Traum-Zeit. Josie Hallbach

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Название Traum-Zeit
Автор произведения Josie Hallbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754183755



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Kriege beschert hat, weiß jedes Kind.

      In den Räumen wurde es endlich wärmer.

      Zu meiner Überraschung lernte ich nun Maries Familie kennen. Dies bewog mich zu der Mutmaßung, dass es sich bei der aktuell stattfindenden Szene aus einer Episode vor der Hochzeit handeln könnte. Meine ringlosen Finger untermauerten diese Theorie. Dass meine nächtlichen Phantasien chronologisch unsortiert vorgingen, sollte mich eigentlich nicht verwundern. Ich habe auch sonst hin und wieder chaotische Tendenzen. Oder aber mein Gehirn gaukelte mir völlig andere Umstände als das letzte Mal vor und nichts, was ich über meine Hauptperson zu wissen glaubte, besaß mehr Gültigkeit.

      Erst tauchte Tante Klara auf, zumindest nannte Marie die Frau so. Es drehte sich hierbei um eine dürre, dunkel gewandete Dame mit bleicher, finsterer Miene, die wirkte als hätte sie einen Stock verschluckt, so gerade versuchte sie sich zu halten.

      Der Nächste, der kam, war Onkel Konrad: untersetzt mit rotem Gesicht, was auf unbehandelten Bluthochdruck schließen ließ. Die cholesterinhaltige Nahrung, welche er auf seinem Teller auftürmte und in Rekord-Tempo hinunterschlang, hätte Mona bestimmt tief entsetzt.

      Man speiste im Esszimmer, das genauso ungemütlich wirkte wie seine Besitzer, sprach kaum miteinander und der Onkel enteilte mit dem letzten Bissen nach draußen, um vom Kutscher, der unten wartete, wegchauffiert zu werden. Wenn ihm die Tante nicht „Konrad, du hast deinen Hut vergessen!“ hinterhergerufen hätte, wäre mir sogar sein Name unbekannt geblieben.

      Warum lebte Marie bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern? Waren diese etwa äquivalent zu meinen früh verstorben? Oder musste sie bereits in jungen Jahren als Hausmädchen Geld verdienen, um zum finanziellen Unterhalt der Familie beizutragen? Leider bot sich mir im Moment kein Anhaltspunkt und fragen konnte ich ja schlecht.

      Kaum war der Onkel weg, erschien die dritte im Bunde: Josefine, die jugendliche Tochter, blond, mit einer Oberweite, die Männerherzen höherschlagen lässt. Eventuell lag es auch an ihrem enggeschnürten Korsett, das mir schon vom Hinschauen Atemnot bescherte. Hier war endlich jemand zeitgemäß bekleidet. Genauso hatte ich es mir vorgestellt und auf Bildern gesehen. Die Figur war ohne Rücksicht auf Verluste, sprich innere Organe und ursprüngliche Vorgaben nach dem Vorbild einer Sanduhr modelliert worden. Ihr zarter, porzellanartiger Teint wirkte jedoch echt.

      Mich, beziehungsweise Marie beachtete die junge Dame nicht weiter, sondern hielt bloß auffordernd ihre Tasse in unsere Richtung. Da man zum Sprechen und Essen allerdings den Mund öffnen musste, geriet der erste Eindruck von ihr etwas ins Wanken, passend zu ihrer Zahnsubstanz. Jeder Zahnarzt wäre bei diesem Anblick entweder erbleicht oder hätte sich in Vorfreude auf einen Porsche die Hände gerieben. Ihre Vorliebe für Süßspeisen, wie die Auswahl der Frühstückszutaten unschwer erkennen ließ, in Kombination mit mangelnder Zahnhygiene, hatten einen Steinbruch zwischen den roten Lippen hinterlassen. Zahnbürste und Zahnpasta samt professioneller Zahnreinigung mussten erst noch erfunden werden.

      Marie bediente ihre Familie mit der Routine jahrelanger Erfahrung. Die nahezu gleichaltrige Cousine zeigte sich ihr aber keineswegs freundlich gesinnt, beschwerte sich vielmehr, dass der Tee zu kurz gezogen und der Kuchen zu trocken geraten sei.

      Nach dem Frühstück begab sich diese dann mit Leidensmiene und einer Stickarbeit aufs Sofa. Ich erfuhr im Zuge dessen, dass Josefine bald zu heiraten gedachte. Die filigrane Handarbeit, an der sie lustlos herumstichelte, sollte ein Geburtstagsgeschenk für ihren Verlobten darstellen.

      Auf Marie und mich warteten nun Reinigungsarbeiten. Der Holzboden musste poliert, Teppiche ausgeklopft, Betten gemacht und Staub gewischt werden. Die hässlichen Nippes-Sachen auf den Regalen nicht zu vergessen. Hausarbeit war vor hundert Jahren ein Knochenjob gewesen und die Erleichterung durch elektrische Geräte stand bestenfalls als Hoffnung im Raum. Kochen brauchten wir aber nicht, denn dafür kam am späten Vormittag eine Zugeh-Frau, die nach der Begrüßung in die Küche eilte und dort lautstark zu werkeln begann.

