Das dritte Kostüm. Irene Dorfner

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Название Das dritte Kostüm
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738018509



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Sie musste unbedingt erfahren, was passiert war und wer ihrer Freundin das angetan hat.

      Natürlich hatte der alte Mann die Blicke der beiden Beamten bemerkt, als Ludmilla vertraut neben ihm saß und er dann auch noch ihre Hand gehalten hatte. Er schmunzelte innerlich.

      „Ich muss meine Ludmilla entschuldigen, sie kann mit Emotionen und Gefühlen vor anderen Menschen nicht umgehen und zieht sich lieber gerne für einen Moment zurück. Ich möchte inzwischen die Gelegenheit nutzen und die Situation hier gerne erklären, bevor Sie noch einen falschen Eindruck bekommen, der mir offen gestanden sehr schmeichelt. Ludmilla ist keineswegs meine Frau oder gar Geliebte. Ich habe sie ganz normal vor vier Jahren im Arbeitsamt kennengelernt, als ich auf der Suche nach einer Haushaltshilfe war. Wir saßen gemeinsam im Wartezimmer und kamen ins Gespräch. Sie hat erzählt, dass sie in Russland studiert hat und in ihrer Heimat keine Stelle als Lehrerin gefunden hat. Dann hörte sie vom goldenen Westen, nahm all ihren Mut zusammen und ging nach Deutschland. Während sie so offen und unbekümmert von sich erzählt hat, zog sie eine Brezel aus der Tasche und hat diese mit mir geteilt, einfach so, für sie war das selbstverständlich. Mich hat die Freundlichkeit, Offenheit und das warmherzige Wesen der Frau sofort beeindruckt. Was soll ich sagen? Ich habe diese hübsche, intelligente Frau sofort eingestellt. Und dieser Umstand ist für uns beide eine Bereicherung. Sie führt mir nicht nur den Haushalt, sondern leistet mir Gesellschaft und kümmert sich um mich, denn mein Gesundheitszustand wird immer schlechter – ich habe MS, also Multiple Sklerose. Ludmilla hilft mir wo sie nur kann. Sie beschwert sich nie und hat immer gute Laune. Sie sorgt dafür, dass ich rauskomme und am gesellschaftlichen Leben teilnehme. Seit einigen Monaten bin ich auf den Rollstuhl angewiesen, aber diese Tatsache wird von Ludmilla nicht bedauert, sondern sie macht einfach das Beste daraus und nimmt es hin. Sie hat mich sogar vor einem Jahr dazu überredet, ein behindertengerechtes Auto zu kaufen. Zuerst fand ich die Idee total verrückt, bis sie mir stolz ihren Führerschein präsentiert hat. Hat diese kleine Russin doch tatsächlich hinter meinem Rücken für mich den Führerschein gemacht! So etwas ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert. Natürlich habe ich mich umgehend um das Fahrzeug gekümmert. Seitdem nimmt sie mich mit dem Rollstuhl überall mit, damit ich nicht depressiv werde und auf andere Gedanken komme. Wir sind längst über das Angestelltenverhältnis hinweg und inzwischen sind wir sehr gute Freunde. Meine undankbaren, raffgierigen Kinder, die sich seit dem Tod meiner Frau nur noch blicken lassen, wenn sie Geld brauchen, sind mir inzwischen fremd geworden. Und bevor Sie es von anderer Seite erfahren: ich habe Ludmilla als meine Erbin eingesetzt. Ich freue mich jetzt schon auf die dummen Gesichter meiner Kinder, wenn sie diese Nachricht von meinem Notar erfahren. Schade, dass ich das nicht miterleben kann. Ludmilla weiß nichts davon und darf es auch nicht erfahren, sie wäre nicht damit einverstanden. Für sie zählt die Familie sehr viel. Ein großer Teil ihres Einkommens geht regelmäßig an die Verwandtschaft nach Russland. Seitdem ich das weiß, mache ich Ludmilla ab und zu Geschenke, was mir sehr große Freude bereitet. Sie kann sich so sehr über Kleinigkeiten freuen, dass einem das Herz aufgeht. Mein Leben mit Ludmilla ist trotz meiner Krankheit so gut wie nie zuvor. Es tut mir in der Seele weh, dass sie unter dem Verlust ihrer Freundin zu leiden hat.“

      Der Mann sprach ehrlich und offen. Trotz seines Schicksals hatte er ein sonniges Gemüt und einen Humor, den Leo sehr mochte. Endlich kam Ludmilla zurück. Sie hatte sich wieder beruhigt.

      „Wer hat sie umgebracht?“, flüsterte sie.

      „Das wissen wir noch nicht, deshalb sind wir hier.“

      „Sie denken doch nicht, dass ich meine Freundin umgebracht habe? Sind Sie hier, weil Sie glauben, dass ich eine Mörderin bin?“ Ludmilla war entsetzt, aber Hauptmann beruhigte sie sofort.

