Traum-Zeit. Josie Hallbach

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Название Traum-Zeit
Автор произведения Josie Hallbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754183755



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sich in den Wechseljahren befindlichen Mutter unter einer Horde Senioren, die ich im Freilandmuseum zubringen musste, halfen auch nicht weiter. Während sich die Erwachsenen über Fundraising, Renovierungsmaßnahmen, Besucherzahlen, Putzpläne und Öffnungszeiten unterhielten, strich ich durch die verschiedenen Häuser und versuchte mir, mangels Alternativen und Spielkameraden - ich durfte keine Freundinnen mitbringen und irgendwann ist man mit den meisten Kinderbüchern durch -, in meiner Phantasie auszumalen, wer hier gewohnt haben könnte. Ich bastelte ein ganzes Dorf zusammen. Es gab Abenteuer zu bestehen und rotzfrechen Jungs zu trotzen.

      Erschwerend kam hinzu, dass fast alle Kids in meinem Alter ein Handy besaßen, meine Mutter mir solche Freuden aber standhaft verweigerte. Wahrscheinlich stammt meine spärlich ausgeprägte Technikaffinität hiervon. Mein einziger Zugang zum Internet blieb über Jahre hinweg ein lächerlicher PC, der völlig veraltet und äußerst unzuverlässig in einer Ecke unseres Wohnzimmers verstaubte und bloß in Sonderfällen von mir genutzt werden durfte. Ich war vermutlich das einzige Kind, das nahezu medienfrei aufwuchs, weil meine Mutter an gefährliche Strahlung glaubte.

      Das hinderte sie nicht daran, Krebs zu bekommen, der nach vielen Krankenhausaufenthalten und Therapieversuchen ihrem Leben und Leiden ein Ende setzte. Mutter hatte, wenn überhaupt, einen Hang zur Esoterik gehabt. Deshalb war ihr mein Interesse an Religion von Beginn an „ein Dorn“ im Auge gewesen. Es hatte folglich gute Argumente gebraucht, um in die Mädchenjungschar gehen zu dürfen und später nach meiner hart erkämpften Konfirmation in den Jugendkreis. Die Krankheit lenkte ihre Energien aber bald in eine andere Richtung und sie besaß anschließend selten genug Kraft, um neben ihrem eigenen Dasein, auch noch meine Geschicke zu verwalten.

      Umso mehr erstaunte mich, dass die Verwandtschaft meines Vaters, zu der wir seit seinem Selbstmord keinen Kontakt mehr hielten, größtenteils fromm war. Sie tauchte an Mutters Beerdigung auf, füllte mit einer unspektakulären Selbstverständlichkeit ein Defizit in meinem Leben und gehört seither zu mir.

      Diese vor vier Jahren neuentdeckte Familie besteht aus meiner Tante Sabine, deren Mann und den drei Töchtern, die allesamt jünger als ich sind. Oma lebte am Anfang ebenfalls bei ihnen, weil sie davor mehrfach in Gefahr gestanden hatte, ihr Haus abzufackeln, indem sie Herdplatten zum Heizen anließ, sich aussperrte und irgendwann nicht mehr allein heimfand.

      Meine Tante verbrachte daraufhin drei Jahre ihres Lebens Tag und Nacht am Rande eines Nervenzusammenbruchs, bis sie ihre Mutter schließlich in ein Pflegeheim brachte.

      Mit meinen Cousinen verstehe ich mich relativ gut, obwohl wir uns in fast jeder Hinsicht unterscheiden. Sie zelebrieren gerade den kollektiven Atheismus, indem sie jedes christliche Programm boykottieren, um sich damit demonstrativ von ihrer einengenden, elterlichen Erziehung abzugrenzen. Zudem sind alle drei Pferdenärrinnen und verbringen jede freie Minute in einem Reitstall, während ich Pferde hauptsächlich von Postkarten, Tiersendungen und Stickern kenne. Für Reitstunden hatte es in meiner Kindheit kein Budget gegeben, genauso wenig wie für etwaige Haustiere. Meine Ansprüche waren von Hund, Katze und Zwergkaninchen bis auf einen Wellensittich gesunken. Doch selbst davon hatte meine Mutter nichts wissen wollen. Im Freilandmuseum gäbe es genug Ferkel, Hasen und Gänsekinder, waren ihre Worte. Ich wette, sie hat nie versucht, mit einem Küken zu spielen. An meiner linken Wade befand sich monatelang das Andenken einer übereifrigen Gänsemutter.

      Rein äußerlich hätte man mich auch nie zu meiner Familie sortiert. Ich komme mir neben diesen amazonenartigen Menschen wie ein kleines, schwarzes Schaf vor. Alle, bis auf meine Oma, sind langbeinig, strohblond, besitzen blaue Augen und einen hellen Teint. Weil meine Eltern optisch ebenso dahin tendiert hatten, bin ich als Kind heimlich davon überzeugt gewesen, adoptiert worden zu sein.

      Tante Sabine klärte mich jedoch auf, dass es in unserer Familie neben dem nordischen, auch einen südländischen Zweig gäbe, der sich zwar nie generell durchgesetzt habe, doch ab und zu mal unerwartet in Erscheinung trete. Es muss früher ein altes Fotoalbum existiert haben, in dem dies eindrücklich dokumentiert war, welches aber -wie auch immer- abhandengekommen ist.