      Um Punkt zwölf Uhr verließ Marie das Haus und machte sich auf den Weg zu einem mir unbekannten Ziel. Ich begleitete sie durch die Gassen einer mir fremden Stadt. Mich überschwemmte dabei eine Woge der Unwirklichkeit. Ich meinte, versehentlich in einen Historienfilm geraten zu sein, bei dem ich genötigt wurde, die Hauptrolle zu spielen. Pferdedroschken holperten an mir vorüber, antike Fahrräder schwankten samt ihren wagemutig Aufsitzenden halsbrecherisch über das Kopfsteinpflaster und tatsächlich entdeckte ich ein einzelnes Automobil, das ich so nur aus dem Museum kannte.

      Obwohl meine Doppelgängerin rasch ausschritt und wann immer es möglich war, den Blick auf den Boden geheftet hielt, bemerkte ich, dass wir auffielen. Man starrte uns entweder unverhohlen an oder ignorierte uns übertrieben deutlich. Warum verhielten man sich ihr gegenüber so merkwürdig?

      Die Erklärung boten mir kurz darauf ein paar harmlos wirkende Buben, die am Straßenrand mit Murmeln spielten. Als wir an ihnen vorbeiliefen, riefen sie: „Negerliebchen!“ und streckten uns höhnisch die Zunge raus. Einer warf sogar einen Stein nach Marie, verfehlte sie aber glücklicherweise. Niemand rügte die elenden Rotzbengel für dieses flegelhafte Benehmen. Offenbar genügte früher eine braune Hautfarbe, um in der Öffentlichkeit gebrandmarkt zu werden.

      Endlich ließen wir die Hauptstraße hinter uns und schlugen einen Feldweg ein. Marie hob die Augen. Gleichzeitig schien eine Last von ihren Schultern zu fallen. Ihr Schritt wurde leichter. Hier waren wir allein. Ein kleines Tannenwäldchen lag zu unserer rechten, Vögel zwitscherten fröhlich, Bienen summten und der Wind rauschte in den Zweigen. Sogar ein Bach schlängelte sich munter plätschernd durch dieses fast unberührte Paradies. Die friedvolle Landschaft wirkte wie Balsam auf der Seele. Leider würde dieses Stück Natur in den nächsten hundert Jahren bestimmt einer Neubausiedlung oder einem Industriegebiet zum Opfer fallen.

      Unser Ausflug endete vor einer Diakonissenanstalt, wie man an den sich in Tracht befindlichen Schwestern leicht erkennen konnte. Vor meinen Augen entfaltete sich ein weitläufiges, hügeliges Areal, das bis zum Waldrand reichte und aus vielen großen und kleinen Häusern, nebst einer Kirche bestand.

      Das mehrstöckige Gebäude mit den hohen Fenstern, welches Marie ansteuerte, trug am Portal den in schnörkelige Buchstaben gesetzten Schriftzug „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Darüber stand in großen Lettern: „Schwachsinnigen- und Krüppel-Anstalt“.

      Was für eine schreckliche Formulierung! War das damals die normale Bezeichnung für geistig und körperlich behinderte Menschen? Was wollte Marie hier? Hatte sie etwa ähnlich gelagerte Ambitionen wie ich und verbrachte ihre Freizeit ehrenamtlich in diesem Heim?

      Meine Nase wurde gleich beim Betreten der Örtlichkeit mit einer höchst unerfreulichen Geruchsmischung konfrontiert. Ich begann automatisch flach zu atmen und dachte lieber nicht über die Quelle dieses Gestanks nach. Marie schienen diese ekelerregenden menschlichen Ausdünstungen nicht weiter zu stören. Sie sprang förmlich die geschwungene Holztreppe bis in den zweiten Stock hinauf und wurde dabei von allen Seiten freundlich begrüßt. Man kannte sie und besaß offensichtlich keine Vorbehalte gegen dunkelhäutige Menschen. Nicht nur die ihr entgegeneilenden Diakonissen, auch einige Patienten nickten grüßend oder lachten erfreut bei ihrem Anblick. Von einer bekam sie zu meinem Schrecken sogar eine stürmische Umarmung.

      Schließlich betrat Marie ein Zimmer am Ende des Korridors und wurde dort sehnsüchtig von einem schmächtigen Mädchen erwartet. Die Kleine hatte dunkelblondes, welliges Haar, markant bernsteinfarbene Augen und helle Haut. Trotz der äußerlichen Unterschiede war mir aber klar, dass die zwei Schwestern sein mussten.

      „Sophie, mein Schatz. Wie geht es dir heute? Sind deine Halsschmerzen besser geworden?“ Marie drückte das Kind herzlich an sich.

      Bei dem Namen begann es in meinem Ohr zu klingeln. Hatte der Bräutigam ihn nicht in der Hochzeitsnacht erwähnt?

      Ich hätte nun erwartet, höchstens ein unverständliches Stammeln als Antwort zu bekommen, denn das arme Mädchen zeigte eine ausgedehnte spastische Lähmung, wovon die Gliedmaßen und das Gesicht betroffen waren. Ein Mundwinkel hing nach unten, der Kopf saß schief auf dem Hals und die Hände und Arme befanden sich in einer verkrümmten,