      „Die Polizisten wissen doch nicht, wer Katharina umgebracht hat. Und bis sie den Täter haben, ist jeder verdächtig, der mit ihr in Verbindung stand, so wie du und ich. Wir müssen mit der Polizei zusammenarbeiten, damit sie den Täter so schnell wie möglich festnehmen können.“

      „Natürlich, du hast Recht. Entschuldigen Sie bitte. Stellen Sie Ihre Fragen.“

      „Wann haben Sie Katharina Zirbner zum letzten Mal gesehen?“

      „Das war vorletzte Woche. Wir waren gemeinsam im Kino und dann noch beim Essen. Danach haben wir noch eine Bar besucht, bis ich sie gegen 3.00 Uhr früh zuhause abgesetzt habe. Anfänglich hat sie sich fürchterlich über ihre Schwiegermutter aufgeregt, aber als sie sich ausgesprochen hatte, war sie gut gelaunt und wir hatten viel Spaß.“

      „Hatte sie außer Ihnen andere Kontakte? Irgendwelche Freunde oder Landsleute.“

      „Nein. Katharina war sehr schüchtern im Umgang mit Fremden. Vor allem mit dem bayrischen Dialekt hatte sie große Probleme und verstand anfangs kaum ein Wort. Sie hat sich Mühe gegeben, viel gelesen und gelernt. Sie hätte mehr Kontakt zu Einheimischen gebraucht, um das Gelernte auch anzuwenden. Aber durch die Arbeit auf dem Bauernhof war dazu nicht viel Zeit. Vor allem aber haben die Kastler sie abgelehnt, wollten nichts mit ihr zu tun haben. Sie hat mir erzählt, dass man über sie spricht und sich über sie und ihren Sepp lustig macht. Das ist so traurig und armselig. Katharina war ein sehr warmherziger, freundlicher und intelligenter Mensch. Wenn sie am Boden war und aufgeben wollte, hab ich sie immer wieder aufgebaut und dazu überredet, durchzuhalten und stark zu bleiben. Ich war mir sicher, dass sie es irgendwie schaffen würde, sich einzuleben und sich wohl und zuhause zu fühlen. Die alte Frau Zirbner lebt ja auch nicht ewig, das Problem erledigt sich irgendwann von selbst.“

      „Entschuldigen Sie meine Ludmilla, aber sie sagt immer das, was sie denkt, und das hört sich manchmal nicht gerade freundlich und höflich an,“ hakte Konrad Hauptmann ein.

      „War das unfreundlich? Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Katharina meinen Freunden vorstellen, damit sie sich schneller einlebt und nicht depressiv wird, aber sie hat abgelehnt, wollte lieber Zeit mit mir allein verbringen. Zu unseren russischen Landsleuten hatte sie keinen Kontakt, ich übrigens auch nicht. Ich weiß nicht, was das bringen soll. Nur weil man zufällig aus einem Land kommt, muss man sich nicht zwangsweise zusammenrotten; davon halte ich überhaupt nichts.“ Das war genau das, was Leo dachte. Hans und Leo waren entzückt von diesem Akzent, der in ihrem Deutsch mitklang.

      „Wie war die Ehe der Zirbners?“

      „Eigentlich ganz gut, obwohl ich die Art und Weise, wie die Ehe zustande kam, absolut ablehne. Ich halte nichts von diesen Partnervermittlungen, das käme für mich nie in Frage. Aber Katharina hat diesen Weg nun mal gewählt und ich musste das akzeptieren. Ab und zu konnte ich mir die eine oder andere Bemerkung darüber nicht verkneifen, das liegt an meinem großen Mundwerk. Jetzt tut mir das natürlich sehr leid – ich und meine große Klappe! Der Sepp ist ein netter Kerl, sie hätte es viel schlechter treffen können. Optisch passten die beiden nicht zusammen und auch sonst hatten sie nicht viel gemeinsam. Während Katharina sehr gerne in Konzerte und ins Kino ging, saß der Sepp lieber vor dem Fernseher oder hatte seine doofen Vereine. Aber jeder so, wie er will. Ich habe mich da rausgehalten. Heißt es nicht sogar, dass sich Gegensätze anziehen? Wie auch immer. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass die beiden sich sehr liebten. Aber die Schwiegermutter ist ein Monster, sie hat Katharina das Leben zur Hölle gemacht. Bei jeder Gelegenheit hat sie ihr direkt ins Gesicht gesagt, dass sie sie nicht mag. Sie mag Ausländer an sich sowieso nicht, und Russen gleich gar nicht, und mit ihrer Meinung hielt sie nicht hinter den Berg. Es kam sogar ab und zu vor, dass die Alte die Katharina geschlagen hat! Können Sie sich das vorstellen? Wenn die Katharina zu langsam arbeitete, oder nicht ordentlich genug war, oder auch nur, wenn der Alten einfach danach war, hat sie ihr eine gescheuert oder mit irgendetwas nach ihr geworfen. Der Sepp stand ihr zwar immer bei, aber gegen seine zänkische, brutale Mutter kommt der nicht an. Die Alte hat auf dem Hof das Zepter in der Hand. Ich selbst hatte schon einige Male das Vergnügen mit Frau Zirbner. Sie hat mich beleidigt und das habe ich mir natürlich nicht gefallen lassen. Wir haben so lange gestritten, bis einer der Zirbners zwischen uns ging. Ich hätte es darauf ankommen lassen und hätte auch nicht davor zurückgeschreckt, der Alten eine zu knallen, aber die anderen wollten nicht, dass es so weit kommt. Warum nicht? Es hätte ihr nicht geschadet. Daran können Sie den Charakter der Eheleute Zirbner erkennen: Obwohl die alte Frau Zirbner so böse war, hatten sie trotzdem Respekt vor ihr! Nicht zu glauben! Katharina hat mich