      Das -wie auch immer- heißt mit höchster Wahrscheinlichkeit Oma Helene. Die ehemalige Besitzerin neigt nämlich dazu, Dinge, die ihr wichtig sind, zu verstecken, aus Angst, dass sie gestohlen werden könnten. Ihre Brille, der Pass und selbst der Geldbeutel sind regelmäßig hiervon betroffen. Hinterher weiß sie natürlich nicht mehr, wohin diese Sachen gelangt sind und beschuldigt ihre engsten Familienangehörige, sie zu berauben.

      Vermutlich wird das Fotoalbum irgendwann aus den Tiefen des Kleiderschrankes, hinter den Blumenvasen oder gar im Keller zum Vorschein kommen.

      Außer diesen sechs mir nahen Anverwandten gibt es noch -wie ich inzwischen weiß- einen entfernten Großonkel, der vor Urzeiten nach Amerika ausgewandert ist, wenige Male für einen Kurzbesuch anreiste, vor einigen Jahren verstarb und von dessen Nachkommen man seitdem nie wieder etwas gehört hat.

      Kapitel 4:

      Die nächsten Wochen verlebte ich wie in einer Art Trance. Ich schaffte es zwar, meinen Alltag zu bewältigen, Florian aus dem Weg zu gehen und im Job die geforderte Leistung zu bringen, aber nichts davon schien wirklich wichtig zu sein. Der seltsame Traum wollte einfach nicht aus meinem Bewusstsein verschwinden und stand so klar vor meinen Augen, wie am ersten Morgen.

      Natürlich redete ich mit niemandem mehr darüber. Das eine Gespräch mit Mona hatte mir vollkommen gereicht. Außerdem erzählt man nicht freiwillig, dass man sich als erwachsene, Vernunft begabte Frau in eine fiktive Gestalt verliebt hat und nun zutiefst unglücklich ist, weil es keine reelle Chance gibt, diese wiederzusehen. Genauso wenig wie man beichtet, dass man sich „Legolas“-Bilder im Internet anschaut und innere Dialoge mit einem Unsichtbaren führt, der weder Gott noch Jesus ist. Wahrscheinlich hätte eins davon bereits für eine Selbsthilfegruppe gereicht.

      Ungefähr einen Monat später trat Mona an meinen Schreibtisch. Es war ein chaotischer Mittwochnachmittag Anfang April, an dem jeder Bausparer südlich des Mains glaubte, Änderungen an seinem uralten Vertrag vornehmen zu müssen. Der Kollege, der normalerweise dafür zuständig war, befand sich sonnenbadend und tauchender Weise auf den Malediven.

      Ich versuchte gerade einen aufgebrachten Kunden zu beruhigen, einen weiteren in die Warteschleife zu vertrösten, auf meinem Bildschirm poppten mehrere wichtige Info-Mails auf und der Stapel mit unerledigtem Papierkram, der sich neben meiner Grünlilie auftürmte, geriet durch eine ungeschickte Armbewegung ins Rutschen.

      Genau da flüsterte meine Freundin: „Heute Abend halb acht. Ich hole dich ab. Keine Widerrede.“ und verließ vor sich hin trällernd das Büro, ohne mir die Möglichkeit einer Gegenwehr zu lassen.

      Das Gute daran war, dass ich die nächsten beiden Stunden keine Zeit hatte, mich über diese Bevormundung aufzuregen.

      Als sie zehn nach acht bei mir an der Wohnungstür klingelte, fragte ich mich immer noch, was sie wohl bewog, ihren heißgeliebten Yoga-Kurs an diesem Abend mir zu opfern.

      „Du meine Güte läuft der Orang-Utan vom ersten Stock jetzt öfter so rum?“, begrüßte sie mich schaudernd anstelle der sonst unvermeidlichen Umarmung. „Wenn ja, solltet ihr unbedarfte Besucherinnen schleunigst vorwarnen.“

      Selbstverständlich sind Mona meine Mitmieter bekannt und umgekehrt genauso. Signore Ribello, der kompakt gewachsene Opa vom dritten Stock flirtet sogar regelmäßig mit ihr. Italienische Männer stehen nun mal auf blonde, gut gebaute Frauen. Allerdings tut er das nur in Abwesenheit seiner temperamentvollen Gattin.

      „Was hatte Herr Maifeld denn an?“, erkundigte ich mich betont beflissen, rechnete aber mit Schlimmem.

      „Einen zwei Nummern zu kleinen Jogginganzug aus den Siebzigern und Badelatschen. Er sah aus wie Meister Propper aus der Werbung, nur ungewaschen, abgewrackt und ohne Ohrring.“ Meine Besucherin schüttelte sich angesichts dieser modischen Verirrung.

      Äußerlich grinste ich vieldeutig, während mein Inneres erleichtert aufatmete. Tatsächlich konnte Mona von Glück sagen. Neulich trug unser Hausmeister, Pseudo-Minigolfer und Reparatur-Profi bloß Unterwäsche. Seit seine Frau