gläubige nicht an diesen ehrenwerten Ort. Leo war das vollkommen gleichgültig und er bemerkte die abschätzenden und abfälligen Blicke nicht. Oder war er mittlerweile sogar daran gewöhnt? Er gönnte sich noch ein Weißbier, denn auch am morgigen Feiertag Fronleichnam hatte er frei. Und das bei diesem Wetter! Er hatte das Glas noch nicht ganz leer, als er spürte, dass auf der rechten Seite des Kapellplatzes etwas vor sich ging, das hier nicht her passte. Die Passanten wurden unruhig und dann hörte er mehrere Frauen schreien. Leo sprang auf und lief zu dem Geschehen, das er noch nicht deuten konnte. Was war da los? Dann sah er einen Mann, der an der Handtasche einer alten Frau zerrte. Die alte Dame klammerte sich an den Schultergurt ihrer Tasche, aber der Dieb war kräftiger, riss die Tasche an sich und dabei fiel die alte Dame der Länge nach hin. Ohne sich umzudrehen, rannte der Dieb davon. Leo war nur noch wenige Meter entfernt, aber der Dieb rannte nicht in seine Richtung, sondern lief direkt auf die Gnadenkapelle zu; es war offensichtlich, dass er in der Menschenmenge untertauchen wollte. Die alte Frau war völlig geschockt, als Leo zu ihr durchdringen konnte. Immer mehr Schaulustige hatten sich um das Diebstahlopfer versammelt, unfähig, irgendetwas zu tun. Er hatte sein Handy schon in der Hand und wollte den Notarzt rufen, als er bemerkte, dass etwas an der Gnadenkapelle vor sich ging, was ebenfalls nicht hierhergehörte. Zum Glück war er mit seinen 1,90 m im Vorteil und konnte über die meisten Schaulustigen hinwegsehen. Sah er richtig? War da eine Art Comicfigur?

      „Rufen Sie den Notarzt und die Polizei,“ rief er laut in die Menge und hoffte darauf, dass zumindest einer seiner Anweisung Folge leistete. Er rannte zur Gnadenkapelle und stand schließlich vor einem Mann Ende 20, der ihn anstrahlte und triumphierend die geklaute Handtasche in die Höhe hielt. Von dem Dieb war weit und breit nichts zu sehen. Leo betrachtete den Mann genauer. Er war 1,75 m groß, korpulent und trug einen Schlafanzug mit Turnschuhen, über dem ein breiter Handwerkergürtel hing, der mit den wildesten Utensilien bestückt war: Ein gelbes Plastikschwert, mehrere Schlüssel, Plastikringe und ein echter Hammer. Die Augen waren mit einer schwarzen Farbe umrandet und er hatte eine große Brillenfassung ohne Gläser auf der Nase. Das Ganze toppte ein Trachtenhut mit einem riesigen Gamsbart.

      „Papiere,“ sagte Leo außer Atem und zeigte seinen Ausweis.

      Der Mann schien ihn nicht zu verstehen.

      „Haben Sie einen Ausweis dabei?“

      „Martin-Man hat die geklaute Handtasche,“ rief er laut, strahlte immer noch und hielt die Handtasche in die Höhe.

      Erst jetzt erkannte Leo, dass er vor einem kranken Mann stand. Was sollte er tun? Leo entschied, einen Arzt zu rufen. Gerade, als er wählen wollte, rannte eine ältere Frau aufgeregt auf ihn zu.

      „Das ist mein Sohn, sein Name ist Martin Mahnstein. Hat er etwas angestellt?“

      „Ganz im Gegenteil. Eine Handtasche wurde geklaut und so wie ich das beurteilen kann, hat Ihr Martin sie dem Dieb entreißen können. Ich wollte nur seine Personalien feststellen.“

      „Martin tut niemandem etwas. Er spielt gerne einen Superhelden und nennt sich Martin-Man. Normalerweise verlässt er nie alleine das Haus, aber heute ist er mir ausgebüchst. Ich habe nur einen kurzen Moment nicht aufgepasst. Sein Ausweis ist zuhause. Wenn Sie möchten, werde ich ihn holen.“ Frau Mahnstein verschwieg lieber, dass ihr Martin in seinem selbst kreierten Superhelden-Kostüm immer wieder verschwindet. Die Polizei hatte ihn sogar schon drei Mal aufgegriffen und zuhause abgeliefert. Aber das hier vor allen Leuten zuzugeben, war ihr zu peinlich. Sie würde am liebsten ihren Martin an die Hand nehmen und so schnell wie möglich von hier verschwinden.

      „Danke, den Ausweis brauche ich nicht. Ihre Angaben genügen.“

      Leo spürte, dass Frau Mahnstein die Situation sehr unangenehm war. Es hatten sich noch mehr Menschen eingefunden, die nach anfänglicher Bewunderung nun in Gelächter verfielen. Immer mehr zeigten auf Martin und machten sich über ihn lustig, was Leo vor allem direkt vor der Gnadenkapelle absolut unangebracht fand.

      „Sperren Sie den Idioten endlich ein!“ Diese und ähnliche Zurufe kamen aus allen Richtungen und Leo wurde immer wütender.

      „Halten Sie endlich den Mund, jetzt ist Schluss!“, schrie er in die Menge. „Sie sollten sich schämen!“ Es war tatsächlich einen kleinen Moment ruhig geworden, aber dann mehrten sich die Stimmen wieder und auch die Beschimpfungen und Sticheleien nahmen zu. Leo gab auf, das hatte keinen Sinn, mit der Vernunft der Menschen war nicht zu rechnen. Ein Idiot fing immer mit den Pöbeleien und Beschimpfungen an, andere folgten. Leo beachtete die Menschen nicht mehr und musste sich dazu zwingen, nicht hinzuhören. Leo nahm Martin den Hammer ab und übergab ihn seiner Mutter, das schien ihm sicherer.

      „Geben Sie mir bitte die Handtasche.“

      Martin war irritiert. Warum sollte er dem Fremden die Tasche geben? Das Lächeln war verschwunden und er wurde unsicher. Seine Mutter tätschelte ihm die Wange.

      „Das hat Martin-Man sehr gut gemacht. Der Mann ist von der Polizei. Sei so lieb und gib ihm die Handtasche.“

      Leo zeigte nochmals seinen Ausweis und dann endlich gab ihm Martin die Tasche.

      „Vielen Dank Martin-Man. Komm mit, dann können wir beide die Tasche an die Besitzerin zurückgeben.“

      Leo ging mit Martin und dessen Mutter zum inzwischen eingetroffenen Notarztwagen, der vor einem Devotionalienladen stand und dessen Angestellte darüber überhaupt nicht begeistert waren, denn so konnten die Kunden das Geschäft nicht betreten und waren dazu auch noch abgelenkt. Die Verkäuferinnen sahen unentwegt auf die Uhr. Gerade jetzt und vor ihrem Geschäft musste der Notarztwagen stehen. Das Geschäft mit Andenken, Kerzen, Weihwasser, Rosenkränzen und dem sonst üblichen Nippes war auch so schon hart genug. Hoffentlich war das hier bald beendet und der Eingang des Geschäfts war wieder frei zugänglich, sonst würden sie vom Chef wieder einen riesigen Anschiss kassieren, wenn die Einnahmen nicht seinen Erwartungen entsprachen. Inzwischen waren auch zwei Streifenwagen mit vier Kollegen eingetroffen, die auf Leos kurze Anweisung hin die Befragung der Passanten übernahmen.

      Das Diebesopfer war sichtlich mitgenommen und saß im Notarztwagen. Ein Arzt kümmerte sich um die Frau und ihr Mann hielt ihr dabei die Hand.

      „Hier haben wir Ihre Tasche. Sie können sich bei dem jungen Mann bedanken. Er hat sich mutig für Sie eingesetzt und dem Dieb die Tasche entrissen.“

      Die alte Frau war zuerst über Martins Aussehen erschrocken, aber als sie ihre Handtasche erkannte, strahlte sie. Sie holte ihre Geldbörse hervor und gab Martin einen 50 €-Schein.

      „Vielen Dank,“ sagte sie nur und lehnte sich wieder zurück, die Aufregung war zu viel für sie.

      Martin war irritiert und starrte auf den Geldschein in seiner Hand. Was sollte er damit machen?

      „Martin versteht nicht, was Geld bedeutet. Für ihn ist das nur Papier. Außerdem ist er gerne ein Superheld und die verlangen nie etwas für ihre Taten,“ erklärte Frau Mahnstein ruhig, aber immer noch beschämt. Sie wollte weg hier, so schnell wie möglich, denn sie bemerkte, dass auch hier immer mehr Menschen stehenblieben, über ihren Sohn sprachen und sich über ihn lustig machten. Auch Leo spürte die Blicke und hörte das eine oder andere abfällige Wort hinter vorgehaltener Hand und hätte nicht übel Lust gehabt, jedem Einzelnen die Meinung zu geigen. Aber das brachte nichts, seine Aufmerksamkeit galt nun einzig und allein Martin und seiner Mutter. Er musste beide aus der Situation bringen.

      „Martin-Man hat eine Belohnung verdient. Was hältst du davon, wenn wir beide in den Spielzeugladen in der Bahnhofstraße gehen? Du darfst dir für deine mutige Tat etwas aussuchen. Hast du Lust? Natürlich nur, wenn deine Mutter einverstanden ist.“ Frau Mahnstein zögerte. „Keine Sorge, ich bringe ihn gleich nach dem Spielzeugladen nach Hause.“

      Eigentlich wollte Frau Mahnstein so schnell wie möglich mit ihrem Sohn